Vergeltungsschlag

Dirk Radtke

Mitglied
Leseprobe aus Vergeltungsschlag/Die Aufzeichnungen des Tobias B.

1. Dienstag , 24.Juni 2008, 11.40 Uhr

Demjenigen, der diesen verfluchten Tag hat existieren lassen, sollten die Augen ausgebrannt werden. Die verdammte Hitze ist schier unerträglich.
Und das seit Wochen.
Dazu bläst ein trockener, heißer Wind,
wie der Pesthauch der Hölle.
Föhn, sagen sie.
Kommt aus dem Süden, sagen sie.
Was interessiert es mich, was aus dem Süden kommt?
Einen Scheißdreck!
Ich bleibe stehen. Blinzle brennenden Schweiß aus den Augenwinkeln. Die Suppe läuft mir aus allen Poren, lässt meine Narbe jucken. Auf der Brust sowie unter den Armen haben sich dunkle, feuchte Flecken gebildet. Ich stöhne, ziehe das Zopfband um meine langen Haare strammer und gehe weiter. Meine Schritte wirbeln Staub auf, der in der sengenden Hitze kaum niedersinkt. Trockene Gräser säumen den schmalen Feldweg, knistern, wenn die brennende Luft hindurchfährt.
Hier ein Busch, dort ein kümmerlicher Baum. Die Gegend starrt mir trostlos entgegen.
Hundert Meter weiter taucht das Dach unseres Hauses über der
Kuppe auf. Die feuerroten Schindeln glänzen in der stechenden Sonne wie ein Fliegenpilz im Wald.
Ein Giftpilz. Genau das ist es, war es schon immer, vom ersten Tag seiner Erbauung. Hineingerammt in eine falsche, faulig stinkende Idylle, von falschen, faulig stinkenden Menschen. Menschen, die ich kenne, die mir eigentlich nahestehen sollten. Es aber nicht tun. Noch nie getan haben. Und niemals tun werden.
Ich spucke auf den ausgetrockneten Boden, hinterlasse einen dunklen Fleck, der auf der Stelle verblasst. Das spröde Erdreich saugt ihn auf wie ein verdörrter Schwamm.
Wie mein Leben.
Wie Vivien.
„Scheiße!“, brülle ich wütend. Die noblen Fassaden der umstehenden Häuser reflektieren meinen Ausbruch. Der alte Beckmann, dessen pickelige Nasenspitze beinahe in der Rasenfläche seines Vorgartens steckt, die er mühsam von lästigen Unkräutern befreit, schnellt wie ein Springteufel hoch. Sein Schädel glüht wie das Dach unseres Hauses. Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn. Erschrocken blickt er
mich an.
„Meine Güte! Hast du mich erschreckt!“ In seinen Augen steht
der Wunsch nach einer Erklärung und auch Erleichterung, nichts
Schlimmeres als meinen Schrei erleiden zu müssen. Der Distelstecher zittert in seiner Hand. Mit der anderen fährt er sich durch die wenigen ihm verbliebenen Haare, die ihm anschließend in allen Richtungen abstehen.
„Wollte ich nicht“, rufe ich ihm entschuldigend zu, ohne dabei
stehenzubleiben. Ich hab keine Lust, mich auf ein Gespräch mit
dem alten Sack einzulassen. Soll er sich weiter um seine Unkräuter kümmern.
Was ich vielleicht auch tun sollte?
Mich um die Unkräuter im Vorgarten meines Lebens kümmern? Sie ausreißen, meine Seele wieder zu einer homogenen Fläche machen, sie harken und reinigen, glätten und wässern? Ein fader Geschmack verbreitet sich im Mund.
Und das seltsame Gefühl, dass es dafür zu spät ist.

