Vergeßlich

traumtänzer

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Vergeßlich

Schönes Wetter bereitete mir schon beim Aufstehen gute Laune. Am Nachmittag war zwar Regen angesagt, aber das konnte mir nichts ausmachen. Im Gegenteil, soll es nur regnen, dachte ich, denn morgen schon würde ich mit Lisa, meiner Freundin, am sonnigen Strand von Madeira liegen und es mir gut gehen lassen. Um 12.15 Uhr würde der Flieger vom Düsseldorfer Flughafen Richtung Süden starten. Vorher mußte ich noch einige Besorgungen machen. Ich ging in Gedanken alles noch mal durch:
1. Krankenkasse, Auslandskrankenscheine;
2. Bank, Geld;
3. Kaufhaus „Hetler“, Klamotten kaufen, die Lisa mir notiert hatte;
4. Zu Lisas Eltern, Lisas Klamotten abgeben;
5. Koffer packen.
Ich war sicher, daß ich nichts vergessen hatte. Das alles war auch Dicke zu schaffen, da die Läden erst um 18.00 Uhr schlossen und die letzten beiden Punkte auch nach Geschäftsschluß zu erledigen waren. Es war ja erst 14.30 Uhr. Sofort nach dem Frühstück wollte ich los.

Ich machte mich auf den Weg. Leider mußte ich beim Abtasten meiner Hosentaschen feststellen, daß ich meinen Autoschlüssel vergessen hatte. Zum Glück hatte ich vergessen die Balkontür zu schließen. Meine Wohnung war im dritten Stock und ich wollte nicht ganze drei Stockwerke nach oben kraxeln. Ich klingelte bei Frau Burkhardt, von deren Balkon ich auf meinen kommen wollte. Als sie aufmachte vergaß ich alle Höflichkeitsformen und stürmte in das Haus: „Habe mich ausgesperrt und muß über ihren Balkon“. Leider hatte ich vergessen mir die Füße abzuputzen, so daß ich den ganzen Dreck, der unter meinen Sohlen klebte, durch die Wohnung schleppte. Ich hatte nämlich vergessen, die Schuhe vom Vortag auszuziehen, die ich bei der Gartenarbeit benutzt hatte. Im Entsetzen darüber und über mein Benehmen schimpfte, keifte, tobte die Alte. In Anbetracht dessen, daß ich es nicht mehr ändern konnte, und in Anbetracht des Faktors Zeit, kümmerte ich mich nicht darum. Auf dem Balkon angelangt, fackelte ich nicht lange. Ich kletterte über die Brüstung, schwang mich an das Fallrohr und hangelte mich langsam nach oben. Als ich kurz vor meinem Balkon angelangt war, schaute ich nach oben und... Auf dem Geländer saß meine Katze, jederzeit zum Sprung bereit. Ich stieg weiter bis zur Brüstung, schwang, mit der mir angeborenen Geschicklichkeit, ein Bein aufs Geländer. In diesem Moment sprang die Katze. Zum Glück in meine Richtung, doch wäre sie eindeutig an mir vorbeigesprungen, so daß ich mit einem Reflex eine Hand vom Rohr nehmen mußte um sie aufzufangen. Nun schaue man sich dieses Bild an: Ich mit einem Bein auf dem Balkongeländer und mit einer Hand am Fallrohr. Wäre ich nicht so geschickt gewesen, wie gesagt angeboren, wären beide schwer verletzt, wenn nicht sogar tot gewesen, Katze und Mensch. Ich setzte mir die Katze auf die Schulter und kam mit einem geschickten Sprung, wie schon erwähnt, meine Geschicklichkeit... aber lassen wir das. Also, mit einem Sprung kam ich auf den Balkon. Ich hatte nun bereits eine zirkusreife Aktion hinter mir und habe die Katze gerettet, und das alles kurz nach dem Frühstück. Zeit für ein kurzes nachsinnen:

Eine Katze hat, wie jeder sicher weiß, sieben Leben. Wissenschaftlich bewiesen und empirisch belegt. Meine Katze hatte erst fünf, mit heute, verbraucht:
1. Als ich sie im Backofen vergessen hatte. Sie mußte schnell reingesprungen sein, als ich nicht hinsah. Meine Freundin hat zum Glück rechtzeitig in den Backofen geschaut;
2. Als sie von einem Hund gebissen wurde, hat sie nur eine leichte Wunde davongetragen. Sie hätte auch zerfleischt werden können;
3. Als sie vom alten Schulz vergiftet wurde, ein fanatischer Katzenhasser. Beim Tierarzt hat man ihr den Magen ausgepumpt, bemerkenswert;
4. Als sie auf die klassische Weise von einem Auto angefahren wurde. Sie flog 10 Meter durch die Luft, um dann mit voller Wucht gegen die nächste Hauswand zu prallen. Sie hat sich nur erschrocken, sehr bemerkenswert.
Die heutige Aktion war ihr fünftes Leben, d. h. sie konnte sich noch einen Ausrutscher erlauben und dann... finito, aus, basta.

