Vergänglichkeit

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Rolf

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Vergänglichkeit

Vor wenigen Minuten hatte sie mit einem leisen Gruß an seinem Tisch Platz genommen. Er hatte eine Antwort gemurmelt und genickt. Nun sitzt sie ihm gegenüber, etwas seitwärts und doch zugewendet. Er hält seine Lektüre auf dem Schoß, fühlt sein Herz pochen. Sie blättert in ihrer Illustrierte, nippt gelegentlich an ihrem Espresso. Hatte sie ihn nicht erkannt? Noch nicht? Er dagegen erinnerte sich sofort wieder an sie.

Sie befinden sich im Garten eines Cafes. Heckenrosen dämpfen den Straßenlärm, gewähren den Sitzgruppen etwas Intimität. Im Dickicht ihrer Zweige zwitschern kleine Sänger. Hier finden sie den Unterschlupf, den die Häuserwüste verweigert. Auch die Gäste finden die Lücken zwischen den Zweigen angenehm. Sie gestatten es ihnen, vorbeischlenderte Fußgänger unauffällig zu beobachten.

Er hat seinen Lieblingsplatz eingenommen. Der ist für dieses kleine Vergnügen besonders gut geeignet. An der kleinen Oase inmitten der Altstadt eilen viele Menschen raschen Schrittes vorbei. Sie tauchen nur kurz auf aus dem Strom von Menschen, der sich heranwälzt und wieder verebbt. Andere schlendern heran und er kann sie in aller Ruhe betrachten. Manchmal verbringt er Stunden damit, Menschen und ihre kleinen Eigenheiten zu studieren, sie in Gedanken auf ihrem Weg zu begleiten. Werden sie am Cafe vorbeigehen, wieder in der Menge verschwinden? Oder nehmen auch sie sich eine Auszeit?

Heute beugt er sich über einen Thriller. Ein dickes Buch hält er da in der Hand, möchte es endlich mal zu Ende lesen. Oft kaschiert er mit solchen Schinken sein langes Verweilen gegenüber der Bedienung. Doch ihr ist seine Lust am Schauen vermutlich längst kein Geheimnis mehr. Wie so häufig stuft sie ihn als Sitzwärmer ein, als Dekoration für das Lokal. Nur wenn sie schlecht gelaunt ist, tritt sie öfters heran, fragt, ob es noch etwas sein darf. Diesmal war sie wohl gut gelaunt. Oder war er einfach nur zu sehr in sein Buch vertieft gewesen, um sie wahrzunehmen?

Die Frau bemerkte er erst, als sie vor ihm stand und kaum verständlich fragte, ob der Stuhl frei sei. Nun kämpft er angestreckt dagegen an, auf ihr Gesicht oder auf ihre großen Brüste zu starren. Keinesfalls möchte er ihren Blick auf sich lenken.

Er korrigiert seine Sitzhaltung ein wenig, wendet sich leicht in die andere Richtung. Wieder ertappt er sich dabei, wie hypnotisiert auf ihre Rundungen zu glotzen. Sofort senkt er seinen Blick, sucht die Buchstaben im Buch, das ihn eben noch gefesselt hatte. Doch schon schielt er wieder zu ihr hinüber, huschen seine Blicke über sie. Ihre Taille wirkt im Verhältnis immer noch schmal. Doch den Bauch bändigt der Ho-senbund offenkundig nur mühsam. Ihr Becken scheint sich ihm breit entgegen zu drängen. Der gespannte Reißverschluss wirkt auf ihn auffordernd und abstoßend zugleich. Doch weckt er auch seine Phantasien. Aus dunklen Tiefen längst vergangener Tage taucht das Bild eines Mädchens mit ausgeprägten weiblichen Reizen auf. Auch damals waren Bluse und Jeans prall gefüllt. Flink und behände eilte sie über den Campus, erfüllte die Luft mit ihrem hell klingendem Lachen. In jenen Tagen pfiffen die Burschen anerkennend hinter ihr her.

Gedankenverloren schaut er wieder auf den massigen Körper vor ihm. Schwere Brüste ziehen ihren Oberkörper nach vorne. Ihre Schultern haben offenbar nicht mehr die Kraft, der Last entgegen zu steuern und geben nach. Der Büstenhalter scheint ausgeleiert zu sein. Unter dem schmuddeligen Weiß des eng anliegenden T - Shirts erahnt er große Warzenhöfe. Ihre Nippel verschwinden in der Masse. Kein Kind saugt mehr an ihnen. Ihm scheint, es fehlt ihnen an liebevoller Berührung. Warten sie noch darauf, wie Dornröschen wieder wach geküsst zu werden? Oder haben sie resigniert, wie die Frau resigniert zu haben scheint, von der sie ein Teil sind? Sind sie schon abgestorben?

Er sieht sich mit der Vergänglichkeit allen Fleisches konfrontiert und ihm wird eng um den Hals. Schwebt über der Frau bereits ein Hauch von Tod, strahlt sie Verfall und Sterben aus? Er kann sein Unbehagen nicht formulieren. Wenn er sie anschaut, scheint ihm, dass sie ihr Äußeres nicht mehr pflegt. Sie achtet nicht mehr auf sich selbst. Achtet sie sich selbst nicht mehr? Vernachlässigt sie sich, weil sich kein anderer ihr zuwendet, sie achtet?

Ihre Konturen zerfließen. Aus allen Poren trieft die Familienmama. Doch was macht ihre Familie? Lebenslust ist nur noch zu ahnen, scheint vergangen. Wohin waren ihre Reize entschwunden? Bittere Stunden hatten ihr Kerben in die Mundwinkel gemeißelt, ein Kontrastprogramm zu den aus heiteren Tagen stammenden Lachfältchen an den Augenwinkeln gebildet. Das einst glänzende Haar schimmert matt. Wo früher Locken wie ein Wasserfall wirbelten hängen jetzt brüchige Zotteln.

Es schüttelt ihn, leise seufzt er auf. Irritiert blickt sie kurz hoch, zieht dann mit dem Kugelschreiber weiter durch das Illustriertenrätsel. Verlegen nickt er, legt abgezählte Münzen neben sein leeres Gedeck. Etwas mühsam steht er dann auf und schlurft zur Straße. Noch einmal schaut sie kurz auf, ihm nach, verfolgt seinen Weg. Vor ihren inneren Augen scheint kurz eine Erinnerung aufzuflackern. Kaum merklich zuckt sie mit den Schultern, beugt sich wieder über ihre Illustrierte.

Noch wärmt die Herbstsonne. Die ersten Blütenblätter der Rosenbüsche decken den Gartenkies. In den Hecken schwellen die Fruchtkörper an. Wer wird sie ernten? Wird sie wer ernten?
 



 
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