Im Haus sticht mir beißender Geruch in die Nase. Ein unsichtbarer Faustschlag aus Putzmitteln, Schweiß, kaltem Rauch und einem
Hauch Knoblauch, vermischt zu einem Brechreiz erzeugenden Gas.
Olga, die polnische Putzfrau. Keine richtige Aufenthaltsgenehmigung, kein richtiges Deutsch. Brutto für Netto, bar auf die Kralle, wofür sie den geschliffenen Granitfußboden wöchentlich auf Hochglanz poliert.
Ich spiegle mich darin. Eine dunkle Silhouette. Ohne klare Linie, ohne Details oder erkennbare Struktur. Eine leere Hülle.
Spiegelbilder lügen nicht.
Menschen schon.
Vivien.
Der Gedanke an sie brennt mir ein Loch ins Herz. Sie wollte nie etwas mit diesen seelenlosen Wichsern zu tun haben. Scheiße, wie sehr habe ich mich geirrt.
Die auf Hochtouren arbeitende Klimaanlage surrt wie ein entfernter Bienenschwarm. Schnell werfe ich die Tür zu, lasse die Hitze draußen. Der Rucksack fliegt samt Schulsachen in die Ecke. Feierabend für heute. Das Pack wichtigtuerischer, aufgeblasener Lehrer kann sich die zu erledigenden Hausaufgaben in die Haare schmieren. Fach für Fach. Ich habe keine Lust mehr.
Links vom Flur liegt die Küche. Das Deckenlicht brennt am helligten Tag. Yvonne, die Schlampe, macht nichts aus, was sie anmacht. Sie hat es nicht nötig oder ist einfach zu dämlich.
Im Kühlschrank ruhen zwei eiskalte Flaschen Warsteiner. Vaters feierabendliche Dosis, die er sich nach der Arbeit gönnt, von Yvonne jeden morgen hineinstellt, so, wie er es sich wünscht.
Soll er warmes Bier trinken!
Ich knacke den Verschluss der ersten Flasche mit meinem Feuerzeug über dem Zeigefingerknöchel.
Plopp.
Der Kronkorken wirbelt vom Flaschenhals, klappert über den
Fußboden. Ich lasse ihn liegen und kippe die halbe Flasche auf ex.
„Aaaaaahhhh!!!“ Erfrischend und besäuselnd zugleich. Ein schwaches Highlight in dieser faden Zeit.
Rülpsend verlasse ich die Küche, das Bier in der Hand. Auf der
Kommode, im Hausflur, liegen zwei aufgerissene, an mich adressierte Umschläge. Der Inhalt achtlos daneben verstreut. Haben die verfluchten Weiber wieder meine Post geöffnet?
Ich könnte kotzen!
Sofort erkenne ich meine Manuskripte. Leseproben, vor acht Wochen verschiedenen Verlagen angeboten. Sie haben sie zurückgeschickt. Standardbrief. Standardabsage. Immer dasselbe. “Sehen uns nicht in der Lage, ihr Werk durch unser Haus zu publizieren.“
Bla, bla, bla.
Zwei Chancen weniger, mein Buch veröffentlicht zu sehen. Ich habe es aufgegeben, die Absagen zu zählen. Das Wissen darum würde meine Lebenssituation nicht verbessern. Also kippe ich das restliche Bier in mich hinein und platziere das Leergut auf einem der Umschläge. Sollen sie sich doch darüber ärgern, wenn sie zurückkommen.
In meinem Zimmer ist es heiß wie in einem Backofen. Die
Klimaanlage ist ausgestellt, die Fenster weit aufgerissen. Hier unterm Dach ist es noch viel heißer als draußen. Sofort bricht mir der Schweiß aus. Nein - es ist nach dem Lüften nicht vergessen worden, die Fenster wieder zu schließen. Die beiden haben sie absichtlich aufgelassen, damit die Hitze hineinzieht.
„Ihr blöden Fotzen“, fauche ich in die stehende Luft. Dann ramme ich die Fenster in die Rahmen, dass das Glas unter der Wucht erzittert. Die wenigen Außengeräusche verstummen.
Schweißtropfen spritzen auf die Scheiben. Winzige, klebrige Lupen.
Ich starte die Klimaanlage und lasse mich auf dem zerschlissenen Ledersofa nieder. Die Armlehnen rissig, die Sitzflächen abgescheuert. An einigen Stellen lugt schmutziggelbes Füllmaterial heraus. Das Teil hat mindestens zehn Jahre auf dem Buckel, wenn nicht sogar mehr.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich es bekommen habe.
Andererseits bin ich mir sicher, dass meine Schwester in der Zeit mindestens vier neue Garnituren erhalten hat. Meine hingegen sei noch immer ganz in Ordnung, wurde mir erklärt.
Vater stinkt vor Kohle.
Er könnte sich sämtliche Ledergarnituren Deutschlands leisten. Nur die eine für mich war es ihm bislang nicht
wert gewesen. „Arschloch.“
Ich drehe mir eine Zigarette, stecke sie an und sauge den Rauch tief in die Lungen. Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu, steht auf dem Tabaksbeutel. Das machen Sarah, Vater und seine Schlampe auch, denke ich. Normalerweise gehört denen so eine Warnung auf die Stirn tätowiert! Auch all den anderen Arschlöchern!
„Ashtray People!“ Mein Lieblingssong rattert durch meinen Kopf.
Sogar Vivien hätte es verdient, dass…
Scheiße!
Was ist aus mir geworden?
Was hat man aus mir gemacht?
Oder habe ich das, was ich heute bin, aus mir machen lassen? Hatte ich eine Chance, die Ereignisse abzuwenden und mich zu einem anderen Menschen zu entwickeln?
Den Tabaksbeutel zwischen den Fingern gedreht: Rauchen kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen, erklärt mir der Spruch auf der anderen Seite. Ich lache tonlos. Werfe den Beutel vor mir auf den Tisch. Krümel fallen heraus, wie zerbröselte Fragmente einer vertrockneten Lunge.
„Ashtray People!“ Rattert es wieder.
Ich suche die gottverdammte CD.
Mein Leben führt mich zu einem langsamen und schmerzhaften Tod. Mein Leben ist ein langsamer und schmerzhafter Tod. Wie soll das bisschen Nikotin es schaffen, mein Leben noch scheußlicher zu machen, als es in Wirklichkeit bereits ist?
Nur siebzehn Jahre hat es gedauert, zu dem zu werden, was ich heute bin. Siebzehn beschissene Jahre, und der Tobias ist nicht mehr der, der er einmal war oder einmal werden sollte. Wollte…
Verkorkst, vergurkt, vergeigt.
Man kann es nennen, wie man will.
 



 
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