Durch das Vergessen des Schlüssels, die Zirkusaktion und das Nachsinnen über die Katze, war bereits eine Stunde verstrichen. Ich packte mir meinen Autoschlüssel und sprang in mein Cabriolet. Zuvor hatte ich jedoch das Verdeck abgenommen, denn, wie ich schon erwähnt habe, es war schönes Wetter. Alle Erledigungen waren in der Stadt vorzunehmen. Leider war es außerordentlich schwer, einen Parkplatz zu finden. Ich kurvte eine halbe Stunde durch die Gegend, um dann einen zu finden, der 15 Minuten zufuß von meinem ersten Ziel entfernt war.

Zunächst mußte ich zur Krankenkasse und mir Auslandskrankenscheine holen. Die Sachbearbeiterin hatte eine Menge Zeit und ließ mich eine ganze halbe Stunde warten. Ich fragte mich, ob sie wohl gerade erst aufgestanden ist. Während ich so da wartete, hatte ich eine Idee für ein Gedicht. In meinem Kopf bildete sich ein wortgewaltiges Werk: mit Alliterationen, wunderbaren Metaphern und es reimte sich sogar. Ich beschloss es sofort aufzuschreiben, wenn ich wieder zu Hause war. Nach ihrem, so vermutete ich, Frühstück, hatte die Sachbearbeiterin endlich die Muse mir meine Krankenscheine zu geben.
Jetzt mußte ich zur Bank. Als ich gerade angekommen war, die Bank selbst hatte bereits geschlossen, es war ja Freitag, begann ein fürchterlicher Platzregen. Ich war froh, daß ich trocken blieb, denn ich konnte mich noch rechtzeitig in den Vorraum zur Bank flüchten, wo der Geldautomat stand. Ich schob meine EC-Karte in den Automaten und... ich hatte meine Geheimzahl vergessen. Ich überlegte. Ich brauchte unbedingt Geld und die Banken hatten geschlossen. Wie war die denn noch mal? Ich hatte die Zahlen im Kopf, aber die Reihenfolge. Ich grübelte und schlenderte währenddessen wie ein Panther im Käfig durch den Vorraum. Nach einer halben Stunde beschloß ich, es einfach zu versuchen. Ich gab die vierstellige Pin-Nummer ein. Falsch. Zweiter Versuch. Wieder Falsch. Letzte Chance. Richtig! Ich glaube nicht an Glück. Habe ich schon erwähnt, daß mir eine außerordentliche Geschicklichkeit angeboren ist? Nun war es bereits halb sechs.
Nun aber schnell nach „Hetler“, um die Sachen für Lisa zu besorgen. In „Hetler“ fiel mir leider auf, daß ich den Zettel mit dem Kram von Lisa vergessen hatte. „Vergiß es“, dachte ich mir und holte alles, was mir so einfiel. Als ich an der Kasse stand, mußte ich feststellen, daß ich kein Geld im Portemonnaie hatte. Hm, ich war doch grad noch bei der Bank. Meine EC-Karte hatte ich noch. Oh, ich hatte wohl vergessen, das Geld aus dem Automaten zu nehmen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zurückzulaufen und neues zu holen. Ich lief so schnell wie möglich, die Pin-Nummer fiel mir diesmal ein und auch das Geld nahm ich diesmal mit, doch ich kam zu spät. Die Geschäfte hatten geschlossen. Ich überlegte, wie ich es Lisa erklären sollte, denn ich hatte nichts für sie besorgen können. Ich dachte, mir wird schon was einfallen und ging zu meinem Auto. Als ich dieses sah, erschrak ich, denn ich hatte vergessen das Verdeck des Cabriolets zu schließen, so daß durch den plötzlichen Regen, der Wagen pitschnaß war. Ich beschloß ihn ab sofort „Pfütze“ zu nennen. Mir blieb nichts anderes übrig, als in „Pfütze“ zu steigen und zu Lisas Eltern zu fahren. Die Mutter von Lisa war wie immer sehr freundlich und bot mir noch einen Kaffee an. Ich setzte mich...pfffffffft. Ich hatte vergessen, daß mein Hintern klatschnaß war. Obwohl ich peinlich berührt war, konnte ich den Vorgang vertuschen. Habe ich meine angeborene Geschicklichkeit schon erwähnt? Ich unterhielt mich noch ein wenig mit ihrer Mutter. Irgendwann kam Lisa rein. Oh Mann! Ich hatte vergessen, wie schön sie war. Leider blieb mir nicht viel Zeit zum geniessen.
„Hast du die Klamotten besorgt“, fragte sie.
„Ahm...ähm...eh...“
„Du hast es vergessen!“
„Nein! Ähm... hab es nicht mehr geschafft“.
„Es ist immer das gleiche mit dir! Ich mach‘ das bald nicht mehr länger mit!“
Zum Glück mischte sich nun ihre Mutter ein. „Ach, Lisa, sei doch nicht so hart mit dem Jungen. Jeder kann doch mal was vergessen“.
Freudig stimmte ich ihr zu. Lisa schluckte ihre Wut noch einmal runter. Ich glaube nicht, daß ich da nur Schwein gehabt habe, denn ich bin von Geburt an äußerst geschickt. Lisa hatte schon ein paar mal angedroht Schluß zu machen, aber bis jetzt habe ich mich immer rausreden können. Sie meinte ständig, ich wäre vergeßlich, was ich gar nicht nachvollziehen konnte. Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, sagte ich Lisa noch, daß sie nicht vergessen sollte, morgen um 10.00 Uhr am Bahnhof zu sein, wo ich sie abholen wollte. Ich stieg in „Pfütze“ und fuhr nach Hause. Dort fönte ich „Pfütze“ und packte die Koffer. Den Rest des Abends verbrachte ich damit, darüber nachzugrübeln, ob ich nicht etwas vergessen habe.

