Verfolgerwahn

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Verfolgerwahn

… "Da es mir widerstrebt, mich wie eine Ware anzupreisen, sei nur so viel zu meiner Person gesagt: Ich bin 27 Jahre, Stud.Ass., zierlich mit rotbraunen Haaren, und würde gerne einen sensiblen, liebevollen Mann kennen lernen"…
Holger Kopke hatte sich im Wohnzimmer seiner Parterrewohnung in einen Korbsessel gefläzt. Sein Gesicht hing über einer Heiratsannonce in ´Die Zeit´. Streng genommen nicht nur über einer, sondern auch über den vielen anderen, in denen sich weibliche Wünsche ausbreiteten… „Junge, akademisch gebildete Mutter mit Kind. Sucht einen Grandseigneur“ oder „Jagdhunde, Fitness, Segelyacht und einiges mehr – das sind meine Interessen. Schick, schlank, schön und mit exquisiten Manieren kann ich auch noch bieten. Ich suche einen Mann, der nicht nur eben solche Interessen und Eigenschaften vorweisen, sondern mir auch einen luxuriösen Lebensstil bieten kann. Und, last but not least, mindestens 185 cm groß ist.“
Holger schaute immer wieder gebannt zur Zimmerdecke. Zu einem feinmaschigen Spinnennetz. Schon seit Tagen spann die für ihn unsichtbar bleibenden Spinne – wo sie sich immer nur versteckt hielt – beharrlich ihre Fäden. Fäden dünner als Haare. Fäden, versilbert durch das hereinfallende Sonnenlicht.
War er schon so weit gesunken? Er, der frühere Mädchenschwarm? Dass er nun im trüben Teich der Heiratsannoncen fischen musste. Welche Ansprüche diese Weiber hatten. An ihnen gemessen nahm sich das Inserat der Rothaarigen bescheiden aus.
Er legte das Zeitungsblatt beiseite. Streckte die Beine, die in zerbeulten Jeans steckten. Holte einen Besen und eine Trittleiter aus der an die Küche angrenzende Besenkammer, stieg auf die Leiter und begann, mit dem langen Besenstiel in dem Spinnennetz zu stochern.
…Die Spinne Langeweile Fäden spinnt und ohne Eile…giftig grau die Wände hochkriecht. Wenn´s blank und frisch gebadet riecht…“ Franz Josef Degenhardts Lied fiel ihm ein, aber es passte nur so halb und halb zu seiner Lebenssituation, denn er lebte in Hamburg, hatte schon immer in Hamburg gelebt, nicht in einer kleinen Stadt, es war nicht Sonntag, sondern Mittwoch, es roch auch nicht frisch gebadet, eher staubig. Frau Wiechert müsste mal wieder kommen und die Wohnung gründlich putzen. Aber das Gefühl der Langeweile lähmte ihn schon lange, nicht nur heute, auch nicht besonders beim Anblick des Spinnennetzes, vielleicht doch, weil er in Routine und Stagnation eingesponnen war. Immerhin war er heute Abend bei Thomas Altendorf eingeladen, einem langjährigen Bekannten aus Kommunarden-Zeiten, die schon lange zurück lagen. Zehn Jahre mindestens.
Er studierte damals Sport und, nach dem Abbruch des Anglistikstudiums, Russisch an der Uni Hamburg, Thomas Germanistik und Philosophie. Thomas, der Senatorensohn, der – wie er selbst – an fast allen Teach-Ins, Sit-Ins, Go-Ins teilnahm. Vehement über Habermas, Marcuse, Horkheimer diskutierte. Ein Bürgersohn mit schlechtem Gewissen, der den Muff unter den Talaren mitsamt den miefigen Talaren-Trägern hinwegfegen wollte. Der selbst gerne Arbeitersohn gewesen wäre und deshalb alle Unterprivilegierte, eben auch Holger, hofierte. Was für tolle Weiber in ihren Meetings herumliefen.
Damals war Holger bereits ein Jahr mit Sonja verheiratet, der Tochter eines Studiendirektors, Thorsten war gerade ein halbes Jahr alt. Und nun war er seit zwei Jahren geschieden.
Er kann jetzt nicht länger mit Erinnerungen vertrödeln, es ist schon 19 Uhr, um 20 Uhr soll er in Harvestehude, Mittelweg Nr. 23 sein. Von Volksdorf bis dorthin sind es mindestens 30 Fahrminuten. Er muss sich noch duschen, was soll er anziehen? Wieder seine zerbeulten Jeans, er will sich wenigstens äußerlich von den feinen Pinkels absetzen, mit denen Thomas seit Neustem verkehrt.
Bevor er die Wohnung verlässt, liest er nochmals jene Annonce.
„Da es mir widerstrebt, mich wie eine Ware anzupreisen, sei nur folgendes zu meiner Person gesagt. Ich bin 27 Jahre, Studienassessorin, zierlich mit rotbraunen Haaren und würde gerne einen sensiblen, liebevollen Mann kennen lernen.“
Er kritzelt ein paar Zeilen auf eine Karte, steckt sie in einen Briefumschlag, auf den er die Adresse der Zeit-Redaktion, Abteilung Annonce, Chiffre 742 schreibt. Sucht noch nach einem Foto von sich, wühlt einen Stapel alter Zeitungen, Zeitschriften durch, findet nichts. Vielleicht in einem der alten Pappkarton, die er in der Abstellkammer aufbewahrt. Endlich findet er eine, sie ist reichlich unvorteilhaft, wie breit seine Visage darauf aussieht, wie ausgerollter Nudelteig, aber es ist ihm jetzt egal, entweder antwortet die kleine Rote oder eben nicht.
Dann wirft er sich eine leichte Jacke über, setzt sich ans Steuer seines VW-Käfers, der mit Schrammen übersät ist.
In der Nähe des Villenviertels sieht er sie, die Elfen auf ihren Gazellen-Beinen, in deren Anblick er sich stundenlang versenken möchte, was jedoch nur selten möglich ist, weil die Elfen meist in Begleitung geschniegelter Anzugsträger daherkommen.
Durch die Rhododendronbüsche in Thomas Garten irrlichtern gelbe, rote und grüne Lampions, flattert Gelächter, schwirren einzelne Wörter, zusammenhanglos…“Beate soll…nein Thomas….Gläser……anfangen…fehlt noch…schon mal…“ Ob sie nur noch auf ihn warten? Aber wozu diese Förmlichkeit? Er kennt den Weg durch das versteckte Gartentürchen, schleicht sich heran und steht plötzlich mitten unter den jungen Leuten. Nein, jung sind die meisten nicht mehr, sondern mittelalt wie er und Thomas. Thomas, arrivierter Chefredakteur beim Hamburger Abendblatt. Er hat in seine angestammten gesellschaftlichen Kreise zurück gefunden, seit er die weitläufige Villa seines Vaters, des Senators Dr. Altendorf, vor zwei Jahren erbte. Mit seiner Frau Gabriele und dem fünfjährigen Carl bewohnt er das Erdgeschoss und die Belle Etage, die Mutter hat er ins zweite Stockwerk verbannt.
„Na, alter Knabe, hast du doch noch den Weg hierher gefunden?“ Wir dachten schon, du hättest uns abgeschrieben.“ Thomas, mit Bauch- und Glatzenansatz, ist nah an ihn herangetreten, so nah, dass es Holger peinlich wird, besonders, als jener seine schwere Hand auf Holgers Schulter fallen lässt. Nicht groß, aber schwergewichtig wirkt Thomas neben seiner grazilen, zartgesichtigen Gabriele. „Komm, probier´ unsere hausgemachte Waldmeisterbowle,“ dröhnt er. Geht zu einem der Holztische, die mit kalten Platten, Tellern, Gläsern und tiefen Schalen beladen sind. Er schöpft mit der Kelle die hellgrüne Flüssigkeit aus einer Schale in ein dickbauchiges Glas. Holger fasst danach, trinkt ohne Abzusetzen, schmeckt beim Trinken Waldboden, stellt sich vor, mit Gabriele allein zu sein im tiefen Tannengrün und Waldeinsamkeit, möchte, das Thomas im Erdboden verschwindet mitsamt seinen Gästen, die Hamburger Uppercrust, die Waldmeister Bowle trinkt, Lachs-, Kaviar, Camembert-Sandwiches verzehrt, laut gestikuliert und schwadroniert. „Helmut Schmidt, der Wolf im Schafspelz,“ kaut ein langer Dürrer zwischen Pferdezähnen hervor. Und Thomas sekundiert: „Exakt. Er hat doch Ulrike Meinhof … in den Selbstmord getrieben. Wenn sie es nur taktisch klüger angegangen wären. Nicht nur versucht hätten, die Köpfe der kapitalisten-Hydra abzuhauen. Das weiß doch mittlerweile jeder, dass die Köpfe der Hydra immer nachwachsen.“ „Sie hätten von den Nazis lernen sollen.“ Doktor D., ein kleiner drahtiger Herr um die vierzig, hat sich neben die beiden gestellt. Wie die Nazis hätten sie die Massen mobilisieren, auf ihre Seite ziehen, den Marsch durch die Institutionen antreten, wie es Rudi Dutschke gelehrt hatte, die Machtübernahme durch parlamentarische Mehrheitsverhältnisse anstreben müssen.“ Es hat sich ein kleiner Kreis von Zuhörern und ZuhörerInnen um ihn gebildet, auch Holger gehört dazu. Er beobachtet fasziniert, wie der kleine Mann sich in Rage redet, gleichzeitig flirtet Holger mit Elke, einer Freundin von Thomas und Gabriele. Elke, zu drall und gedrungen für seinen Geschmack, lächelt ihn schelmisch an, fasst ihn bei der Hand und zieht ihn ein wenig abseits. Wie es ihm gehe, will sie wissen. Ob er immer noch oder schon wieder unbeweibt sei. Man habe sich ja schon lange nicht mehr gesehen. Nein, Egon, ihr Göttergatte, habe nicht mitkommen können. Er sei zu beschäftigt mit der Planung einer Häuserzeile. Holger lächelt auch, als er ihren immer festeren Händedruck spürt. Er flüstert ihr ins Ohr, wie bezaubernd sie aussehe, wühlt seinen blauen Blick in ihr volles Gesicht. Presst sich an sie. Verstohlen sieht er zum Kreis um Thomas und Gabriele hinüber, Neid ätzt ihm den Hals wie Magensäure, die den Schlund emporsteigt. Auch wenn er sich darüber ärgert. Er weiß, dass er zur Zeit nirgends richtig zu Hause ist. Gewissermaßen im Limbo schwebt.
„Holger, Holger, Hol-ger“ klingt es wie ein Lockruf. Drei dünne, hochbeinige Frauen haben sich aus dem diskutierenden Circle gelöst, stelzen auf Elke und Holger zu, die sich im Abseits miteinander beschäftigen. Es sind Antje, Sabine und Susi, die er ebenfalls noch aus Studienzeiten kennt. Die sich ebenfalls in Ehe und/oder Beruf etabliert haben. Mit und ohne Kinder. Alle drei sympathisierten mit sozialistischen Ideen, wenn auch nur Susi einer Kommunarden-Zelle angehörte. „Jede gehört jedem“, hört er sie sagen, als sie Elke beiseite schiebt, um ihn als erste umarmen zu könne. „Dass im logischen Umkehrschluss jeder jeder gehört, scheint den meisten Männern nicht zu behagen. Aber du warst auch in dieser Hinsicht schon immer eine rühmliche Ausnahme.“ Holger genießt es, von vier Frauen umgurrt zu werden, denn die dralle Elke lässt sich nicht so leicht abschütteln. Er lässt sich mit Dillhappen etc. füttern, lässt sein Glas mit Waldmeisterbowle nachfüllen. Das Gefühl von Neid ist verflogen, er gehört wieder dazu, wenigstens für den Augenblick, er ist mittendrin, er muss nicht wie der kleine Dr. D. polit-agitatorische Reden schwingen. Seine physische Präsenz genügt. Sie zieht sogar Gabriele, die vogelleichte, ätherische, in seinen Dunstkreis. Was wiederrum Thomas anlockt, der sie nicht entschwinden sehen kann, auch nicht für ein paar Minuten, auch nicht auf ein paar Meter Entfernung. Er berührt leicht ihren Arm und kann oder will dann nicht mehr loslassen, so als klebe er als Hans im Glück an seiner goldenen Gazelle.

Holger kommt erst gegen drei Uhr morgens nach Hause, das macht aber nichts, da er sein Unterricht erst um 10 Uhr beginnt – vier Stunden Sport und zwei Stunden Russisch in einer AG. Unterrichtsvorbereitung kann auf fünf Minuten reduziert werden. Er wird die Knaben der 9a und 9c am Barren turnen, über Pferde und Böcke springen und die Kletterwand erklimmen lassen.

Zum Mittagsessen fährt er zu seiner Mutti, die in Billstedt im 16. Stock eines Hochhauses wohnt. Die Mutti ist vor Freude, ihren Göttersohn zu sehen, ganz aus dem Häuschen. Holger, ruft sie immer wieder, Holger, Holger, als wolle sie einen Vogel oder eine Katze zu sich heranlocken. Dabei schmiegt sie ihren kleinen Kopf an seinen Brustkorb, denn viel höher reicht sie nicht an ihn heran. Er lässt die Liebes- und Gunstbezeigungen über sich ergehen. Dann goutiert er den Rinderbraten mit Senfsoße, den sie ihm im Wohnzimmer serviert. Wie lange es schon her sei, dass er sie besucht habe? Doch nur zwei Monate? Sie habe geglaubt, es sei schon viel länger her. Ob er nicht schon längst wieder eine Freundin habe? Er brauche es ihr nicht zu sagen, wenn er nicht wolle. Sie könnte es eh nie verstehen, wenn er keine hätte. Solch ein schöner, stattlicher Mann… Es seien ihm doch schon mit 14, 15 Jahren die Mädchen nachgelaufen. Er sei seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten.
Als sie Holgers säuerliches Gesicht bemerkt, fügt sie hinzu. „Ich meine nicht, wie Vati aussah, als er 1953 aus der russischen Kriegsgefangenschaft kam. Abgerissen, halb verhungert, verlaust und zerlumpt. Mit einem kaputten Auge. Das rechte Auge hatten sie ihm eingedrückt, die Russenschweine. Die linke Hand zerquetscht. Aber was war er ein Bild von einem Mann in seiner schwarzen SS-Uniform, als ich ihn 1939 kennenlernte. Ein paar Monate vor Ausbruch des Kriegs. Bei einer NS-Tanzveranstaltung im Alster-Pavillon für BDM-Mädels, HJ und SS.“
„Mutti, hör´ doch mit der alten Geschichte auf.“ Holger muss sich zusammen nehmen, damit er seine alten Mutti nicht anfährt. „Ich hör´ ja schon auf, aber ich werd´ doch noch die Wahrheit sagen dürfen.“ Sie zieht die Schultern hoch, als wolle sie ihren kleinen, alten Kopf zwischen ihnen verstecken. Sie wolle den Nachtisch holen, sagt sie, und weicht in die Küche aus.
