Verflucht

3,00 Stern(e) 2 Bewertungen

Silberpfeil

Mitglied
Der Angestellte wachte eines Tages auf und verfluchte Alles und Jeden. Er fluchte über die Nachbarn, die das Tor des Nachts nicht geschlossen hatten. Er fluchte über zu langsame Autofahrer auf seinem Weg zur Arbeit. Regnete es, so verfluchte er das Wetter, da sich bei Nässe seine Haare kräuselten. Und immer wenn er fluchte, zog er die Augenbrauen zusammen.
An einem besonders heißen Morgen, nach einer besonders schwülen Nacht, war seine Laune besonders schlecht und er fluchte bereits über den bellenden Nachbarshund, bevor er das Haus verließ. Kein Autofahrer war vor seinen Flüchen sicher, er schoss sie ab wie Pfeile von einem Bogen.
Als er endlich in eine Straße bog, die frei von anderen Verkehrsteilnehmern war und sich gerade darüber freuen wollte, sah er in einiger Entfernung eine Person auf dem Bürgersteig auf die Fußgängerampel zugehen, den Finger ausgestreckt und jeden Augenblick auf den Knopf drückend. Er verfluchte die Person, wollte sie zum Teufel jagen. Er hielt seinen Wagen an der roten Ampel und warf der Person einen hasserfüllten Blick zu, noch immer Gift und Galle spukend. Da bemerkte er, dass es sich um eine alte Dame handelte, vom Leben gezeichnet, auf einen Gehstock gestützt, die Haut runzelig. Doch ihr Gesicht so lieblich, beinahe engelsgleich, trotz der Falten. Sie sah zufrieden aus.
Der Angestellte fragte sich wieder und wieder, weshalb die Frau zufrieden aussah. Ihm fiel beim besten Willen kein Grund dafür ein. Er fühlte sich schuldig, da er sie verflucht hatte. Auch spät am Abend ließ ihn der Gedanke an sie nicht los und er musste erkennen, dass er neidisch auf sie war.
Und so betrachtete er sich zum ersten Mal seit langer Zeit ausführlich im Spiegel. Er blickte in sein Gesicht und fragte sich, wer der Mann war, den er dort sah. Ein ewig genervtes Gesicht mit einer Zornesfalte zwischen den Brauen. Müde, stumpf aussehende Augen, die jeglichen Glanz längst verloren hatten. In der Nacht wälzte er sich hin und her, kaum imstande Ruhe zu finden.
Am nächsten Tag nahm er sich vor, nicht so viel zu fluchen. Er grüßte freundlich seine Nachbarin, die ihn jedoch nicht beachtete. Er hielt sich an die Geschwindigkeitsbeschränkung, obwohl der Autofahrer hinter ihm wild tobte und dicht auffuhr. Er kochte Kaffee für seine Kollegen, doch Niemand rührte die Kanne an. Da erkannte der Angestellte, dass kein Mensch ihn leiden mochte. Selbst Freunde und Familie hatten sich längst von ihm abgewandt.
Von Tag zu Tag wuchs seine Einsamkeit und er merkte, wie sehr ihm die Nähe zu anderen Menschen fehlte. Er wurde verbittert, kehrte in sein altes Muster zurück und fluchte erneut über Alles und Jeden.