Ich erwachte am nächsten Morgen um 9.30 Uhr. Ich hatte vergessen den Wecker zu stellen. Ich verzichtete aufs Frühstück und fuhr sofort los. Es ging auch alles glatt. Ungefähr um 11.00 Uhr kam ich am Flughafen an. Mein Flugticket hatte ich... nicht vergessen. Als wir abhoben hatte ich plötzlich das Gefühl, daß ich etwas vergessen hatte. Mir fiel ein, daß ich vergessen hatte, daß Gedicht aufzuschreiben, daß mir bei der Krankenkasse eingefallen war. Ich kramte meinen Notizblock aus dem Rucksack und wollte es nun schreiben. Leider hatte ich vergessen, worum es ging. Kurz nach der Landung hörte ich in einem der Koffer mein Handy klingeln. Ich holte es aus dem Koffer und stellte fest, daß eine SMS kam. „Es ist vorbei!“, stand auf dem Display. Jetzt wußte ich was ich vergessen hatte: meine Freundin. Ich wollte noch zurückmailen, aber ich hatte vergessen, den Akku aufzuladen. Ich zerbrach mir aber auch den Kopf darüber, was ich ihr hätte sagen sollen. Wie würde sich das anhören? „Es tut mir Leid, Lisa, ich wollte dich abholen, aber ich hab dich vergessen“. Nein, das würde nicht funktionieren. „Vergiß es“, sagte ich mir und beschloß meinen Urlaub zu genießen. Lisa würde ich mit meiner angeborenen Geschicklichkeit beschwichtigen, wenn ich wieder zu Hause bin. Die zwei Wochen Urlaub waren toll. Endlich entspannen und alles vergessen.

Wieder in Deutschland, fuhr ich heim und wollte Lisa anrufen. Als ich die Wohnungstür öffnete kam mir ein bestialischer Gestank entgegen. Ich folgte dem Geruch bis in die Küche. Vor dem Kühlschrank sah ich meine Katze liegen. Ich hatte sie vergessen. Und ich mußte beim Zählen ihrer Leben irgendwo einen Vorfall vergessen haben. Nachdem ich die arme Katze begraben hatte, versuchte ich Lisa zu erreichen. Sie ließ sich jedoch am Telefon verleugnen. Es kam noch eine SMS von ihr: „Es ist vorbei, endgültig!“ Sie gab mir keine Chance meine angeborene Geschicklichkeit auszuspielen.

Ich konnte sie nicht vergessen.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
haha,

sehr amüsant. habe jetzt noch ein breites grinsen im gesicht, besonders, daß die sachbearbeiterin die muse hatte. vorher hatte der protagonist wohl die muße, ein gedicht im kopf zu haben? ganz lieb grüßt
 

gladiator

Mitglied
Lustig...

Das Motiv des Vergessens zieht sich angenehm als roter Faden durch den Text. Ärgerlich nur, daß Bankcomputer das Geld erst ausspucken, nachdem man die Karte wieder rausgezogen hat. Allenfalls wäre denkbar, daß der Schussel die Karte irgendwo hingelegte hat, nachdem er das Geld genommen hatte, um noch was anderes zu erledigen.

Aufzählungen stören nach meinem Gefühl immer ein wenig den Lesefluß. Vielleicht kann man das anders machen.

Nun schaue man sich dieses Bild an... Finde ich überflüssig, das nochmal zu beschreiben. Der Leser kann es sich bereits sehr gut vorstellen. Und es ist auch so lustig genug.

Gruß
Gladiator
 

traumtänzer

Mitglied
danke :)

hallo ihr beiden. herzlichen dankl für die rückmeldung.

@flammarion: in einem anderen forum hieß es, der text sei überfrachtet (was meint ihr). als erstes hab ich daran gedacht, daß mit dem gedicht rauszunehmen. ihr macht es einem nicht einfach :)

@gladiator: ich oute mich jetzt mal. die idee zu dem text ist nämlich aus meiner EIGENEN schusseligkeit entstanden. der vorfall bei der bank, ist mir harrgenau so passiert :)

bye
tt
 



 
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