1954, er war 11 Jahre, hatte er den schwarzen Gürtel mit den SS-Runen in einem Koffer aufgestöbert, der in der Besenkammer abgestellt war. Ein abgewetzter, aus den Fugen geratener Koffer. Als er in aller Unschuld den Vater danach fragte, wollte der ihn mit dem Lederriemen verprügeln. Aber er, sportlich wie er damals schon war, konnte ihm entwischen. Sich verstecken. Bis der Vater wieder, wie meistens, abwesend war. 1953 war der Vater im Zuge von Adenauers Rückholaktion aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden. Er fand auch in Zeiten des beginnenden Wirtschaftswunders nur Gelegenheitsjobs, als Schrotthändlers, als Austräger von Zeitungen, als Postbote. Aber es gab keine Festanstellung, weil er überall Streit vom Zaun brach. Ein geschlagener Mann, der nicht nur im Suff um sich schlug und dem man besser aus dem Weg ging. Dass er sich noch mit ehemaligen SS- Kameraden traf, vermutete Holger. Denn woher kamen die Tausend DM-Scheine, die sein Vater manchmal aus der Brieftasche zog und seiner Mutter gab, damit sie längst fällige Rechnungen bezahlen konnte? Einige jener Kameraden hatten in der neu gegründeten BRD schnell Fuß gefasst, sogar als kleine und größere Unternehmer, als Journalisten und Juristen Karriere gemacht. Jedenfalls wurde der Vater Kassenwart bei der 1964 gegründeten NPD und bezog seit der Zeit ein bescheidenes Einkommen. Aber da war Holger schon 21 Jahre und längst nicht mehr zu Hause.
In der Küche hört er Mutti hantieren, mit Töpfen und Tellern klappern, macht sie jetzt schon den Abwasch? Er hört den Stabmixer surren. Wenig später kommt sie mit dem Nachtisch – Wackelpudding mit Schlagsahne. Vom Vater ist nicht mehr die Rede, stattdessen erzählt sie von den harten Nachkriegsjahren, in denen sie neben den Eisenbahnwaggons die herunterfallenden Kohlestückchen auflas. Holger mit seinen Stummelbeinchen, wie alt war er damals, kaum drei Jahre, stolperte immer hinterher, was sehr nützlich war, denn wenn englischen Besatzungssoldaten ihr die mickrige Beute wieder abnehmen wollte, genügte es oft, ihn, Holgerchen mit seinem niedlichen Lockenköpfchen vor sich herzuschieben, damit die Engländer eine Auge zudrückten. Bei den deutschen Bauern im Alten Land verfing der Trick seltener.
Als er wieder zu Hause ist, versucht er, Sonja anzurufen. Nach seiner Berechnung wird Thorsten dieses Wochenende bei ihm verbringen. Er will sie fragen, wann er sein Söhnchen abholen kann. Schon vor vier Jahren haben sie sich getrennt, wenn sie auch erst vor zwei Jahren geschieden wurden. Seine Ehe mit der Studiendirektoren-Tochter, die er auf einem Uniball kennen gelernt hatte, obgleich er damals noch nicht studierte, sondern noch am Hansa Kolleg an seinem Abitur bastelte. Bald nach der Geburt Thorstens fingen die Streitereien an. Dass er nicht im Haushalts mithelfe…dass alles an ihr hängen bleibe… dass er nicht Verantwortung für das Kind übernehme…Das Besuchs- und Kontaktrecht zu seinem Sohn hatte sie ihm ohne großes Theater eingeräumt.
Als sie auch beim dritten Anruf den Telefonhörer nicht abnimmt, setzt er sich ans Steuer. Fährt ziellos durch Hamburg, so ziellos auch wieder nicht, den er zieht seine Kreise immer enger um die Wohnung seiner Ex am Lohkoppelweg Nr. 26.
Sonja ist Studienrätin wie er, aber nicht für Sport und Russisch, sondern für Deutsch und Mathematik, was er damals, als er sie auf jenem Uni-Ball kennenlernte, für eine aparte Fächerkombination hielt. Auch sie selbst fand er damals apart, mit ihrem blonden Haarflaum und ihrem Vogelköpfchen. Wie sie sich den Kopf beim Tanzen nach ihm verdrehte. Schlangenhals dachte er beim Anblick ihres biegsamen, etwas zu lang geratenen Halses. Schamlose Wachtel, dachte er auch.
Sonja, 24 jährig wie er selbst damals 1967, stand unmittelbar vor dem Staatsexamen in Germanistik, das in Mathematik hatte sie bereits mit Prädikat bestanden. Kunststück, wenn man wie sie aus einem gut situierten, bildungsbürgerlichen Elternhaus kam.
Mittlerweile ist er nach Eppendorf gefahren, hat seinen Wagen, halb verdeckt von einem Lieferwagen, am Lohkoppelweg geparkt, aber doch so, dass er den Hauseingang Nr. 26 beobachten kann. Außer dem Postboten und einem altersgrauen Ehepaar erscheint niemand im Türrahmen. Wenigstens zwanzig Minuten nicht. Oder noch viel länger. Er schaut gar nicht mehr auf die Uhr, er weiß auch so, dass es fast vierzehn Uhr ist, Sonja müsste mit Thorsten doch schon längst aus der Schule zurück sein, warum sind sie das nicht?
Er wird zum Friederizeanum in der Grindelallee fahren, wo sie schon seit Jahren unterrichtet. Wo auch Thorsten seit einem dreiviertel Jahr zur Schule geht, in die Sexta, ja, an der kleinen, feinen Gelehrtenschule gelten immer noch die lateinischen Namen der Klassenstufen, Sexta, Quinta, Quarta, Untertertia…Wie in Zeiten der Klassengesellschaft mit Dreiklassenwahlrecht. Im Gegensatz zur heutigen Demokratie mit aktivem und passivem Wahlrecht für alle. Mit privilegierten Bürgern und unterprivilegierten Arbeitern.
Er ist aus seinem Knautschkäfer gestiegen. Unauffällig geht er halb verdeckt am Buschwerk entlang, welches das Gebäude umgibt. Späht durch hohe Fenster der Klassenräume, die fast alle leer sind. Endlich, im Lehrerzimmer sieht er Sonjas Vogelkopf neben vielen anderen Köpfen. Den blonden Haarflaum, der immer durchscheinender wird. Wie sie den langen Schlangenhals nach vorne gereckt hat. An der Stirnseite des Tisches sitzt Dr. Eggers, der langjährige Direktor des Friederizeanums. Er ist fast selbst schon ein Museumsstück mit seinen weißen Haaren und staubgrauen Gesicht. Jetzt öffnet Sonja den Mund, der aussieht wie der aufgesperrte Schnabel eines Jungvogels. Von wem will sie denn gefüttert werden, denkt Holger. Hat man, hat er ihr nicht schon genug in den Schnabel gestopft? Allein die monatlichen Zahlungen für Thorsten, im ersten Jahr nach der Scheidung € 350, jetzt schon € 400 und für sie selbst nochmal € 200. Sonja könne als allein erziehender Mutter nicht zugemutet werden, Vollzeit zu unterrichten. Zumindest jetzt noch nicht, solange der Junge noch so klein sei. So die Richter am für die Scheidung zuständigen Amtsgericht. Dabei wäre Thorsten bei ihm, Holger, weitaus besser aufgehoben gewesen und wäre es heute noch. Aber er sagte damals nichts. Hätte eh nichts gebracht, das wusste, das weiß er. Die waren doch in alle Ewigkeit davon überzeugt, dass Mutter und Kind zusammen gehörten, als seien ihre Gliedmaßen miteinander verwachsen. Nur weil das Kind als Embryo im Bauch seiner Mutter heranwuchs und dann, nach neun Monaten, durch den Geburtskanal aus ihrem Körper rutschte. Igitt, wenn er sich nur das blutig-schleimig-glitschige Schlittern durch die dunkle Röhre vorstellte. Er möchte die Glasscheibe einschlagen, durchs eingeschlagene Fenster steigen und ihr die Kehle zudrücken. Aber er duckt sich doch lieber ins Gebüsch, schleicht weiter in gebückter Haltung an der Fensterfront entlang bis zum Aufenthaltsraum. Hier irgendwo müsste doch Thorsten sein. Holger hat sich längst wieder aufgerichtet, späht in den Saal, der mindestens dreimal so lang ist wie das Lehrerzimmer. Erspäht Grüppchen von kleinen und großen Schülern, straßenköterblonden, strohblonden, braunhaarigen.

Endlich entdeckt er sein Prinzchen mit der hellen Sammthaut und dem matten Goldhaar, umringt von einigen derbknochigen Jungs. Er möchte ins Gebäude eilen, sein Söhnchen, seines Herzens Krönchen, mit sich nehmen, wenn nötig entführen, warum nicht, aber er weiß, wusste immer schon, seine Reflexe zu kontrollieren. Auch, wenn nötig, und das war meist der Fall, seine Gesichtsmuskeln, den Tonfall seiner Stimme.
Unauffällig kehrt er zum Auto zurück, unauffällig beobachtet er den Eingang des Gebäudes. Fast eine Stunde muss er hinter dem Steuer ausharren, bis die Ex mit seinem Sohn auf dem Großraumparkplatz auftaucht. Bis er ihnen endlich zum Lohkoppelweg Nr. 26 folgen kann. Auch dort lässt er noch einmal 15 Minuten verstreichen. Dann erst klingelt er bei Sonja Evessen, denn Sonja heißt schon lange nicht mehr Kopke, sondern wieder wie ihr Vater, der Studiendirektor, Evessen.
„Ach du bist es, Holger“, stellt Sonja fest, als sie die Wohnungstür öffnet. Sie ruckt und reckt den Vogelkopf vor, zurück, vor, und Holger ist froh, dass sie ihm nicht ins Gesicht pickt.
„Ich will auch gar nicht stören, ich wollte nur fragen, wann ich am Freitag Thorsten abholen kann.“ Holger blendet sein strahlendstes Lächeln auf Sonjas Gesicht, stülpt es ihr über den Kopf, bis der nicht mehr ruckt. Wie wäre es mit Freitag, 14 Uhr? Er könne Thorsten dann am Sonntag gegen 17 Uhr wieder bringen. – Dann doch lieber gegen 19 Uhr, sie, Sonja, möchte am Wochenende auch mal etwas unternehmen. Endlich kommt Thorsten angerannt, umarmt Holger stürmisch, er sieht seinen Papa nur alle vierzehn Tage gerade Mal vierundzwanzig Stunden, in denen der Papa ihm jeden Wunsch von den Augen abliest, das sind dann vierundzwanzig Stunden im Schlaraffenland, während die Mama für die vielen anderen Tage zuständig ist. Holger streicht Thorsten ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, küsst ihm aufs Köpfchen, bevor er sich verabschiedet. „Dann also abgemacht, Freitag 14 Uhr bis Sonntag 19 Uhr."
„Was möchtest du denn essen? Eine Pizza? Oder lieber eine knusprige Bratwurst mit Fritten?“ Holger beugt sich zu Thorsten herunter, legt ihm einen Kuss auf das Blondhaar, es riecht nach Erdbeeren oder Kornblumen oder nach Margeriten oder nach einem Gemisch von allem, er hat es ihm eben beim gemeinsamen Bad in der alten Emaillebadewanne gewaschen, hat die Badelotion auf den Jungenkörper tröpfeln lassen und in die weiche Haut gestreichelt. Thorsten sagt, er wolle ´ne Pizza Margherita beim Italiener Brassano. Mit zwei Flaschen Limonade. „Du sollst alles haben, was du möchtest“, verspricht Holger, obgleich er weiß, dass so viel zuckerhaltige Flüssigkeit nicht gesund ist, „zieh deine sauberen Jeans, das dunkelblaue Polohemd und deine Schuhe an. Dann kann´s losgehen.“ Es dauert dann doch noch länger, weil Thorsten partout nicht das dunkelblaue, das saubere Polohemd, sondern das hellblaue mit den braunen Flecken anziehen will. Holger muss lachen, Vater und Sohn vereint im Gammellook.
„Buon juorno, signor Kobkä“. Brassano, der Wirt der Pizzeria, schlingt sein breites Lächeln als Begrüßung um beide und zieht sie zu einem der wenigen freien Tische in Fensternähe. Das ist meistens so, Freitag abends drängt sich halb Hamburg in diesem Lokal, denn Brassano backt die größten, dünnsten und würzigsten Pizzen in seinem Kohlebackofen.
Wie es in der Schule gehe, ob Sport und Mathematik immer noch seine Lieblingsfächer seien, was er in den letzten vierzehn Tagen am Wochenende mit der Mama unternommen habe, fragt Holger, während sie auf ihr Essen warten. Letztes Wochenende seien Mama, er und Bernd im Freibad… gewesen. Er sei vom Ein-Meter Brett gesprungen.
Wer ist Bernd? Er hat noch nie diesen Namen gehört. Aber Holger unterdrückt diese spontane Frage, spendet seinem sportiven Sohn Beifall, lobt ihn über den grünen Klee, was aus ihm noch werden könne, ein Turnierschwimmer, Schwimmweltmeister. Erst als Thorsten zufrieden seine Pizza kaut, erkundigt sich Holger en passant, wer denn Bernd sei – ein Klassenkamerad, ein neuer Freund? Ja, Thorsten bewegt sein Köpfchen eifrig auf und ab, Mamas neuer Freund. Mama sei total verliebt, sie rede nur noch von Bernd, Bernhard, Bernhardus. Wie lange die Mama Bernd schon kenne. – Noch nicht lange, nur mal so vier Wochen. Wie Bernd denn mit Nachnamen heiße. Petersen. Vielleicht heiße er, Thorsten, auch bald Petersen. Mama und Bernd wollten nämlich heiraten.
„Du bist ein Kopke, und wirst immer ein Kopke sein. “ Sein Sohn sollte nicht mehr Kopke, sondern Petersen heißen! Holger ist in einem brennenden Ofen, er ist der bleiche Pizzateig, der auf einem Rost in den Holzkohleofen geschoben wird. Einen Augenblick schaut er Thorsten streng an, dann legt er wieder das gewohnte Lächeln über sein Gesicht.
Es war nicht schwer, Thorsten die Würmer aus der Nase zu ziehen. Er musste nur zwischendurch beim Essen und später während des langen Wochenendes ein paar unverfängliche Fragen stellen. Ob Bernd schon zu Mama gezogen sei, nein, wo er denn wohne, in Winterhude, wo denn genau, in welcher Straße? Winterhude sei ja ein großes Viertel. In der Buchenstraße…Ob Thorsten auch schon mit Mama bei Bernd gewesen sei. Ja? Ob es ihm dort gefallen habe? Bernds Haus sei klasse, richtig groß und toll eingerichtet mit Kamin und Hausbar. Ein riesiger Garten gehöre auch dazu.
Also war dieser Herr Petersen schwer reich, eine prächtige Partie für Sonja, wenn nicht alles anders käme… Er würde diesen Herrn mal genauer ins Visier nehmen. Jetzt konnte er das, was er bei den zahlreichen Tagesschulungen über Ohlsen gelernt hatte, endlich auch privat nutzen. Die Schulungen fanden, kurz nachdem ihn Ohlsen angeworben hatte, in wechselnden West-Berliner Privatwohnungen statt, die wöchentlich auf versteckte Wanzen überprüft wurden. Man musste auf der Hut sein, der westdeutsche Verfassungsschutz schlief schließlich auch nicht.
