Verena will warten

Verena will warten
Ein Jahr hat hunderttausend Tage. Mindestens. Aber längst nicht alle Tage sind gleich wichtig. Kostbar sind die Tage im Sommer, wenn Papa Urlaub hat. Dann steigen sie alle ins Auto, sobald Papa aus der Firma kommt. Nur duschen muß er noch und einen starken Kaffee trinken, Verena bekommt eine starke Milch, aber trink nicht so viel, sagt Mama, weil du dann immer raus mußt, und die Tage sind kostbar, sagt Papa, da kann er nicht bei jeden Rastplatz an der Autobahn eine Pause machen. Verena wollte, die Autobahn wäre ein richtiger Zug, denn Oma meint, in der Eisenbahn, gäbe es in jedem Wagen eine richtige Toilette, nur sauber sind sie nicht, aber das sind sie auf den Rastplätzen auch nicht. Und dann brausen sie los in Papas Urlaub und sie kommen erst wieder zurück, wenn Papa am nächsten Morgen zur Arbeit muß, dann sind die Tage nicht mehr kostbar.
Auch andere sind Tage sind wichtig. Sie werden sogar extra mit Schokolade gezählt. 24 kleine Türchen darf Verena nacheinander aufmachen und hinter jeder Tür ist ein Stern aus Milchschokolade oder ein Nikolausstiefel oder ein Haus. Einmal hat Verena es nicht mehr ausgehalten und am zweiten Tag des Kalenders, abends, als Papa und Mama im Theater waren, und es war so schrecklich langweilig und still im Haus, hat sie auch die anderen Türen aufgepuhlt, alle übrigen, und die vom 24. war am größten, es war ein ganz dicker brauner Stern dahinter, und sie hat alle Schokoladenteilchen aufgegessen. Sie hat noch nicht einmal Bauchweh bekommen von so viel Süßem, aber vorsichtshalber ging sie noch einmal Zähne putzen. Die Türenklappen ließen sich auch wieder zudrücken, man konnte es fast gar nicht sehen, daß sie keine Überraschung mehr verbargen. Mama wollte oft morgens wissen, was Verena denn heute in ihrem Kalender gefunden hätte, und Verena mußte sich immer etwas ausdenken. Sind da denn immer nur Sterne aus Schokolade drin, fragte Mama einmal und Verena wurde rot. In diesem Jahr aber gab es keine kleine Freude mehr am Morgen, keine gut schmeckende Vorfreude auf Weihnachten.
24 Tage dauert es bis Weihnachten aber vorher kommt noch der Nikolaus und füllt die Schuhe. Verena hätte ihn zu gerne mal dabei erwischt, aber wenn sie am Nikolaustag aufwachte, war er immer schon wieder weg, und auch wenn sie am Abend vorher versuchte, wach zu bleiben, gelang es ihr nicht, der Sandmann war immer schneller, die beiden haben sich abgesprochen, wie Verena mit Julchen, wenn sie sich verabreden, wie sie Verenas Mama erklären, warum sie keine Milch mehr bekommen haben, obwohl sie sich doch zeitig mit dem Geld auf den Weg gemacht haben. Es ist immer gut, wenn man eine Freundin hat, auf die man sich verlassen kann, denkt Verena.
Julchen muß nicht mehr auf Weihnachten warten. Julchen weiß, was bei ihr unter dem Tannenbaum liegen wird. Sie glaubt nicht an den Weihnachtsmann, Verena manchmal auch nicht wirklich, nur findet sie es mit dem Weihnachtsmann schöner. Sie kann sich stundenlang ausmalen, wie der alte Mann mit dem langen weißen Bart und den roten Bäckchen seinen Schlitten belädt – was stört es sie da, wenn zu Weihnachten noch nie Schnee gelegen hat, das war nur so, als Oma noch ein kleines Mädchen war, wenigstens erzählt sie das in jedem Jahr auf dem Weg in die Kirche. Julchen hat selbst nachgesehen, woher die Geschenke kommen, und das war nicht im Wald hinter den Bergen, sondern bei Julchen auf dem Dachboden und der Schlüssel hängt bei den anderen an dem Zwergenbrett im Flur.
Als Julchens Mama einmal länger arbeiten mußte, und das kam oft vor in den Tagen vor dem großen Fest, ist Julchen alle drei Treppen hinaufgestiegen und hat die Bodentür aufgeschlossen, der Schlüssel hakte, sie hätte ihn fast nicht wieder herausbekommen, aber dann hätte sie es genau gesehen, auf dem Boden, in dem alten Wohnzimmerschrank ganz unten, da hätten die Pakete gelegen, alle schon schön verpackt, und es wären bestimmt die Playstation2 gewesen, das Paket war genau so groß und ein Zettel mit ihrem Namen war drauf. Verena fragte, ob es denn in einem anderen Paket geklappert hätte wie von Legosteinen, denn sie wünschte sich das rote Rennauto zum Zusammenbauen, denn das konnte man richtig steuern. Aber Julchen wollte schnell wieder runter in die Wohnung.