Im Winter dann, an einem besonders nasskalten Morgen, sah er erneut die alte Frau. Trotz Schirm peitschte der Wind ihr den Regen ins Gesicht. Doch sie ließ sich vom Wetter nicht abhalten. Sie ging ihren Weg und wie zuvor hatte sie einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht.
Die Neugier des Angestellten war geweckt. Er wollte wissen, wohin ihr Weg sie führte. So parkte er sein Auto und folgte ihr. Sie betrat ein Haus mit einer roten Tür. Er fand keinen Hinweis darauf, was sich in dem Haus befand, stellte aber er fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Am Ende des Flurs war ein großer Raum, aus dem ihm viele Stimmen entgegen schallten. Darin bot sich ihm ein Spektakel, von dem er bisher nur gehört hatte. Er war in einer Suppenküche gelandet. Ärmlich aussehende Menschen warteten in Schlangen stehend darauf, von netten Damen eine warme Mahlzeit zu bekommen. Die alte Frau zog ihren Mantel aus, legte ihren Schal ab und begrüßte herzlich die anderen Damen. Sie arbeitete also hier.
Alle Frauen waren freundlich und zuvorkommend, behandelten die Menschen mit Respekt und Höflichkeit. Der Angestellte war fasziniert und beobachtete sie eine Weile bei ihrer Arbeit. Er blieb im Hintergrund, sprach mit Niemandem, denn er wollte in Ruhe nachdenken.
Die Vibration seines Mobiltelefons riss ihn schlussendlich aus seinen Gedanken. Sein Vorgesetzter fragte wutentbrannt, wo er stecke. Und so fuhr der Angestellte zu seinem Arbeitsplatz, betrat das Büro seines Chef`s und kündigte, denn er wünschte sich für die Zukunft ein Leben ohne permanenten Zeitdruck, ohne Terminvorgaben und ohne cholerischen Chef. Vor allem aber wollte er nicht mehr fluchen, sondern andere Menschen durch Herzensgüte erfreuen.
 

Aligator

Mitglied
Hallo Silberpfeil!

Deinen Schreibstil empfinde ich als ausgewogen und rund.
Genauso verläuft die Geschichte, sie ist schlüssig und ich wollte sie auch bis zum Schluss lesen.
Gefallen hat mir, wie der Angestellte sich im Spiegel betrachtet, den Willen hat sich zu ändern, aber dann doch wieder in die alten Muster zurückfällt, da seine Mitmenschen nicht mitspielen.

Du weißt sicher selbst, oder hast es wohl auch so beabsichtigt, dass der Angestellte ein wenig oberflächlich daherkommt. Das liegt meiner Meinung nicht daran, dass du zu wenig Einblick in seine Gefühlswelt gibst oder ihn schlecht beschreibst, sondern an seiner Berechenbarkeit. Er bricht nicht aus der Handlung aus und das macht ihn ein bisschen unglaubwürdig.

So auch die Kernaussage: stimmt ja zu hundert Prozent, aber ich bin mir sicher, dass das jeder Leser schon weiß. Fluchen macht verdammt noch mal keinen Spaß, wenn es unkontrolliert herauskommt und eine negative Einstellung bringt nichts Gutes hervor.

Ich finde jedoch, jetzt aber nicht falsch verstehen, dies ist eine prima Geschichte für Kinder und ich könnte mir gut vorstellen, sie mal meinem Sohn vorzulesen.

Liebe Grüße
Aligator

P.S. Habe noch zwei deiner anderen Werke gelesen und fand es schade, dass du dort so wenig Antwort bekommen hast.
 

Silberpfeil

Mitglied
Hallo Aligator,

zunächst einmal vielen Dank für deinen Kommentar. Ich finde es wirklich sehr schade, dass ich hier so wenig Feedback bekomme, denn nur damit kann ich meine Geschichten verbessern. Umso mehr freut mich daher dein Beitrag.

Wie du richtig erkannt hast, habe ich den Angestellten extra oberflächlich beschrieben, da es mir nicht darum ging zu beschreiben, warum er zu so einem unzufriedenen Menschen geworden ist. Es ging mir stattdessen darum, den Teufelskreislauf zu beschreiben, der bei jedem Menschen schnell ausgelöst werden kann, wenn man unzufrieden ist und keinen Weg daraus sieht, vielleicht auch Niemanden hat, der Verständnis zeigt und einem beisteht.

Es sollte eine Geschichte werden, aus der man eine Lehre ziehen kann, nur das stand für mich im Vordergrund. Wenn du sagst, du würdest sie gerne deinem Sohn vorlesen, empfinde ich das also als Ehre!

Liebe Grüße
Silberpfeil
 



 
Oben Unten