Er lernte dort einiges. Wie man winzige Videokameras mit ebenso winzigen Videogeräten verbunden in Privaträumen montiert, abmontiert und auswertet, wie man jemanden in der Öffentlichkeit unauffällig beschattet, ebenso unauffällig jemanden in kompromittierenden Posen fotografiert, wie man Kontakt zum Hausmeister der Wohnanlage aufnimmt, in dem das zu observierende Subjekt wohnt. Oder Kontakt zu dessen Bekanntenkreis sucht. Ehrabschneidende Gerüchte über es in Umlauf setzt.
Es sind nur noch zehn Tage bis zu den Großen Ferien, die diese Mal in Hamburg schon Ende Juni beginnen. Holger hat Post bekommen. Der eine Brief ist offensichtlich die Antwort auf jenes Heiratsinserat, der andere stammt von Igor Pawlewksi aus Leningrad, der mit seiner Familie am Newski Prospekt in der Nähe des Marionettentheaters wohnt. Bei dem er jedes Jahr mehrere Wochen verbringt, wenn es geht, im Sommer, und der ist an der Newa kurz genug wegen der weißen Nächte. Seit 1968, als Stasi-Agenten in die Kommunarden-Zellen schwirrten, auch in jene, in der er, Holger, aktiv war. Ohlsen hieß der, der ihn mal ganz beiläufig in der Cafeteria fragte, ob er bei seiner antikapitalistischen Einstellung wirklich Englisch studieren wolle, die Sprache des Klassenfeinds, oder nicht doch lieber Russisch, sein Studium würde großenteils, sagen wir zu siebzig Prozent, subventioniert, gegen kleine Dienste versteht sich, nein, gewiss nichts Gefährliches, absolut sicher, nein, er müsse niemals als Spion tätig werden, nur kleine Zuträgerdienste auf absolut unverdächtigen Wegen. Er könne ein bis zwei Semester in der Sowjetunion studieren, den Sowjetmenschen kennen lernen, einen kleinen Beitrag zum Auf- und Ausbau des Sozialismus leisten, und, nebenbei, Russisch im Land sprechen und verstehen lernen. Ob Ohlsen wirklich Ohlsen hieß oder ob Ohlsen ein Deckname war, erfuhr Holger nie.
Warum hätte er solch einem Angebot widerstehen sollen? 1968, als sein Schwiegervater, Studiendirektor Evessen, Wind davon bekam, dass sich Holger unter die Bürger schreckenden Kommunarden gemischt hatte. Ihm damit drohte, die Finanzierung seines Studium einzustellen. Und dann noch Sonjas Hin- und Hergerissen-Sein zwischen braver Bürgerlichkeit und sozialistischer Schwärmerei. Schwangerschaft und Mutterschaftsurlaub hatten zudem den Abschluss ihres Referendariats hinausgezögert. Und damit ihre Möglichkeit, für Holgers Studienkosten aufzukommen.
Seinem Schwiegervater, Studiendirektor Evessen, teilte er vor Beginn des Sommersemesters 1969 mit, er habe ein Stipendium für Slawistik erhalten und werde deshalb jetzt Russisch studieren. 1970 erfuhr er über die Vermittlung Ohlsens die Adresse Igor Pawlewskis, eines untergeordneten KGB-Mitarbeiters, der ihn nicht nur in die Geheimnisse der Bortsch-Zubereitung einweihte, unvergorene Rote Bete, Zwiebeln, Weißkohl, Karotten, Kartoffeln, Tomaten und Rindfleisch, sechs, sieben Stunden oder länger köcheln lassen, bis ein hölzerner Löffel im Suppentopf stehen bleibt, sondern ihm auch die erste Observationsaufgabe stellte - den Republik-Flüchtling Heiner Streibing zu beschatten. Holger wusste bis auf den heutigen Tag nicht, warum er einen kleinen Fisch wie Streibing beschatten sollte, nun gut, er war aus der Deutschen Demokratischen Republik geflohen, was eh schon ein schweres Delikt war, und die Stasi konnte nie wissen, ob sich solch kleine Fische im kapitalistischen Meer nicht in Haie verwandelten. Was man von Streibing nicht sagen konnte. Zumindest waren seine, Holgers, Observation ziemlich ergebnislos verlaufen, was natürlich auch damit zusammenhängen konnte, dass er in diesem Metier so gut wie keine Erfahrung hatte.

Igor schrieb, dieses Jahr könne er Holger leider nicht nach Leningrad einladen , seine dicke, gute Olga sei auf der Steintreppe ihrer Wohnung am Newski-Prospekt gestürzt, sie sei geplumpst wie ein Mehlsack, nur war in Olgas Innerem kein Mehl, sondern - neben viel Fleisch- auch Knochen, Sehnen, die beim Aufprall am Fuß der Treppe in Unordnung geraten seien, was sage er, in Unordnung, das rechte Schienbein sei gebrochen, das rechte Schlüsselbein ebenfalls. Das sei vor knapp einem Monat passiert, aber Olga läge immer noch, teilweise eingegipst, im Spital. Bis sie nach Hause käme, könnten noch Monate vergehen. Und selbst dann müssten sie alle, Leo, Tanja und auch Olga noch eine Weile, wie lange wisse niemand, von MitarbeiterInnen des zuständigen Kollektivs versorgt werden. Deshalb wäre es wohl das Beste, wenn Holger seinen Besuch auf das nächste Frühjahr verschieben würde. Dann, in Geheimschrift, noch die Frage, ob er irgendetwas Neues über den aus der DDR geflohenen Daniel Schlesinger habe in Erfahrung bringen können. Daniel Schlesinger wohne mittlerweile in einer Hochhaussiedlung in Hamburg Billstedt und unterhalte das sozialistische Vaterland gefährdende Kontakte zu Israel, dem zionistisch-imperialistischen Klassenfeind, möglicherweise sogar Kontakte zum Mossad.
Die arme Olga, sie tut Holger ja leid, Igor, Leo und Tanja tun ihm auch leid, obgleich, wenn er es recht bedenkt, tut er sich selbst am meisten leid, weil er in diesem Jahr auf einen Urlaub in Leningrad verzichten muss. Natürlich weiß er, wo Daniel Schlesinger wohnt, ganz in der Nähe von Mutti, in der Großsiedlung Mümmelmannsberg, in der Kadinskyalle Nr. 4, Hochhaus 8. Stock. Aber unter diesen Umständen wird er sich Zeit lassen, hinter Schlesinger her zu schnüffeln. Er wird sich noch mehr Zeit lassen, Igor über seine Erkenntnisse zu informieren. Die Chiffrierung der Information ist eh eine Denksportaufgabe, auf die er jetzt verzichten kann.
Er geht in die Küche, er braucht eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee, mal sehen, ob es in irgendeiner Dose noch Teegebäck gibt, hoffentlich nicht allzu trocken und krümelig, ja, in der braunen Dose sind doch noch einige bleiche, weiche Waffeln, die er sich in den Mund schiebt. Beim nächsten Aldi-Einkauf wird er ein paar Tüten Knabberkram kaufen.
Er reißt den Briefumschlag auf, in dem die Antwort auf das Inserat steckt: Ganz nette, belanglose Zeilen, die ihn eh nicht sonderlich interessieren im Gegensatz zur Fotografie. Nettes Gesicht, hübsche Haare, aber der Kopf etwas zu groß – zumindest für eine kleine, zierliche Person, die sie zu sein vorgibt.
Soll er antworten? Soll er nicht antworten? Warum nicht? Er hat ja augenblicklich keine Freundin, und irgendeine zum Bumsen braucht er ja schließlich, wenn er nicht auf die Reeperbahn gehen will, was ab und zu auch nicht zu verachten ist, aber schließlich ins Geld geht.
Also schreibt er. An Agnes Eggert. Möckelsbach. Wo, um alles in der Welt, befindet sich Möckelsbach? Er schaut im Atlas nach. Irgendwo in Deutsch-Südwestafrika. Oder doch nur in Baden-Württemberg. Welche größere Stadt war in der Nähe? Heilbronn. Kannte er nur dem Namen nach. Na ja, er konnte ja vorschlagen, sich am Bahnhof Heilbronn zu treffen. Obwohl…Diese Agnes Eggert konnte ja auch ein Stückchen zum gemeinsamen tête à tête fahren, wenn er die weite Fahrt von Hamburg auf sich nahm. Wäre Heidelberg nicht doch ein reizvollerer Treffpunkt? Oder vielleicht Würzburg? Ja, Würzburg – das wäre das Richtige. Er hatte sich schon lange vorgenommen, Würzburg zu besichtigen. Ein Kollege hatte dort die ganzen Osterferien verbracht und war von dem mittelalterlichen Stadtkern, der Festung Marienberg, der malerischen Landschaft mit den vielen Rebhängen begeistert.

Anfang Juli 1978, an einem Montag, er wollte nicht in den Wochenendverkehr kommen, fuhr Holger die 600 km von Hamburg nach Würzburg. Die erste Woche der Sommerferien lag bereits hinter ihm, er selbst hatte am Morgen, schon früh gegen 6 Uhr, seinen einzigen Anzug, den hellgrauen Leinen-Anzug, und eins der wenigen sauberen, weißen Hemden angezogen. Immer wieder im großen Stand-Spiegel des Schlafzimmers sein Erscheinungsbild überprüft. Gut sah er aus, sehr gut, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, das Gesicht eine Melange aus Markantem und Zartem, eingerahmt von braunem Haar-Gekräusel, ja, er war eben immer noch, das ließ sich nicht leugnen, ein Beau, und er empfand es als ausgeklügelte Bosheit des Schicksals, dass er eine weite Fahrt zu einer Heiratsannoncen-Bekanntschaft auf sich nehmen musste. An einer Autobahnraststätte machte er Halt, kaufte „Die Zeit“. Er hatte mit Agnes Eggert vereinbart, dass jeder „Die Zeit“ als Erkennungszeichen in der Hand halten sollte. Wie die zwei Frauen hinter der Theke mit ihm äugelten, die eine, die jüngere konnte man wenigstens anschauen, wenn sie auch für seinen Geschmack zu üppig im Fleisch war, die andere, die Jahresringe um den Hals trug, fand er jedes Blickes unwürdig.
Vier Stunden später stand er auf Bahnsteig 7 am Hauptbahnhof Würzburg. War das Agnes Eggert? Die Kleine in dem hellen, mit Bordüren bestickten Kleid? Mit den kurzen Bernstein-Haaren? Das musste sie sein, „Die Zeit“ in der kleinen Hand. Na ja, sie konnte sich sehen lassen, man konnte sich mit ihr sehen lassen, wenn auch der schön geformte Kopf ein klein wenig zu groß auf dem zierlichen Körper saß.
Jetzt hat auch sie ihn entdeckt, ihre Augen, dunkelbraun mit grünen Einsprengseln, flirren, flirten, nein, sie flirten nicht, sie blicken reglos, er hat sie schon festgebannt.
Er geht auf sie zu, stellt sich vor, nein, erst fragt er lächelnd, er spinnt sein Lächeln über ihre Bernsteinhaare, sie sind doch sicher Agnes Eggert, und wartet, bis sich ihr Gebanntsein in einem weiten, glücklichen Lachen auflöst, ja, sie sei Agnes Eggert, er ist ihr Prinz, ihr Märchenprinz, auf den sie die ganze lange Zeit in Möckelsbach und anderswo gewartet hat, das sagt sie nicht, aber das kann er in ihrem Gesicht lesen. Jetzt legt er ihr sein charmantestes Lächeln zu Füßen. Wann sie heute Morgen weggefahren sei? Um 10.05? Er sei schon seit 6 Uhr unterwegs und jetzt sei es doch fast 13 Uhr. Ob sie nicht hier im Bahnhofsrestaurant zu Mittag essen wollten? Jetzt nicht überrumpeln, bloß nicht gleich die gemeinsame Fahrt in seinem Knautschkäfer zu einer der Weinstuben in der Altstadt vorschlagen. Sie ist sogleich einverstanden, sie biegt den Kopf kokett zur Seite. Sie lächelt zu ihm auf.
Während sie auf ihre Menüs warten, sie hat Forelle Müllerin und Petersilienkartoffeln bestellt, Holger, der als waschechter Hamburger Fischspezialitäten in und auswendig kennt, hat sich für Rinderschmorbraten, Rotkraut und Kartoffelkroketten entschieden, fragt er, ob sie schon wisse, wo sie ihre Assessoren-Zeit verbringen wird. Nein, das stehe noch nicht fest, sie habe sich in zwei Bundesländern beworben, in Schleswig-Holstein, in Niedersachsen, man habe ihr in Baden-Württemberg nur einen Dreiviertel-Vertrag im Angestelltenverhältnis angeboten, weil ihr Notendurchschnitt nicht gut genug gewesen sei, nur 2,2, nicht 1,8. Er braucht kaum etwas zu sagen, die Wörter purzeln aus ihrem Mund, unkontrolliert schlagen sie Purzelbäume, sie kennt sich wirklich nicht aus, nicht mit Menschen und schon gar nicht mit Männern. Er beobachtet, wie das Sonnenlicht ihre Bernsteinhaare aufflammen lässt, ihre sehr helle Haut mit den braunen Tupfern wird durchsichtig, so durchsichtig wie sie selbst, doch sie gefällt ihm, wie eine gebratene Taube, die einem in den Mund fliegt. Oder waren es im Schlaraffenland die gebratenen Gänse, die einem wohl nicht in den Mund, aber vor die Füße flogen?
Nach dem Essen, nein, sie solle um keinen Preis ihr Menü selbst zahlen, er verlangt vom dienstbeflissenen Kellner die Rechnung für beide, zusammen, ja, er geht ganz in seiner Rolle als generöser Gentleman auf, legt er beschützend den Arm um ihre Schultern, und sie weicht nicht zurück, sie rückt sogar näher an ihn heran, das Netz, sein Fangnetz hängt nicht nur über ihrem Kopf, sondern reicht schon bis zu den Schultern, vielleicht noch weiter…Ob sie nicht zusammen in seinem Auto zur fürstbischöflichen Residenz fahren wollten? Ja, ob sie sich in Würzburg auskenne, aber wenn nicht, sei das auch nicht wichtig, er habe sich einen Falk-Stadtplan besorgt. Doch, sie kenne sich hier aus, wenigstens ein bisschen, einer ihrer Onkel wohne hier. In seinem Knautschkäfer erklärt sie ihm den Weg, erst Kaiserplatz, dann links Haugerring bis zum Berliner Platz , dann Martin-Luther-Straße, rechts in den Rennweg, dann links in die Balthasar Neumann-Promenade.