Ein bißchen neidisch war Verena schon auf Julchen, denn auch sie hätte gern gewußt, ob der Weihnachtsmann ein Rennauto von Lego in seinem grauen Sack haben würde. Manchmal machte ihr Herz richtige kleine Sprünge vor Spannung. Aber wie sollte sie es erfahren? Sie versuchte Julchen zu überreden, mit ihr zusammen noch einmal die drei Treppen hin aufzusteigen, aber Julchen wollte nicht. Sie meinte, außerdem wären Verenas Geschenke bestimmt schon in ihrer Stube in dem großen Wohnzimmerschrank, von dem sie erzählte hatte, weil er vor Weihnachten stets unten abgeschlossen war, und der Schlüssel war abgezogen.
Am Tag bevor die zweite Kerze des Adventskranzes angezündet wird, spielte Julchen mit ihr im Wohnzimmer. Mama war in die Stadt gefahren, sie wollte für die Weihnachtsbäckerei am Nachmittag einkaufen, hatte sie gesagt, und es würde länger dauern, weil so kurz vor Weihnachten alle Menschen in der Stadt wären. Papa war in der Garage und bastelte an seinem Auto, er kam bestimmt lange nicht mehr rein, Mama meinte, Papa solle sich doch auch sein Bett in die Garage stellen, seit er dort auch einen Kühlschrank für sein Bier hatte. Als der Ponyhof aufgebaut war, stand Julchen lange vor dem großen Wohnzimmerschrank. Auf allen Türen steckten Schlüssel. Nur bei dem großen Fach unten mit den Doppeltüren fehlte er. Die Türen waren abgeschlossen. Julchen probierte es aus. Die Türen waren verschlossen. Julchen versuchte es wieder. Die Türen bewegten sich kein Stück. Der Schrank wollte sein Geheimnis behalten. Julchen meinte, bei ihr zu Hause paßten die Schlüssel am Schrank für alle Türen. Verena spürte ein heftiges Herzklopfen. Sie merkte, wie heiß ihre Wangen wurden. Julchen aber lachte. Schon hatte sie einen Schlüssel abgezogen und in das Schloß der geheimnisvollen Tür gesteckt.
Verena hörte das kleine Glöckchen aus Porzellan, das jedes Jahr zur Bescherung rief. Sie sah, wie die Tür sich öffnete und das warme Licht der Christbaumkerzen, füllte das Weihnachtszimmer, das goldene Strahlen, das nur einmal im Jahr so wunderschön leuchtet, Mama und Papa küßten sich und sie ging mit ganz weichen Beinen zum Baum und alle sagten einander frohe Weihnachten, und da lagen die bunten Pakete, ein ganzer Stapel Weihnachtspakete türmte sich da, aus dem Radio sang es „Maria durch den Dornwald ging“, und Verena kniete sich vor den Geschenkeberg, doch sie wußte schon alles. Bei jedem Paket, von dem sie das Geschenkpapier abriß, wußte sie alles und mußte Überraschung jubeln, aber da war gar keine, und jede Überraschung klang falsch, immer verkehrter und verlogener klang es. Am schlimmsten war es bei der Packung mit dem roten Renner von Lego. Sie wollte lachen und aufspringen, wollte Papa und Mama um den Hals fallen, aber ihre Arme und Beine waren steinschwer, das freudige Lachen schmerzte in den Wangen.
Da griff Verena nach Julchens Hand und hielt sie fest. Ich will’s nicht wissen, sagte sie, Julchen, ich will’s nicht wissen, ich will warten. Julchen drehte den Schlüssel. Er paßte und sie hörten, wie das Schloß sich öffnete. Laß uns nur einmal reinsehen, das macht doch nichts, meinte Julchen, dann kannst du dich doch jetzt schon freuen. Aber Verena wußte plötzlich, wohin die große Freude gehörte. Nein, sagte sie. Ich will nicht, ich will warten. Und Verena spürte ihr Herz bis zum Hals klopfen, und sie fand, das wäre ein gutes Gefühl für diese Tage vor Weihnachten.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

noch ne sehr nette weihnachtsgeschichte von dir.
kleiner verbesserungsvorschlag: . . . da kann er nicht bei jedem Rastplatz . . .
lg
 



 
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