Das Schloss mit dem gewaltigen Treppenhaus, über das sich eine gewaltige Decke wölbt. Ob sie ihn jetzt mit illustren Namen bewirft? Byss und Johann Zwick . Van der Auwera und Wagner, Tillmann Riemenschneider? Er hat sich vor seiner Fahrt im Baedecker kundig gemacht, um einer bildungsmäßigen Blamage vorzubeugen. Die Lehrerinnen-Attitüde bleibt aus, sie sagt nicht viel, sie scheint ins Schauen versunken, festgebannt, nur von den Freskengemälden, den Stuckarbeiten im Weißen Saal? Er greift nach ihr Hand, der kleinen Puppenhand, er will wieder sein Fangnetz über sie werfen, er zieht sie an sich und sie lässt sich ziehen. Halb zog er sie, halb sank sie hin. Aber auch nur halb. Sie weiß die Form zu wahren, zumindest bis jetzt. Nach dem Altstadtbummel suchen sie sich eine Übernachtungsmöglichkeit in einem einfachen Gasthaus. Sie könne „Die Altstadtperle“ empfehlen, sagt sie, nachdem sie die Hofstraße entlang gegangen sind, vorbei an der Neumünster Kirche, dann die Schönbornstraße zur Augustinerkirche, in dessen hohes, dunkles Kirchenschiff sie nur einen Blick geworfen haben, die unzähligen Kirchen, wo kämen sie hin, wenn sie die alle besichtigen wollten. Holger möchte sich lieber im Sonnenschein bewegen, die verwinkelten Gassen und breiten Straßen der geschichtsträchtigen Weinmetropole und ehemaligen fürstbischöflichen Residenzstadt und die kleine Frau an seiner Seite erkunden. Ob sie schon in der Altstadtperle übernachtet habe, fragt er, und lässt seine Finger über ihren nackten Arm wandern, er will ihr Fleisch ertasten und nicht nur ihr Fleisch. Während der Semesterferien habe sie mehrmals ein paar Tage mit einem Studienfreund dort verbracht. Also ist sie doch nicht solch ein stilles, verborgenes Veilchen, das bisher im Verborgenen blühte. Vielleicht eine ganz raffinierte, eine, die die Unschuld vom Lande mimt, obgleich sie tatsächlich mit allen Wassern gewaschen ist. Sie lassen zwei Einzelzimmer in der „Altstadtperle“ für drei Tage reservieren, die Zimmer sind niedrig, muffig sind sie auch, wie Bauernstuben sehen sie aus mit ihren Holzbetten, der rotkarierten Bettwäsche, den dunklen Holzschränken, Holzdecken und Holzböden, aber sie sind preiswert, und das gibt für Holger den Ausschlag, denn er wird womöglich für sie beide zahlen müssen.
Sie bleiben fünf Tage in Würzburg, gehen Arm in Arm über die Alte Mainbrücke zur Festung Marienberg, die Art, wie sie ihm verliebte Blicke zuwirft, seine Komplimente aufsaugt wie ein Schwamm, scheint ihn in seiner Annahme zu bestätigen, dass er Anker geworfen hat. Was ihr Onkel beruflich mache? Er sei mittelständiger Unternehmer. Was er denn produziere? Zelten und Plänen. Und ihr Vater? Der habe bis zu seiner Pensionierung als Richter in einer Kreisstadt gearbeitet.
Bevor sie gemeinsam nach Möckelsbach fahren, weiß er schon eine ganze Menge über sie, aber sie weiß so gut wie nichts über ihn, kaum mehr als das, was er in seiner Antwort auf ihre Annonce geschrieben hat.
Möckelsbach. Eine Ansammlung weiß getünchter, engbrüstiger Häuser mit roten Ziegeldächern, die sich um eine Sandsteinkirche scharen. Ein idyllische Einöde, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, wo sich die Fenster nach Innen öffnen. Wo den Veilchen nichts anderes übrig bleibt als im Verborgenen zu blühen.
Agnes bewohnt ein möbliertes Zimmer im Souterrain eines Einfamilienhauses, wenigstens mit separatem Eingang, ein Keller-Klosett ist vorhanden, allerdings außerhalb des Zimmers in einem Kabäuschen, eine Dusche existiert nicht. Wenn sie nicht über Land fahren, zur Burg Götz von Berlichingens, nach Bad Friedrichshall, nach Heidelberg zur Besichtigung der Altstadt, der Schlossruine mitsamt dem Weinfass Perkeos´, nach Bad Mergentheim, zum Schillermuseum nach Marbach, bestaunt er ihre Körperhaut, weiß wie Schnee, zum schneeblind werden, oder sie verzahnen sich auf ihrem Einzelbett. Eine Woche bleibt er bei ihr in Möckelsbach, dann sagt er ihr, er müsse zurück nach Hamburg, warum, sagt er nicht. Sie vereinbaren, regelmäßig zu telefonieren, bis sie genau wisse, in welchem Bundesland, an welchem Ort und an welcher Schule sie ihre erste Planstelle antreten wird.
Zurück in Hamburg greift Holger Iwans Auftrag auf, wenn auch nur halbherzig. Er fragt Hausmeister Fienske über Daniel Schlesinger aus. In welchem Stockwerk der wohne. Im fünften, in einem Einzimmerappartement. Wo der arbeite, wenn er überhaupt arbeite. Was man so arbeiten nenne, Schlesinger sei Student. Was er studiere, wisse er nicht, aber das könne er für Holger herausfinden. Ob der ein Einzelgänger, ein Einsiedler sei oder ob er häufig Besuch empfange. Doch, Schlesinger bekomme Besuch, nicht sehr häufig, meistens von Männern, die ihm ähnlich sähen. Pechschwarze, lockige Haare, volle Lippen. Ab und zu besuche ihn auch ein junges Mädchen, ob das seine Freundin sei, wisse er nicht. Als ihm Holger einen Hundert Markschein beim Abschied zusteckt, schuppt die Trägheit von Fienske ab. Er werde allen Fragen nachgehen, versichert dieser eifrig.
Holger zieht zufrieden ab, er kann sich jetzt Wichtigerem zuwenden, nämlich möglichst viel über Bernd Petersen in Erfahrung zu bringen. Deshalb ruft er gleich Sonja an, ob er nicht an den nächsten Tagen Thorsten abholen könne – er wolle mit ihm zu Hagenbeck, die Löwen, Tiger, Flamingos hinter ihren unsichtbaren Zäunen hätten es ihrem Sohn angetan…Nein, das gehe nun gar nicht, sie werde übermorgen schon mit Thorsten und einem Freund für drei Wochen nach Monaco fahren. Wenn er Thorsten unbedingt vorher sehen wolle, solle er am besten gleich heute Abend, sagen wir gegen 18 Uhr, kommen.
Da ist es immerhin heraus, die Sache mit dem Freund, aber er wird vorsichtig sein müssen, ihr bloß keine Fragen stellen, die zu neugierig wirken. Sonja ist nicht vertrauensselig wie Agnes.
Sonja ist dieses Mal ungewöhnlich heiter, beschwingt, oder ist sie ein bisschen beschwipst? Sie bittet ihn sogar, in die Wohnung zu kommen, lädt ihn zu einer Tasse Tee ein, während sie auf den noch draußen spielenden Thorsten warten. Sie verrät ihm sogar, wer in ihrer Abwesenheit nach der Wohnung schaut, die Blumen gießt, den Briefkasten leert. Marion Gutke, ob er sich noch an sie erinnere? Eine frühere Kollegin, mit der sie jetzt befreundet sei. Die ganz in der Nähe wohne. Ob er denn fragen dürfe, wo genau, in welcher Straße? Sonja lacht, bis ihr Vogelkopf zu wackeln anfängt, ob er vielleicht mit der anbändeln wolle? Da müsse sie ihn enttäuschen, die sei immer noch glücklich verheiratet. Und deshalb könne er auch getrost deren Adresse wissen, nicht weit von hier, im Bötelkamp. Endlich kommt Thorsten zur Tür hereingestürmt, stürmt auf seinen Papa zu, umarmt ihn stürmisch, und auch Holger will ihn nicht mehr loslassen, ihn nicht mehr freigeben und muss sich doch gleich von ihm verabschieden. Wenigstens für drei Wochen.
Auf dem Rückweg möchte sich Holger wie Rumpelstilzchen vor Ärger in Stücke reißen: Warum hat er nicht ein paar winzigen Mikrophone mitgebracht? Die so leicht hinter Bücherregalen, an Steckdosen, hinter Kommoden etc. anzubringen sind? Als Sonja in der Küche den Tee kochte, wäre genug Zeit gewesen…
Aber wie hätte er auch ahnen können, dass sie ihn nicht, wie meistens, schon an der Tür abfertigte.
Holger fährt jeden Tag zum Bötelkamp. Er beobachtet das Haus Nr. 12, in dem Gutkes wohnen. Er sieht Marion aus der Tür treten, allein oder mit ihrem Mann, er sieht beide in ihrem Garten sitzen, auch manchmal dort arbeiten. Endlich, in der zweiten Woche, scheint sie, Marion, verreist zu sein. Wann soll er es wagen, wenn nicht jetzt? Er fragt den verdutzten Herrn Gutke, ob er ihn noch kenne, er sei Holger Kopke, der Ex-Mann von Sonja Evessen, der Freundin seiner Frau. Gutke kramt in seinem Hirnkasten, endlich kramt er eine vergilbte Karteikarte hervor. Wie lange das schon her sei, dass man sich zum letzten Mal gesehen habe, acht Jahre mindestens. Seine Frau sei leider verreist, nur für ein paar Tage zu einer Cousine ins Alte Land. Womit er Herrn Kopke dienen könne? Und dieser wirft ihm einen Zipfel seines Lügenteppichs zu. Er habe anscheinend seine Scheckkarte in der Wohnung seiner Ex liegen lassen. Warum denn das? Wozu habe er dort eine Scheckkarte gebraucht? Holger sieht, wie sich Gutkes Augen zusammenziehen. Misstrauische Spähschlitze sind auf ihn gerichtet.
Eine geringfügige Beteiligung an den Urlaubskosten für Thorsten. Holgers Lächeln spannt eine unsichtbare Brücke zu Gutke, der mit einem Mal ganz leutselig wird, Holger herein bittet, Kommen Sie doch herein in die Gute Stube, ja, da brauche er sich in Zukunft keine Gedanken mehr wegen Unterhaltskosten für Thorsten zu machen, ob er nicht wisse, dass seine Ex einen neuen Freund habe? Herrn Petersen? Stararchitekt und entsprechend schwer reich. Petersen leite das Großbauprojekt des Medica Privatkrankenhauses für Innere Medizin, ein Millionengeschäft. Was, er habe noch nichts von diesem Großbauprojekt gehört? Direkt in Rotherbaum? Eine pompöse Villa besitze Petersen auch. In Winterhude, soweit er sich erinnere in der Buchenstraße. Die Informationen regnen auf Holger herab, er braucht sie nur wie Sterntaler einzusammeln.
Schließlich fahren sie gemeinsam zum Lohkoppelweg. Während Gutke das Wohnzimmer lüftet und die Blumen gießt, versteckt Holger Wanzen. Eine im Schlafzimmer in unmittelbarer Nähe der Bettkästen. Dann eine im Flur hinter der Kommode. Nein, er habe die Scheckkarte nicht finden können, erklärt er Gutke, als der den Flur durchquert. Vielleicht habe er sie im Wohnzimmer liegen lassen, er solle sich nur Zeit lassen, alles gründlich durchsuchen, rät dieser, er müsse eh noch Schlafzimmer, Kinderzimmer und Küche lüften. Auf der Rückfahrt zum Bötelkamp lässt sich Holger von Gutke wegen der nicht auffindbaren Scheckkarte bemitleiden. „Sie müssen sofort den Verlust Ihrer Bank melden“, rät dieser und verspricht Stillschweigen, als Holger ihn bittet, Sonja und Marion nichts von der vergeblichen Suchaktion zu erzählen, Frauen, insbesondere Ex-Frauen, seien doch manchmal so heikel, wenn Sonja erführe, dass er, Holger, in ihrer Abwesenheit ihre Wohnung betreten habe, sei der Teufel los und auf den könne er bei den zur erwartenden Scherereien in puncto Scheckkarte verzichten.
Holger fährt nun fast jeden Tag zur Baustelle. Er kommt mit Arbeitern ins Gespräch. Die sich erst scheu umschauen, bevor sie ihm einiges anvertrauen. Ja, sie schwarz arbeiten. Viele hier schwarz arbeiten. Aber froh, das überhaupt arbeiten. Von Schwarzarbeit profitiert jedoch nicht der Architekt, sondern der kleine oder größere Handwerksbetrieb, auch der Subunternehmer. Einmal trifft er auf einen, der nicht viel arbeitet, sondern Anweisungen gibt. Ist er ein Vorarbeiter, ein Maurer-, ein Tischlermeister? Schnell hat Holger sein Charmelasso ausgeworfen, der Mann hängt im Lasso fest, das Holger nicht mehr los lässt. Ein phantastisches Areal, eine kühne Konstruktion, wer denn der Bauleiter sei, wer der Architekt? Herr Petersen? Da seien wohl Millionen im Spiel? Ob Herr? …Knaufke…Ob Herr Knaufke Herrn Petersen selbst kenne? Nicht wirklich, aber er habe ihn schon ein paar Mal hier auf der Baustelle gesehen, auch mit ihm gesprochen. Was für ein Typ der sei? Man höre so einiges. Ein schwerreicher Pinkel solle er sein. Aber doch auch ein begabter, origineller Architekt. Holger tut so, als verteidige er Sonjas Freund. Petersen verstehe schon sein Handwerk, aber ansonsten halte er, Knaufke, ihn für einen windigen Hund…Na ja, Segelyacht in Monaco und dort sicher nicht nur Segelyacht… jedes Jahr einen neuen Bentley. Und immer neue Weibergeschichten, viermal sei der Kerl schon geschieden…Neuerdings gebe er sich bescheiden, er solle angeblich eine Lehrerin als Freundin haben. Eine Studienrätin…Knaufke fängt schmierig an zu lachen, mit Holger lacht er über diesen und alle anderen feinen, reichen Pinkel und doofe Studienrätinnen. Warum er sich für Petersen interessiere, will Knaufke noch wissen, bevor sich Holger trollt. Nur eben so…aus Neugierde, aus Langeweile…

Dann rief Agnes an. Sie werde am Schuljahresbeginn, der sei in Niedersachsen dieses Jahr Anfang September, eine Studienassessoren-Stelle in Hannover antreten. An einer Akademie, einem Institut des zweiten Bildungswegs, an dem junge Erwachsene in drei Jahren das Abitur nachmachen könnten.
Es blieben noch zwei Wochen Ferien für Holger, drei Wochen für Agnes, genug Zeit, um gemeinsam in Hannover auf Wohnungssuche zu gehen. Er umsorgte sie, klapperte mit ihr die diversen Wohnungsangebote ab. Präsentierte sich als ihr Verlobter, obgleich sie sich erst einen Monat kannten, er schmeichelte ihr, nannte sie „mein Eichhörnchen“, mein Bernsteinpüppchen. verhandelte mit den Wohnungseigentümern, den Hausmeistern. Ob sie wirklich die Zweizimmerwohnung in der Böhmerstraße nehmen wolle? Sie sei wohl gut geschnitten, doch ziemlich weit von der Sapientia-Akademie entfernt. Wie es mit der Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel stehe? Bis zur nächsten U-Bahnstation seien es ca. zehn Gehminuten. Ob Frau Eggert nun die Wohnung nehmen wolle oder nicht. Er habe noch genug andere Interessenten, schnarrte der Vermieter.
Ob sie sich das wirklich jeden Tag zwei Mal oder auch öfter zumuten wolle – eine halbe Stunde für den Hin-, eine halbe Stunde für den Rückweg. Zumindest solange sie noch kein eigenes Auto habe. Schließlich mietete sie eine Einzimmerwohnung in einem Hochhaus direkt gegenüber dem Bahnhof. In unmittelbarer Nähe befand sich eine Bushaltestelle, von der aus sie jeden Morgen in wenigen Minuten zu ihrer neuen Schule fahren konnte. Die restlichen Ferientage verbrachten beide in Holgers Wohnung in Hamburg Volksdorf.
Als sie ins Wohnzimmer gehen, bemerkt er, dass ein silbriges Gespinst aus hauchdünnen Fäden alle vier Ecken des Wohnzimmers überzieht. Er unterlässt dieses Mal den Kampf mit dem Besenstiel gegen die sich immer erneuernden Produkte der allgegenwärtigen Spinne. Oder war es ein Spinnengeschwader, das vom Garten in seine Parterrewohnung eindrang? Agnes hat nur Augen und Ohren für Holger, der sie aus ihrem bescheidenen Veilchenschlaf wach geküsst hat, dem sie vertraut, sich anvertrauen möchte, weil sie ihn sich gar nicht anders als ihres Vertrauens würdig denken kann. Aus ihren dunklen Augen mit den grünen Einsprengseln quillt unaufhörlich Bewunderung zu ihm. Er braucht sie nicht mehr zu zähmen, für ihn ist sie schon längst handzahm.
Immer wieder posiert er nackt mit ihr vor dem großen Standspiegel im Schlafzimmer, fährt mit den Fingerspitzen über ihre helle Haut. Einmal fährt er mit ihr nach Pöseldorf, um sie à dernier crie einzukleiden. Ein anderes Mal fährt er mit ihr zum Fotografien, um mit ihr vor der Kamera als Paar zu posieren. Er kauft zwei glatte Silberringe, die er ihre Verlobungsringe nennt. Bei einem Glas Wein und Hummersalat in einem Restaurant am Hamburger Fischmarkt streift er sich den einen, den anderen ihr über den Ringfinger.
Vor Unterrichtsbeginn besucht er seine Ex. Wieder bittet Sonja ihn ins Wohnzimmer. Ihre Haut ist bronziert, die Haare voller, frisch blondiert. Nein, Thorsten sei nicht da, er sei bei einem Schulfreund, sie machten gemeinsam Hausaufgaben. Natürlich könne er das Wochenende bei Holger verbringen. Ob Holger eine Tasse Kaffee wolle? Oder lieber Tee? Sie strahlt aus allen Poren. Wie es denn in Monaco gewesen sei? Ja, gegen eine Tasse Kaffee sei nichts einzuwenden. Holger bleibt cool, soll sie in ihrem fremden Liebesglück um ihn herum scharwenzeln, ihn bedienen. Während seine Ex in der Küche hantiert, entwanzt er in Windeseile das Wohnzimmer. Er hört die Kaffeemaschine gurgeln, röcheln, atmet das würzige, aus der Küche strömende Aroma ein. Die Wanzen sicher in seinen Hosentaschen versteckt, eilt er in die Küche, er ist wieder ganz Holger, der Holde, er nimmt Sonja das Tablett mit der Kaffeekanne, den Kuchentellern und Tassen und den Resten eines Pflaumenkuchens ab, balanciert es in Wohnzimmer. Sonja deckt den Tisch, schenkt ihm und sich ein, ob er ein oder zwei Kuchenstücke wolle, nur eines, sagt Holger, als Sportlehrer müsse rank und schlank bleiben.
Er könne sich gar nicht vorstellen, wie bezaubernd die Urlaubstage in ihrer schwimmenden Ferienwohnung gewesen seien. Sie scheint wirklich immer noch verzaubert, wenn sie an Holger vorbei aus dem Wohnzimmerfenster schaut, obgleich es draußen außer Straße und Autos nicht viel zu sehen gibt. Vielleicht glaubt sie, wieder die Segelyacht zu sehen, von der sie jetzt schwärmt: Ein Traum aus Chrom, Stahl, Glas, lackiertem Erlenholz und beigem Nappaleder sei das gewesen. Und natürlich weißem Vor- und Rollsegel. Mit fester Anlegestelle am Port Hercule, eingerahmt vom Stadtviertel La Condamine. „Dein Bernd muss ja ein Krösus sein,“ wirft Holger ein, ohne seinen liebenswürdig-lächelnden Gesichtsausdruck zu verändern. „Du bist doch nicht neidisch,“ sagt Sonja, obwohl sie sich denken kann, dass er neidisch ist. Jetzt erst merkt sie, wie dumm es von ihr wär, vor ihm in ihrem Urlaubsglück zu schwelgen. „Bernd hat die Yacht nur für drei Wochen gemietet, sie gehört ihm nicht“, beschwichtigt sie. Und Holger weiß, dass sie nicht weiß, dass er weiß, dass sie lügt. „Auf dem Sonnendeck liegen. Wie in einer unsichtbaren über das Mittelmeer gespannten Hängematte und sich bei Wellengang schaukeln zu lassen, ist für mich das non plus ultra des dolce vita. Auch auf der schlichtesten Segelyacht.“ – Mein Gott, jetzt wird sie auch noch poetisch, wie peinlich, denkt Holger und lächelt standhaft weiter. Was denn Thorsten die ganze Zeit getrieben habe, will er noch wissen. Den habe es immer wieder zum Ruderrad, zum Navigationstisch getrieben, um sich von Bernd in die Geheimnisse des Segelns einweihen zu lassen. Mit denen er sie dann auf Deck traktiert habe. Segelkleid, Sprayhood, Schoten, Segeltrimm, Reling, Echolot…Ein paar Mal habe er auch Bernd beim Segeln Richtung Cote d´Azur assistieren dürfen. Nicht weit, nur ein paar Meilen. Er sei ganz aus dem Häuschen gewesen.
Der kurzen weiblichen Harnröhre sei Dank muss Sonja bald ihre Erzählung unterbrechen. Sie müsse eben auf die Toilette, sie sei gleich wieder da, sagt sie, und Holger sagt sich, hoffentlich nicht schneller, als ich Schlafzimmer und Flur entwanzen kann. Mit noch drei weiteren Tierchen in den Taschen steht er bereits im Flur, als sie aus der Toilette kommt. Er müsse unbedingt gehen, er wolle sich mit einem Kollegen in einer Stunde im Alsterpavillon treffen. Mit einem Kollegen? zwinkert ihm Sonja zu.
Unmittelbar nach der Vereidigung als Studienassessorin trat Agnes ihre erste Stelle an der Sapientia-Akademie an. Ihr wurde gleich eine Klasse zugeschustert, in der der Klassenlehrer zuvor Selbstmord begangen hatte.
Als sie zum ersten Mal das Klassenzimmer betritt, schüchtern, wie man ihr später sagte, sie hätte forsch auftreten sollen, nicht mit zicke, zacke, aber doch so ähnlich, oder lässig-locker mit klappernder Klappe, sieht sie in hämisch grinsende Gesichter, die sie genüsslich mustern. Was will denn das Bernstein-Mäuschen, kaum älter als wir, hört Agnes den erwachsenen Schülerpulk denken. Die will uns etwas beibringen? Sie hört ihr Herz schlagen, es pocht bis zum Hals, als sie zum Pult geht, ein Pult ist es eigentlich nicht, sondern ein Tisch wie alle anderen Tische auch , nur separiert von den anderen, so dass sie, wenn sie sich in dieser exponierten Position befindet, sich einer Vielzahl von Schülern gegenüber sieht, eine bizarre Kommunikation vorgebend, in der scheinbare Gleichheit besteht, von ihr aber kraft ihrer Stellung als Lehrerin eine magische Dompteurleistung erwartet wird, mit der sie die zahlenmäßig so heillos überlegene Gruppe in Schach halten soll. Sie weiß, sie sollte lächeln, aber ihre Gesichtsmuskeln sind erstarrt, sie sollten sich doch erst einmal gegenseitig kennen lernen, sagt sie, so hat sie es im Referendariat gelernt, aber ihr Stimme klingt fremd, als ob sie in einen hohlen Trichter spräche. Die Studierenden der Akademie, so nennt man ihre Schüler, würden sich ja gegenseitig kennen, da könnten sie sich auch gegenseitig vorstellen, natürlich nicht nur unter Nennung des Namens, sondern auch mit Information zum bisherigen Beruf, zu Hobbies, späteren Berufswünschen. Das dringende Bedürfnis einiger, sie demonstrativ durch den Kakao zu ziehen, wird bald überlagert vom Bedürfnis der Selbstdarstellung. Wenigstens bei den meisten, wenn auch einige sie bis zum Unterrichtsschluss mit Augen und Ohren belauern. Sie hat sich während der Vorstellungsrunde eifrig Notizen gemacht, sie wird alle Namen bis zur nächsten Stunde auswendig lernen, einen Sitzplan erstellen. Sie sollen sich bis zum nächsten Mal Brechts Kalendergeschichten besorgen, sie schreibt die Ausgabe an die Tafel. Mit Brecht, zumal mit seinen Kalendergeschichten, hofft sie, kann selbst ein Greenhorn wie sie 1978 an der Sapientia-Akademie so viel nicht falsch machen.
In den nächsten Wochen, Monaten mühte sie sich ab, den vielfältigen Anforderungen an der neuen Schule zu genügen, als da waren nassforsches Auftreten und ein Mundwerk, das wie ein aufgezogener Spielautomat ununterbrochen lief. Was sie weder in Möckelsbach noch in Schneckheim, ihrem Heimatdorf, gelernt hatte. Was sie, wenn ein Sprecher der Jungsozialisten seine verbalen Kaskaden versprühte, auch immer wieder in große Verwirrung brachte. Zumindest irritierte. Umso minutiöser bereitete sie sich auf jede Stunde vor. Was ihr den Ruf einer fleißigen, aber wenig talentierten Lehramtskandidatin einbrachte.
Sie sehnte die Wochenenden mit Holger herbei. Er erfand immer neue Liebesspiele, liebkoste sie mit Händen und Worten. Fragt aber auch mal stirnrunzelnd, ob sie nicht ästhetischer essen könne. Oft hatte er kaum etwas Essbares zu Hause, wenn sie ihn besuchte. Meistens mussten sie dann gemeinsam in der Bahnhofshalle Hamburg-Altona einkaufen. Wo es besonders teuer war. Er hatte auch regelmäßig sein Portemonnaie vergessen, so dass sie alles auslegen musste. Da auch zu Hause sein Portemonnaie unauffindbar war, blieb sie auf den Kosten sitzen. Es schien ihn nicht im Geringsten zu stören, dass er als Studienrat mit seinen 37 Jahren wesentlich mehr verdiente als Agnes. Wenn sie ihn später ab und zu schüchtern an die noch zu zahlende Zeche erinnerte, wurde er richtig ungehalten. Wer würde denn ständig ans Geld denken! Das sei ja so etwas von bürgerlich, um nicht zu sagen kleinbürgerlich.






„Goldmäuschen, was ziehst du denn zum Deutschen Derby am Freitag an? Doch nicht schon wieder das cremefarbene Designerkleid, das du vor vierzehn Tagen beim John-Neumeier- Ballett in der Hamburger Staatsoper getragen hast.“ – Was meinst du denn, Berndibär?“ Holger hört Schritte, das Öffnen des Kleiderschranks, dann wieder Sonjas Stimme „Findest du das lachsfarbene Coco-Channel-Kostüm besser? – Ja, probier es doch mal an.“ Rascheln von Kleiderstoff. „Sieht umwerfen aus.“ Dann schmatzende Geräusche, Berndibär küsst sein Goldmäuschen und Holger möchte die Minikassette, die er gerade abhörte, am liebsten aus dem Fenster oder in den Mülleimer werfen, aber das darf er auf keinen Fall, er muss alle Spuren seiner heimlichen Observation verwischen.
Doch er gab nicht auf. Er ver- und entwanzte Sonjas Wohnung zwei weitere Male, allerdings ebenso erfolglos wie beim ersten Mal. Vor Heilig Abend brachte Holger Geschenke für Thorsten zu seiner Ex. Sie vereinbarten, dass er seinen Sohn in der zweiten Hälfte der Weihnachtsferien abholen würde. Sonja war wieder bester Laune und bat ihn herein. Es entging ihm nicht, dass sie einen Goldring am linken Finger trug. Als sie auf der Toilette verschwand, montierte Holger die Wanzen im Schlaf- und Wohnzimmer in Windeseile ab. Die im Flur schaffte er nicht mehr, aber das war auch nicht so wichtig.
Er wollte seinem Thörstelchen etwas bieten, nur eine Woche Skiurlaub, nicht in St. Moritz, nur im Sauerland, er hatte ihm schon im letzten Jahr Skier geschenkt, ihm auch schon Skiunterricht gegeben, nur Trockenübungen, aber immerhin. Er hatte ein Zweizimmer-Appartement in Winterberg gemietet, ganz in der Nähe des Kahlen Asten.
Gleich am ersten Abend in Winterberg, Thorsten hat rote Apfelbäckchen von wackeligen Fahrversuchen auf der körnigen Schneedecke, kehren sie in einem zünftigen Gasthaus ein, es ist immer noch mit Tannenzapfen und Tannenzweigen geschmückt, Holger bestellt für beide Schweinsrippchen, Sauerkraut und Kartoffelpüree, für sich einen Humpen Bier, für Thorsten Apfelschorle. Wie denn Weihnachten mit Mama und Bernd gewesen sei, was er geschenkt bekommen habe, fragt er. „Ein Pferd“? Und Reitstunden? – Das könne doch nicht sein, Reitstunden ja, aber schon ein richtiges Pferd, wo Thorsten doch noch gar nicht reiten könne. Doch, doch, ein….Wo es den eingestellt sei? Bernd habe einen eigenen Reitstall, da habe er sich eins aussuchen dürfen, da seien auch Boxen für jedes einzelne Pferd, im dazugehörenden Reiterhof bekäme er ab Januar auch Reitstunden.
Dieser Petersen, denkt Holger, dem ist doch jedes Mittel recht, um seinen Sohn kirre zu machen. Erst Segelunterricht auf der eigenen Segelyacht und jetzt das. Ja, wenn man Geld hat wie Heu, mit dem man nicht nur Pferde kaufen, sondern sie sogar füttern könnte, damit sie wieder Geld scheißen – mit oder ohne bricklebrick, dann ist alles möglich. Ist ja phantastisch, sagt er nur, und was hat Bernd denn Mama geschenkt? Und Thorsten strahlt über sein rotes Apfelbäckchengesicht: Eine Halskette mit ganz vielen Diamanten. Mama hat erst gesagt, die sei ja viel zu teuer wegen der vielen echten Diamanten, aber Bernd hat nur gelacht und gefragt, gefällt sie dir, für dich ist mir nichts zu teuer. Und als ihm Mama um den Hals fiel und immer wieder danke, danke, danke sagte, meinte er noch, sie solle auch Jentzsche danken, wenn der nicht mal wieder ein paar Millionen am Finanzamt vorbeigeschleust hätte…Holger möchte vor Freude einen Luftsprung machen, Kindermund tut Wahrheit kund, aber er sagt nur, das ist aber ein tolles Geschenk für Mama, so eine echte Brillanten-Kette. Und für dich auch, ein Pferd und Reitstunden. Das kann dir dein armer Papa nicht bieten. Und er hat richtig kalkuliert, Thorsten schmiegt sich sogleich an ihn, beteuert immer wieder, dass es keinen besseren Papa als ihn gebe.
An Silvester hockt Agnes allein im Wohnzimmer ihres Elternhauses, ihre betagten Eltern sind schon längst zu Bett gegangen. Sie wartet auf Holgers Anruf um Mitternacht, wenn draußen die Böllerschüsse knallen. Die Weihnachtstage und auch die folgenden hat sie hier wie in einem Schneckenhaus verbracht, umsorgt von Mama und Papa, auch wenn ihr so viel elterliche Fürsorge bald zu viel wurde, sie war schließlich kein kleines Kind, sie hatten sie auch mit Geldscheinen und Gutscheinen überhäuft, damit sie sich im nächsten Jahr einen eigenen Wagen anschaffen könnte, wenigstens einen gebrauchten. Und sie war ihnen dankbar, aber gleichzeitig sehnte sie sich danach, Schnepfach so schnell wie möglich wieder zu verlassen, nach Hamburg zu Holger zu fahren. Sich an ihn zu lehnen, sich ineinander schlingen, sich mit ihm zu verknoten. In immer neuen Liebesknoten, die Einsamkeit und Hilflosigkeit abwehren sollen. Für immer und ewig.
RRRRRrrr, Agnes nimmt den Telefonhörer ab, sie sitzt ja schon die ganze Zeit vor dem Apparat. „Mein Eichhörnchen, mein bernsteinfarbenes, ich küsse deine Pfötchen und wünsche dir Prosit Neujahr“, sagt Holger und ihr wird beim Klang seiner Stimme schwindlig. Sie wünscht ihm, ihnen beiden gemeinsam, ein wunderbares neues Jahr, in dem ihre Wünsche (wessen Wünsche? welche Wünsche) wahr werden. Sie habe schon die Fahrzeiten für den morgigen Zug nach Hamburg parat. Sie käme am Bahnhof Altona um 17 Uhr an. Auf Gleis…Aber er unterbricht sie. Leider würde nun doch nichts aus ihren gemeinsamen Urlaubstagen in Volksdorf, seine Mutter sei plötzlich erkrankt, er müsse sich um sich kümmern, sie habe doch sonst niemanden. Das ist wohl alles erstunken und erlogen, aber das kann Agnes nicht wissen und das ist für ihn erst einmal die Hauptsache. Schließlich hat er jetzt Wichtigeres zu tun als mit ihr herum zu turteln, er will jenen Jentzsche ausfindig machen, dann eine anonyme Mitteilung an das zuständige Finanzamt schicken, in der er auf Petersens Steuerhinterziehung hinweist. Oder lieber umgekehrt erst das Finanzamt informieren und dann auf Jentzsche-Suche gehen. Er kann natürlich nichts beweisen, aber er kann unverfänglich formulieren, es bestehe bei dem Architekten Bernd Petersen der dringende Verdacht der Steuerhinterziehung, wahrscheinlich über Konten in Monaco. Mit der Beweisführung sollen sich die Steuerfahnder beschäftigen. Am Allerwichtigsten wird es wohl sein, seinen wieder entdeckten Freund, den Chefredakteur Thomas Altendorf, über diesen pikanten Fall aufzuklären.
Agnes´ Stimme ist ganz dünn und hoch, als sie sich von Holger verabschiedet. Es kommt ihr vor, als breite sich Einöde in ihr aus, in der Gedanken und Gefühle verdorren. Eine sandige Ödnis, in der sie alleine ist. Sie möchte weinen, wie Alice in Wonderland in einem Teich aus Tränen schwimmen, aber die innere Ödnis lässt die Tränen vertrocknen, bevor sie entstehen. Bis Schuldgefühle in ihr sprießen. Wie kann sie nur so egoistisch sein, nur an ihre geplatzten Weihnachtstage-Träume mit Holger denken und nicht an Holgers kranke Mutti. Was für ein guter Sohn, was für ein guter Mensch er doch ist.
Thomas Altendorfs Mitteilung im Hamburger Abendblatt war unter der Sparte Regionales bereits Mitte Januar erschienen. Ein angesehener Hamburger Bürger, niemand geringeres als der bekannte Architekt Bernd Petersen, der das Großbauprojekt in Rotherbaum leite, stehe im Verdacht der Steuerhinterziehung in Millionenhöhe. Wenn sich der Verdacht erhärte, wäre dies ein Skandal ersten Ranges, da dem Staat und damit allen Bürgern der Freien und Hansestadt Hamburg Gelder für öffentliche Angelegenheiten vorenthalten worden seien. Natürlich gelte zunächst noch die Unschuldsvermutung, aber…
Und das Gift der wohlkalkulierten Rufschädigung begann bald zu wirken. Bereits Ende Februar gingen einige Freunde und Bekannte Sonjas zu ihr auf Distanz. Sie selbst hielt ihrem Bernd trotzig die Treue.
Agnes wunderte sich, dass Holger wohl immer von seinem Sohn schwärmte, sie ihn aber noch immer nicht gesehen hatte. Versteckte er ihn vor ihr? Oder versteckte er sie vor seinem Sohn? Immer, wenn sie ihm zu verstehen gab, wie gerne sie Thorsten kennen lernen würde, gab es irgendeinen Grund, warum dies jetzt gerade nicht möglich war.
Dafür lernte Agnes Holgers Nachbarin, die im ersten Stock wohnte, Ende Februar kennen. Auch sie war alleinstehend, vielleicht zwei Jahre älter als Holger, sah gepflegt und munter aus, plauschte ein wenig über den Garten, der vom Eigentümer nicht genug gepflegt werde, erzählte von ihrem Sohn, der Elektrotechnik studiere, sie ab und zu besuche oder sie ihn. Kaum war sie verschwunden, glaubte Holger sich bestätigt in seiner Annahme, sie spioniere hinter ihm her, läge auf der Lauer, um ihn zu umgarnen. Bei alleinstehenden Frauen mittleren Alters wisse man doch nie, was sie insgeheim im Schilde führten. Agnes fand die Frau offen und ehrlich, sagte es auch, aber Holger glaubte zu wissen, was er von Agnes´ Urteilen zu halten hatte. Auf ihre Frage, was die Frau arbeite, gab er ihr zu verstehen, dass sie von den Unterhaltszahlungen ihres geschiedenen Mannes lebe, also das reinste Schmarotzerdasein führe.
Als Holger Mitte März Thorsten fürs Wochenende abholen will, schnappt Sonja mit Worten nach ihm, noch bevor er Hallo oder wie geht’s sagen kann. Er könne gleich wieder abziehen, zischt sie, während ihr gerupfter Vogelkopf vorwärts ruckt. Thorsten bleibe dieses Wochenende bei ihr, so hätten sie es schon Anfang des Jahres ausgemacht. Ob er sich nicht daran erinnere. Und um ihm Kaffee oder Tee zu servieren, habe sie keine Zeit. Sie habe eh nicht so viel Zeit wie der ehrenwerte Herr Kopke dafür verwende, seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten zu stecken, schreit sie noch, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlägt.
Ist die für Petersen gestellte Falle zugeschnappt? Wenn ja, ahnt Sonja, wer ihren Berndibär in die Falle gelockt hat? Wahrscheinlich, aber selbst wenn sie ihm das Fallenstellen nachweisen könnte, hätten weder sie noch ihr Freund etwas gewonnen. Als er hinter dem Steuer sitzt, kann er das Lachen nicht mehr unterdrücken, es quillt aus ihm hervor, glucksend, gurgelnd, er muss sich am Lenkrad festkrallen, um die Spur halten zu können. Zu Hause liest er dann unter der Rubrik Regionales den langen Artikel voll moralischer Entrüstung, den Thomas Altendorf in der aktuellen Ausgabe des Hamburger Abendblatts lanciert hat. Jetzt liege der Fall des Stararchitekten Bernd Petersen, von dem bereits in der Ausgabe vom 17. Januar berichtet worden sei, bei der Staatsanwaltschaft. Wenn es sich bestätige, dass ein solch angesehener Bürger unserer Stadt Hamburg aus egoistischer Gier seine Mitbürger, vor allem die Ärmsten, um riesige Summen von Steuergeldern betrogen habe, wäre das ein handfester Skandal, ein nicht wieder gut zu machender Schaden. Thomas Altendorf war also als erster von dem anstehenden Gerichtsverfahren gegen Petersen in Kenntnis gesetzt worden, was bei den zahlreichen Informationskanälen, deren er sich bedienen konnte, auch nicht erstaunen könne.
Da er die Osterferien bei Igor verbringen würde, nahm Holger Daniel Schlesinger endlich wieder ins Visier. Hausmeister Fienske hatte ihm verraten, dass jener Philosophie studierte. Philosophie wie damals, als dieser noch in der DDR wohnte. Wenn er in philosophischen Höhen schwebte, waren von ihm kaum gegen den real existierenden Sozialismus gerichtete Umtriebe zu erwarten. Obgleich…Man konnte nie wissen. Vielleicht war er doch ein imperialistischer Zionist im philosophischen Schafspelz. Er, Holger, brauchte sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen.
In seinem Knautschkäfer folgte Holger Schlesingers Freunden in gebührenden Abstand, aber doch so, dass er sie nicht aus den Augen verlor. Es dauert nicht lange, dann konnte er mit hausmeisterlicher Hilfe deren Namen dingfest machen. Meistens jüdisch klingende Namen. Rosenbaum, Silberstein, Wasserstrahl…
Aber zu ihnen selbst oder gar zu Schlesinger Kontakt zu suchen, traute er sich nun doch nicht. Er begnügte sich damit, sie heimlich aus allen möglichen Perspektiven zu fotografieren. Immerhin könnte er dann die Fotos und das Wenige, was er über Daniel Schlesinger wusste, Igor Pawlewki in Leningrad direkt überbringen.
Das junge Mädchen, in dem Fienske Schlesingers Freundin vermutete, arbeitete als Kellnerin in einer heruntergekommenen Kneipe. Sie war voll des Lobes über den spendablen Doktor Daniel. Wenn all ihre Kunden so wären wie der…Und was er, Holger, überhaupt wolle…warum er sie über Daniel, dessen Nachnahmen wusste sie anscheinend nicht, ständig ausfrage…Ob er von der Kripo sei oder was…Da solle er sich mal andere Kerle vorknöpfen…
Holger wäre den Posten als IM, als inoffizieller Mitarbeiter, schon längst gerne losgeworden. Er musste unbedingt Igor seine Überforderung im Falle Schlesinger signalisieren, vielleicht gezielt ein, zwei Wochen vor dem Flug nach Leningrad eine Pulle Wein täglich konsumieren oder durch bewussten Schlafentzug seine physische Kondition so schwächen, dass die zuständigen Kader ihn selbst für Zuträger-Dienste ungeeignet fanden.

„Mein Eichhörnchen, ich vermisse dich, ich möchte immerzu dein rotbraunes Fell streicheln, auf dem Kopf und anderswo“, schreibt er Agnes auf der Rückseite der Postkarten mit Ansicht vom Schlossplatz, vom Mariinski Theater, vom Newski Prospekt, vom Peterhof, vom Bernsteinzimmer….Und Agnes, die auch die Osterferien allein verbringen muss, zehn Tage sind eh ausgefüllt mit der Korrektur von Klausuren und Unterrichtsplanung, saugt sich voll an den Liebesgrüßen aus Leningrad. Und wirklich, wenn er Olga zusieht, wie sie mit mächtigen Armen den Kessel voll Bortsch zum Tisch trägt, die Schöpfkelle tief in den sämigen Brei eintaucht, um reihum die tiefen Teller zu füllen, findet er die kleine Agnes weit weg in Hannover geradezu niedlich.
Aber er ist ja nicht wegen Olga in die Sowjetunion gereist, er hat Iwan über Daniel Schlesinger Rapport erteilt, auch die Negative besagter Fotografien pflichtgemäß übergeben und, was für ihn ausschlaggebend ist, Iwan und dessen Vorgesetzten davon überzeugen können, dass er nun den Stab der Ermittlung an einen formellen Mitarbeiten der Stasi weiterreichen kann. Es gelingt ihm sogar, Hinfälligkeit so gekonnt zu simulieren, dass er nicht mit einem neuen Auftrag nach Hause fahren muss. Ob er als IF nur vorerst oder ganz aus dem Verkehr gezogen wurde, weiß er allerdings nicht, unterlässt es auch lieber, danach zu fragen. Zum Abschied schenken ihm Iwan und Olga wieder eine Leninbüste, eine mit einer dünnen Bronzelasur, die wievielte, weiß er nicht mehr.
Der Prozess wegen Steuerhinterziehung war längst eröffnet, nicht nur im Hamburger Abendblatt, sondern auch im Fernsehen wurde über dessen Verlauf detailliert berichtet. Holger lachte sich ins Fäustchen, selbst dann noch, als ihm Thörstelchen von den Hänseleien in der Schule erzählte und er sehen musste, wie geknickt sein Söhnlein da saß oder mit eingeknickten Beinchen umherschlich. Hatte ihm dieser Petersen nicht sein eigen Fleisch und Blut abspenstig machen wollen? Natürlich hatte Thorsten mit seinen Reitstunden, dem eigenen Pferd geprahlt und die Schulkameraden hatten immer mehr wissen wollen. Wie viele Reitstunden? Auf welchem Reiterhof ? Irgendwann habe sein Freund Andreas gefragt, wem der Reiterhof gehöre und er, Thorsten, habe sich gar nichts dabei gedacht, als er den Namen von Mamas Freund sagte. Bernd Petersen. Aber vor vierzehn Tagen habe Andreas in der Pause vor allen anderen, wenigstens waren es sechs Schulkameraden, laut gerufen: Wisst ihr, wem der Reiterhof gehört, auf dem Thorstens Pferd steht, auf dem er reiten darf? Dem Betrüger Bernd Petersen, der jetzt ins Kittchen muss, weil er keine Steuern gezahlt hat. Und dann habe er sich vor Lachen gebogen und die anderen Kinder auch.
Und Thorsten kullern die Tränen über das kleine, helle Gesicht. Nie wieder will er mit dem gemeinen Kerl, dem Andreas, etwas zu tun haben, und mit dem gemeinen Betrüger Bernd, der jetzt ins Kittchen muss, auch nicht. Holger schlingt die Arme um sein Wichtelmännchen und versichert ihm, dass er mit den hänselnden Hanseln noch ein Wörtchen rede werde, besser noch, mit deren Eltern. Er werde auch dafür sorgen, dass Bernd Petersen seinem Prinzchen nicht mehr zu nahe tritt, auch wenn er sich deshalb mit der Mama anlegen müsse.
Von nun an ist Thorsten zumeist anwesend, wenn Agnes Holger in Hamburg besucht. Holger beobachtet sie genau, kritisch, prüfend, wie sie mit seinem Sohn umgeht. So, als müsse sie vor ihm ein Examen bestehen. Das Examen der Ersatzmuttertauglichkeit. Sie, am Wochenende abgekämpft von ihren täglichen Schulkämpfen, taumelt in die privaten Prüfungsfallen, ohne sich deren bewusst zu werden.
Irgendwann beginnen ihn Agnes´ Telefonate zu nerven, ihre verzweifelte Hilflosigkeit, wenn sie von renitenten Schülern erzählt, die ihre Überzahl nutzen, um sie vorzuführen, ihre Schüchternheit, die sich zu panischer Angst steigern kann, als Beweis für ihre Inkompetenz dem Direktor hinterbringen. Es erinnert ihn fatal an seine Überlebenskämpfe in seiner Assessoren-Zeit, zumindest an seiner ersten Schule, als ein Fleisch-und Muskelpaket auf ihn zumarschierte und ihn angrinste: „Sie machen wir auch noch fertig.“ Er warf ihm die einzelnen Wörter ins Gesicht. Er spürt ihn jetzt noch, den Wörter- Wurf, er will ihn wegwischen, aus dem Gesicht wischen.
Das nächste Mal, als er Agnes in Hannover besuchte, fiel ihm auf, dass sich ihr Kiefer beim Essen vorschob. Manchmal wenigstens. Dass ihr Kinn beim Schlucken etwas absackte. Das sich feine Falten an ihrem Hals verästelten. Mit wachsender Irritation registrierte er diese ästhetischen Mängel.
Auf Agnes Schreibtisch sah er meistens Stapel von Blättern, von Heften liegen, Englisch- und Deutsch-Klassenarbeiten, Hausarbeiten, Grammatik-und Vokabeltests. Igor und der Stasi sei Dank nahmen sich die Russisch-Arbeiten, die er ab und zu korrigieren musste, demgegenüber sehr bescheiden aus. Und im Sport entfielen Klausuren sowieso.
In der Zeit des Wartens auf den Ausgang des Petersen-Prozesses hat sich Holger beim Personalrat über das Bewerbungs-Procedere auf eine A14 Stelle informiert. Bei seiner Fächerkombination sei es als Voraussetzung unabdingbar, Klassenlehrer zu werden, am besten in einer 5. Klasse, da könne er zur Not auch Deutsch und Sport unterrichten. Vor allem müsse er die Elternabende mitgestalten, einen tragfähigen Kontakt zu den Eltern aufbauen, die zu 70% aus alleinerziehenden Müttern beständen. Das letztere soll die kleinste Hürde sein, denkt Holger, während er seinen Antrag bei der Schuldirektion einreicht.
In den Großen Ferien wollen Holger und Agnes gemeinsam nach Italien fahren. In seinem nun noch ein wenig zerknautscheren Käfer. Agnes freut sich auf Bella Italia, von dem sie schon viel gehört, gelesen, auf dem Bildschirm, aber noch nie in natura gesehen hat.
Vor Antritt der Reise besuchen sie Agnes Eltern in Schneckach. Agnes Eltern sind um die siebzig, der Vater, früher badischer Notar, ist herzkrank. Er kommt aus großbürgerlichen Kreisen. Damals, in der NS-Zeit, in der er sich standhaft weigerte, der Partei oder einer ihrer Organisationen beizutreten, begann seine Herzerkrankung, die ihn vor dem Krepieren auf einem der zahllosen Schlachtfelder des NS-Völkermordkriegs bewahrte. Wohl nicht nur, wahrscheinlich waren es auch die immer noch vorhandenen Beziehungen seines Vaters, denen er ab 1940 bis Kriegsende eine u.k. Stellung zu verdanken hatte. Nach Kriegsende wurde er von den Amis zum Vorstand eines Entnazifizierungsausschusses ernannt. Auch zum badischen Notar, das heißt zum Beamten auf Lebenszeit. Allerdings in Schneckach. Von dort aus konnte er mitansehen, wie die alten NS-Funktionäre und Würdenträger schnell wieder aus ihren Mauselöchern gekrochen kamen, wie sie in Windeseile Karriere machten. Er hatte nicht mehr die Kraft, etwa in Leserbriefen gegen die ´zweite Schuld´ zu Felde zu ziehen. Mit seiner chronischen Erkrankung musste er resignieren, um physisch weiter leben und seinen Beruf bis zu seiner Pensionierung ausüben zu können.
Holger redet an ihrem Vater vorbei fast nur mit ihrer Mutter. Später, als sie schon nach Nürnberg unterwegs sind, konstatiert er nur die äußere Ähnlichkeit ihres Vater mit Albert Schweitzer und gesteht ihm zu, dass er es trotz alledem zu etwas gebracht habe.
In Nürnberg übernachten sie am Stadtrand in einer heruntergekommenen Kaschemme. Bei der Weiterfahrt über Ingolstadt, vorbei an München, Rosenheim, Innsbruck fliegen die hohen Berge und weiten Täler an Agnes vorbei. Blau, grün und gelb in allen Farbspektren. Meistens kann sie es sich auf dem Beifahrersitz bequem machen, sich auch an Holgers Schulter lehnen. Nur ab und zu überlässt er ihr, der Fahrungeübten, das Steuer, sie hat wohl seit drei Monaten ein eigenes Auto, einen knallroten gebrauchten Golf, von kleinen Ausflügen abgesehen, beschränkte sich ihr Fahrradius bisher auf die Strecke zur Akademie und zurück, zu ihrer Bank, ihren Einkaufsmärkten.
Je mehr sie sich Bozen, dann Trient nähern, desto mehr sammelt sich die Hitze im Wageninneren, besonders um die Mittagszeit. Agnes kommt es vor, als säße sie in einem glühenden Ofen, aber sie kann nicht singen, wie die frommen Männer der Bibel in ihrem Feuerofen, sie kann nur vor sich hindösen und durch Augenspalten die liebliche Landschaft wahrnehmen. So etwas wie Klimaanlage existierte 1979 nur in Luxuslimousinen, nicht in VW-Käfern. Manchmal verschaffen die heruntergelassenen Fenster ein wenig Kühlung, die Holger gar nicht zu brauchen scheint. Ausgeruht und durchtrainiert, ein Turnlehrer in der Nachfolge Turnvater Jahns, fühlt er sich frisch, fromm nicht gerade, dafür aber fröhlich und frei. Auch wenn er sich nichts anmerken lässt, verachtet er insgeheim Agnes schwächliche Kondition.
Auf einem Markt in Padua kauft Agnes einen weinroten Glockenrock, sie darf ihn in einer Behelfskabine, einem engen Zelt, anprobieren. Er liegt eng an der Taille an genauso wie ihr weißes Polohemd, was Holger, sobald sie aus dem Zelt tritt, ein „Ich bin stolz auf dich“ entlockt. Doch, man (Mann) konnte sich schon mit ihr sehen lassen, wenigstens zeitweise.
In Padua übernachten sie in einer Albergo, deren ockergelber Fassadenanstrich weithin leuchtet. Wie die blumengeschmückten Fensterbänke. Ein riesiges Doppelbett füllt fast das ganze Zimmer aus, nur noch ein Tischchen und zwei Stühlchen sind in eine Ecke gequetscht. Sie fallen beide aufs Bett, er zieht sich und sie in horizontaler Lage aus, wirft ihre Textilien schwungvoll ins Eck, bevor er sich auf sie wirft, bevor er auf ihr reitet, sie auf sich reiten lässt. In ihr schwingt er sich zu akrobatischen Höchstleistungen auf, aber ihre Orgasmen ekeln ihn insgeheim an, sexuelle Ekstase war schließlich etwas für Männer, ihr angestammtes Privileg, das hatte ihm schon seine Mutti beigebracht, allem freudianischen Gerede zum Trotz. Überhaupt stößt ihn ab, wie sie das Essen und Trinken zu genießen versteht. Es erstaunt ihn immer wieder, welche Unmengen sie vertilgen kann, ohne dick zu werden. Wenngleich, an den Schenkeln hat sie doch ein wenig Fett angesetzt, weshalb ihr mehr Selbstdisziplin gut anstände, findet er.
Am Stadtrand von Venedig parkt er seinen Käfer auf einem Großraumparkplatz. Sie besichtigen die Lagunenstadt. In den schmalen Gassen atmen sie ihren fauligen Geruch ein. Als sie wieder zurück zum Parkplatz kommen, steigt gerade ein Gruppe Grauhaariger aus einem Reisebus aus. Holger verzieht angewidert das Gesicht, er versteckt sich hinter anderen in der Nähe stehenden Reisebussen. Ob ihm schlecht sei, will Agnes wissen. Noch von dem fauligen Geruch in den engen Gassen der Altstadt? Nein, von den vielen alten Menschen. Eine geballte Wagenladung Graukohlköpfe. Oder zäher Knochen. Es werde ihm bei deren Anblick immer übel.
Agnes war Holgers Widerwillen unverständlich. Aber sie nahm ihn hin, sie war viel zu träge, um zu protestieren, bei der Weiterfahrt über Bologna, Florenz, Rom, Pisa, Genua nach Ventimiglia saugte sie die trocken-heiße Luft ein wie die opulenten Bilder von Palästen und Kathedralen, die selbst als kolossale Ruinen von einer Lebenskraft zeugten, die die Jahrhunderte überdauert. Mit Holger an ihrer Seite möchte sie die Zeit festhalten, nicht nur den Augenblick, sie ist keine faustische Seele, die immer strebend sich bemüht, bemühen musste sie sich eh schon ihr ganzes, noch nicht so langes Leben lang.
Auch als sie in Ventimiglia mit Holger in einem Ristorante sitzt und sich eingelegte Zucchini mit Pilzen als Antipasti auf der Zunge zergehen lässt, möchte sie zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön. Sie merkt gar nicht, wie Holger sie beim Primi piatti sie hat Cofanetti ripieni , er Gnocchi bestellt, mustert. Sein sezierender Blick , der jede Partikel ihrer Gesichtshaut ausleuchtet. Der mikroskopische Blick, der ihren Hals scannt, genau in dem Augenblick, als sie einen herzhaften Schluck aus dem mit Ardal Crianza Ribera Del Duera Do gefüllten Glas nimmt. Sie lacht ihm zu, will ihm nochmals zuprosten.
„Kürbiskopf, Schildkrötenhals.“ Holgers Lippen haben sich kaum bewegt, und doch muss er dies gesagt haben, denn außer ihnen sind keine Deutsche anwesend. Die Tränen, die ihr übers Gesicht laufen. Sie sprudeln aus ihren Augen, sie kann den Tränenfluss nicht stoppen, wie man einen Wasserhahn zudreht. Sie kann nur nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche kramen und das Gesicht abtupfen, die Nase putzen, die Augen wischen. Jetzt sieht sie die kalte Gleichgültigkeit in Holgers Blick. Allenfalls scheint dieser zu verraten, dass er von ihrem Gefühlsausbruch peinlich berührt ist. Und Erleichterung darüber, dass keiner der Gäste etwas davon mitbekommen hat.
Die Rückreise über Cannes, Aix-en-Provence verläuft frostig. Bis Valence. Dort in einem weichen französischen Bett gelingt es ihm wieder, sie mit Liebesschwüren und Umschlingungen einzulullen. Sie fahren weiter über Lyon, Besancon, Riquewihr. Sie sei doch sein liebes, niedliches Eichhörnchen, flüstert er ihr unterwegs ins Ohr, sie dürfe doch nicht das dumme Zeig, das er in Ventimiglia von sich gegeben habe, nicht so ernst nehmen. Zieht sie mit einer Hand an sich, mit der anderen hält er das Steuer fest. Wenn sie rasten, in Strasbourg, Karlsruhe, Frankfurt oder Kassel, stülpt er seinen Mund über ihren. Ob sie ihm verziehen habe, fragt er reumütig, als sie in Hannover in Agnes Wohnung ankommen. Ja, doch, sicher, sie will doch nichts anderes als ihm verzeihen, sich an seiner Liebe oder an dem, was sie für seine Liebe hält, festklammern wie an einem Rettungsanker.
Ein paar Wochen später schien sie die ganze Sache vergessen zu haben. Aber er, Holger, nicht. Die wöchentlichen Besuche entweder in Hannover oder in Hamburg gingen weiter. Sie kämpfte an der Akademie immer noch ums Überleben, während er zum Beförderungsflug durchstartete. Regelmäßig mit den alleinerziehenden Müttern seiner Schüler und Schülerinnen Kaffee trank und mehr oder weniger Süßholz raspelte. Im Mai 1980, kurz nach seinem 38. Geburtstag wurde er von dem Kultusministerium der Freien Hansestadt Hamburg zum Oberstudienrat ernannt.
Zu Agnes 29. Geburtstag Ende Oktober schenkt er ihr eine der vielen Leninbüsten, die er in einer Holzkiste in Volksdorf aufbewahrt. Nicht die bronzene, sondern die aus Messing. Sie trinken gemeinsam Kaffee und essen Kuchen im Alex im Alsterpavillon. Dann besuchen sie die Einweihung eines Mahnmals für die Ende April 1945 ermordeten Häftlinge in Neuengamme. Nach dem Vortrag schreitet Holger nach vorn, alle Augenpaare sind bewundernd auf ihn gerichtet, als er einen Kranz am Mahnmal niederlegt.
Bei ihrem nächsten Besuch in Hamburg Ende November 1979 gehen sie gleich nach ihrer Ankunft in ein Restaurant. Während des Essens bleibt er einsilbig, antwortet auf ihre Fragen allenfalls mit ja oder nein oder fragte, ob sie ihre Frage nicht wiederholen könne, während seine Augen auf den weiblichen Augenweiden spazieren gehen. Sie verstummt immer mehr, meint dann nur noch, dass sie ihm zu Hause etwas zu sagen habe.
Es störe sie sehr, bekennt sie, als sie in seiner Wohnung angekommen sind, wie er andere Frauen ansehe. Sie mit ihrer kleinbürgerlichen Eifersucht. Es sei nun mal so, dass ihr Äußeres ihm immer wieder Nadelstiche versetzt habe – in der letzten Zeit immer öfter. Sie wisse ja. Ihr Schildkrötenhals. Dann fährt er mit der Aufzählung ihrer körperlichen Mängel fort: ihre zu kleinen Hände, und obwohl sie schlank sei, habe sie hier und dort doch Fettpölsterchen. Wenn er es genau bedenke – Fettpölsterchen an allen falschen Stellen. Zum Beispiel an den Schenkeln. Ihren Schildkrötenhals könne sie problemlos durch einen schönheitschirurgischen Eingriff loswerden, auch Körperfett ließe sich ebenso problemlos absaugen. Dann fängt die blöde Tussi auch noch an zu heulen, hat dann aber wenigstens so viel Verstand, ihre Heulerei im Badezimmer fortzusetzen.

Agnes ist es, es würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen, als schlittere sie auf Treibsand, in dem sie immer tiefer einsinke. Als treibe sie auf hoher, stürmischer See in einem löchrigen Boot, in das von allen Seiten Wasser eindrang. Als entferne sie sich immer weiter von einem Rettungsanker, ihrem Rettungsanker.
Trotz alledem, trotz des Vorfalls in Ventimiglia, als Holger sie mit fauligen Worteiern bewarf, hat sie ihm vertraut, weil sie ihm unbedingt vertrauen wollte, weil sie ohne dies Vertrauen sich selbst nicht mehr vertraute. Sich kaum zutraute, den zermürbenden Schulalltag zu be-, zu überstehen. Dann wiederholt sie seine häßlichen Worte, befühlt sie, wie man mit der Zunge einen schmerzenden Zahn befühlt, und begreift sekundenweise ihre unverhüllte Lieblosigkeit. Vom vielen Weinen sind ihre Augen ausgetrocknet und Augen und Gesichtshaut puterrot angeschwollen sind. Das fließende Wasser, das sie darüber rinnen lässt, kühlt nicht nur äußerlich, sondern dämpft auch den Gefühlswirrwarr in ihrem Innern, so dass das Denken nach einer Abschaltphase wieder einsetzt. Sie wird alle Tränen-Spuren überschminken, überpudern, eine kleine Tablette, Tavor, schlucken, der Arzt hat sie ihr schon vor einem Jahr verschrieben, als sie an der Akademie unterzugehen glaubte. Sie weiß die weich- einlullende Wirkung des weißen Kügelchens zu schätzen, weshalb sie immer einige in einer Pillendose bei sich trägt. Gleich morgen früh wird sie ein Taxi bestellen, sich zum Bahnhof Altona fahren lassen. Dann wird sie am Schalter nach dem nächsten Zug nach Hannover fragen. Ihre Rückfahrkarte hat sie ja in der Handtasche.
Diese Mal tut Holger nicht zerknirscht, sondern schaut ihr nur beim Packen und Verlassen der Wohnung zu. Kühl, sachlich, teilnahmslos. Tschüs, sagt er noch. Nicht mehr und nicht weniger. Uff, die war er glücklich los. Es ging schneller, als er es zu hoffen wagte.


Noch vor Jahresende wurde das Urteil im Petersen-Prozess gesprochen: Der Staranwalt und gewesene zukünftige Gatte von Holgers Ex-Frau wurde zu einer Geldstrafe von 8 Millionen nebst einer Haftstrafe von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung verurteilt. Ob Sonja sich noch mit Bernd traf oder nicht, wusste Holger nicht, er wusste aber von Thorsten, dass jener schon seit Prozessbeginn nicht mehr in Sonjas Wohnung aufgetaucht war, von gemeinsamem Urlaub ganz zu schweigen.
Im Frühjahr wurde Holger zweimal von einem Dezernenten und einem Fachberater anhospitiert. In den anschließenden Besprechungen erfuhr er, dass seine Beförderung zum Oberstudienrat schon feststehe, er müsse sich nur noch bis zur Ausstellung der Urkunde gedulden, was sich wegen der anstehenden Osterferien in den Mai hineinziehen könnte.
Holgers nächste Handlungen bestanden darin, sich eine neue Wohnung zu suchen. Eine preiswerte Zweizimmer-Wohnung in Zentrumsnähe. Er fand bald eine in St. Georg, in der Brennerstraße. Sie lag im zweiten Stock eines Altbaus über einer Kneipe und war ziemlich heruntergekommen, da die vorigen Mieter, ein altes Ehepaar, wohl nicht mehr die Kraft und das Geld hatten, um die Wohnung einigermaßen in Schuss zu halten. Immerhin hatte der Vermieter vor Holgers Einzug die komplette Renovierung und Reinigung versprochen. Was dann auch notdürftig geschah. In den frisch geweißelten Wänden war es fast so gemütlich wie in einem Kellergewölbe. Was Holger erboste, waren jedoch nicht die Wände, die geweißelten. Es war das Gehänge aus Spinnweben, das in zwei Ecken des Wohnzimmers baumelte. Warum war hier nicht gründlich sauber gemacht worden? Er würde sich bei Herrn Lemke, dem Vermieter, beschweren. Es wäre doch lächerlich, anzunehmen, die Spinnen seien ihm hierher gefolgt oder sie seien integraler Bestandteil seiner Umgebung, so als gehörten sie zu ihm und er zu ihnen. Ein absonderlicher, abstruser Einfall.
Er kaufte sich einen silbergrauen Anzug. Mehrere dazu passende Hemden. Zu Hause vor dem Standspiegel dehnte, reckte und streckte er sich im silbergrauen Anzug mit schwarzem Hemd. Im silbergrauen Anzug mit roséfarbenem Hemd. Im silbergrauen Anzug mit blütenweißem Hemd. Er lächelte seinem Spiegelbild zu. Dann holte er seine Kamera, positionierte sie in der für eine Ganzkörperaufnahme korrekten Entfernung und stellte den automatischen Auslöser für die Bildaufnahme ein. Dann brachte er sich geschwind vor dem Apparat in Positur. Die Chiffren aus den Heiratsannoncen in DIE ZEIT, an die er sein Konterfei mit ein paar hingeworfen Zeilenschicken wollte, lagen schon parat.
Eine Einladung von Thomas Altenburg ließ nicht lange auf sich warten. Diese Mal nicht in dessen Villa, sondern zu einem Pferdegalopprennen in Hamburg, zum Deutschen Derby. Holger als Sportlehrer habe doch gewiss an einer solchen Veranstaltung Interesse.
Holger lernte bei diesem Event nicht nur wohlhabende Pferdezüchter mit eigenem Reiterhof und Gestüt mit Rassepferden kennen, sondern auch Rassefrauen, gertenschlank, die blonde Körper himmelanstrebend. Einer der Züchter und Reiterhofbesitzer, dessen Vater durch Arisierungskäufe in der NS Zeit ein stattliches Vermögen angehäuft hat, sah Holgers begehrliche Blicke und gab ihm zu verstehen, dass er gerne einen Treff für Holger mit einer der exquisiten Damen arrangieren könnte. Es handle sich natürlich um Eskort-Damen. Aber er, Holger Kopke, könne ab und zu eine zum ermäßigten Sondertarif haben.
Während seine Annoncenbekanntschaften andauerten, war er froh, dass Agnes nichts von sich hören ließ. Nach etwa drei Monaten rief er sie doch an. Mit leiser, eindringlicher Stimme bat er sie um Verzeihung, er habe wie ein Hornochse gehandelt, ob er sie nicht in Hannover besuchen dürfe. Erst jetzt sei ihm bewusst geworden, was für ein wertvoller Mensch sie sei. Sie solle ihm, ihnen, sagte er, noch eine Chance geben. Wenigstens zu einer offen und ehrlichen Aussprache. Er spürte ihre Unschlüssigkeit, ihr zögerndes Warten. Mit behutsamer Beharrlichkeit wusste er den Liebesleim zu verstreichen, auf den sie kriechen sollte. Als sie wie eine Fliege mit einem Bein schon fast daran klebt, zog er sich zurück. Ein paar Monate später kam dann ihr Anruf. Ob sie es noch einmal versuchen sollten, fragte sie. Sie wolle von ihm eine ehrliche Antwort. Das möchte er ihr überlassen, sagte er. Er hört nur noch, wie sie den Hörer auflegte. Dann war endlich Schluss.
Er verschickte weiter seine Fotographie an diverse alleinstehende, akademisch gebildete Frauen über ganz Deutschland verstreut – in den Schwarzwald, nach Franken, nach Hessen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein…An Ulrikes, Giselas, Brigittes, Simones, alle zehn bis fünfzehn Jahre jünger als er, liebesbedürftig, naiv und unbedarft oder mitten in Lebenskrisen steckend. Indem er den ehrlichen, emanzipierten, fürsorglichen Gefährten mimte, konnte er in knapp zehn Jahren ein grobmaschiges Netz über Süddeutschland, Hessen bis hinauf nach Niedersachsen spannen, in dem seine verliebten Käfer und Fliegen zappelten. Bis sie anfingen, sich zu verzappeln, bei dem unsinnigen Versuch, selbst Fäden zwischen sich und ihn zu weben.
Zum Beispiel Simone….Simone zitierte sogar aus „Der kleine Prinz“ von Saint-Exuperie. ´So bin ich ein Fuchs, der hundert tausend Füchsen gleicht. Aber wenn du mich zähmst, werde ich für dich einzig sein auf der Welt.´ Als ob ihm daran gelegen wäre, zu zähmen oder gezähmt zu werden. Zu diesem Zeitpunkt fiel ihm Simones Leberfleck auf. Auf der linken Wange in der Nähe des Nasenflügels. Bis er die intensive Braunfärbung nicht mehr ertragen konnte. Ob sie diesen fatalen Fleck nicht operativ entfernen lassen könne, wollte er wissen, als sie sich besonders innig an ihn schmiegte.
Was dann folgte, war nichts als hysterische Zappelei, bis sie sich nicht mehr rührte. Aus und vorbei. Dann ließ er sie aus seinem Netz fallen, am Auffressen war er nicht interessiert.
Ab und zu plagte ihn doch die Neugier, was aus seinen Verflossenen geworden war. Zum Beispiel aus Agnes . Ob sie noch in Hannover wohnte? Immerhin, im örtlichen Telefonbuch fand er ihren Namen und eine neue Adresse. Dann hatte sie die Assessoren-Zeit anscheinend doch erfolgreich absolviert, dann müsste sie längst Studienrätin sein. Ob sie noch an der Akademie tätig war?
Der Kontakt zu Igor Pawlewski brach in all den Jahren nicht ab, auch wenn die zeitlichen Abstände zwischen seinen Besuchen in der Sowjetunion immer größer wurden Er bekam nur noch selten Observationsaufträge, die wenigen, die er bekam, erledigte er nebenher oder versuchte, sie loszuwerden. Dass die Zeichen auf Selbstauflösung der DDR, wohl auch der UDSSR, standen, hatte er längst begriffen und seine Leninbüsten längst entsorgt.
Holger Kopke hatte neue Freundinnen gefunden, schließlich gingen die Eskort-Damen selbst zum Sondertarif ins Geld. Freundinnen mit kleinen Vogelgesichtern und spitzen Schnäbeln. Sie waren zumeist in dezentes Rauchgrau gekleidet, passend zu seinen silber- oder hellgrauen Anzügen. Auch ansonsten wussten sie sich seinen Bedürfnissen anzupassen. Sie waren zur Stelle, wenn er rief, zogen sich zurück, wenn er seine Ruhe haben wollte. Sie waren ein Muster anspruchsloser Selbstdisziplin. Sie lachten, wenn er lachte, gifteten an, wen er angiftete, nie reagierten sie eifersüchtig, wenn er seine Abende doch lieber mit weiblichen Paradiesvögeln als mit ihnen, den Rauchgrauen, verbringen wollte.
1989, beim Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion, geriet Igor Pawlewski als KGB Mitarbeiter kurz ins Visier der Ermittlung, konnte sich jedoch durch geschicktes Taktieren den neuen kapitalistischen Verhältnissen anpassen, da große Teile der alten Oligarchie bald in der neuen, finanzkräftigen Russenmafia aufgingen. Davon profitierte nicht nur Igor, sondern, last but not least, auch Holger Kopke und irgendwann einmal auch Holgers Sohn, Thorsten Kopke. Zu Beginn des neuen Milleniums wurde Baden-Baden, schon seit alters her in vielfältiger Weise mit Russland verbandelt, zum beliebten Zielort für die neue russische Oberschicht, die eine Villa nach der anderen aufkaufte. Zumeist gegen Barzahlung.
Zu dieser Zeit, Holger war gerade pensioniert, Thorsten hatte sein Studium der Informatik längst abgeschlossen und eine gut dotierte Stelle in der IT-Branche gefunden, fragte Igor Holger bei einem Besuch in Hamburg, ob dieser bei solchen geschäftlichen Transaktionen nicht als Dolmetscher und Unterhändler fungieren wolle. Sein Schaden würde es nicht sein.

Holger nahm mit Maklern und potentiellen Käufern Tuchfühlung auf, seine hervorragende Observierungskunst leisteten ihm dabei gute Dienste. Bald strich er satte Provisionen ein, die er Dank fachmännischer Beratung am Fiskus vorbeischleuste und geschickt in Immobilien anlegte. Über ganz Norddeutschland verteilt, in Oldenburg, Bremen und Lüneburg kaufte er Wohnungen auf, geräumige Wohnungen in gepflegten, neuerbauten Wohnanlagen. 2012 besaß er zusammen mit einer 150 qm großen, sanierten Altbauwohnung in Hamburg Harvestehude bereits sieben an der Zahl. Auch seine Pferdezüchter-Freunde waren mächtig ins Immobiliengeschäft mit den Russen eingestiegen. Und waren natürlich bei den alljährlichen Pferderennen in Iffezheim mit von der Partei wie all die Rasse-Klasse-Frauen, die sich dort den Schönheitsrang abliefen.
Als er sich 2012 wieder geschäftlich in Baden-Baden aufhielt, sah er sie die Kaiser-Allee entlang fahren. Agnes Eggert. Sie hatte sich kaum verändert, von ihren silberweißen Haaren abgesehen. Was machte sie denn in Baden-Baden? Als er sie wieder dort sah, dieses Mal zu Fuß auf der Langen Straße, lächelte er ihr zu, sie waren doch alte Bekannte, könnten sie nicht wieder Freunde sein? Aber sie ignorierte ihn, sah durch ihn hindurch. Ging erhobenen Hauptes an ihm vorbei.
Er fuhr jetzt einen silbergrauen BMW, an seiner Seite hatte er immer eine aus seiner rauchgrauen Geflügelschar, ab und zu auch einen weiblichen Paradiesvogel. Er gehörte jetzt dazu. Er war angekommen. Er ließ sich nicht einfach ignorieren, schon gar nicht von einer Agnes Eggert.
Er war mit seiner Entourage ständig auf Achse – nicht nur, um da zu sein, wo wichtige Events stattfanden. Wo ein lukratives Geschäft zu machen war, mit Pferden oder Immobilien, sondern auch, um die aus dem Netz gefallenen, die Randständigen, die immer noch oder schon wieder nicht dazu gehörenden, aufs Korn zu nehmen. Die Ulrikes, Brigittes, Giselas, Simones, Agnes´ und Sonjas.
Nein, nicht Brigitte, Gisela und Sonja, die hatten wieder einen Mann an ihrer Seite. Sonja schon längst nicht mehr Bernd Petersen, sondern einen anderen Kerl in zerbeulten Jeans, für den sich Holger nicht weiter interessierte. Aber Ulrike, Simone und Agnes, mittlerweile älteren Damen, die oft alleine unterwegs waren. Oder mit einer älteren Freundin. Sobald er sie erspähte, umkreiste er sie mit seiner silbergrauen Limousine, während sich eine seiner Graugewandeten grinsend an ihn lehnte. Es ärgerte ihn nur, wenn die abgetakelten Weiber zu lachen anfingen. Allein oder zusammen mit ihren Freundinnen. Was hatten denn die noch zu lachen?
 



 
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