Vergewaltigung

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Pünktlich um halb zwölf hatte Schwester Maria ihr das Mittagessen serviert. Ein ausgewogenes und reichhaltiges Mahl, das sie wieder fit machen würde für den Alltag in ihrem eigenen Zuhause. Nastassja verspeiste es pflichtbewusst, aber ohne die Begeisterung, die so liebevoll zubereiteter und köstlicher Krankenhausfraß forderte. Fou bemerkte, wie sie versuchte, sich einzig und allein auf das Essen zu konzentrieren, ihn dabei nicht anzusehen oder gar mit ihm zu sprechen, nur mechanisch die erforderlichen Schritte auszuführen. Fleisch schneiden, aufspießen, in den Mund schieben, kauen, kauen, kauen. Endlich schlucken. Den Brechreiz unterdrücken und warten, ob auch alles unten bleibt. Einen Schluck Tee zum Nachspülen. Die Beilagen: zuerst die Bratkartoffeln, dann die Erbsen und das Gemüse. Wieder von vorn, Fleisch, Tee, Beilagen, bis der Teller leer war. Blieben nur die Tabletten.

Nastassja bat Fou, sie an sich zu nehmen, nur für den Fall, dass sie wieder in Versuchung gerate. Ansonsten war sie die meiste Zeit über still. Sie hatte Fou nicht mehr angeschrien, hatte überhaupt nicht mehr viele deutliche oder gar sinnvolle Worte von sich gegeben. Zu Recht befürchtete er, dass Nastassja, obwohl sie mit all ihren spärlichen Mitteln sichtbar dagegen ankämpfte, die erst gewonnene Klarheit nicht lange würde beibehalten können. Wenigstens verweigerte sie noch das Gift.

Eben hatte sie es aufgegeben, mit ihrem Löffel im Dessert, einer beinahe farblosen Creme mit Orangenaroma, zu stochern. Sie bot ihm den Rest an, aber er lehnte höflich lächelnd ab. Nastassja befreite sich von dem Tablett und dem Polster, der sie während des Essens notdürftig in aufrechter Position gehalten hatte und verschränkte ihre Beine zu einem leidlich bequemen Schneidersitz. Schließlich erklärte sie Fou, der ihr hatte versprechen müssen, sie heute nacht nicht alleine zu lassen, wie sie nach Sankt Magdalenas gekommen war. Sie wählte die Worte sorgsam, sprach sie sehr langsam und sehr bewusst aus und spann daraus eine auffallend verständliche und zusammenhängende Erzählung. Emotional erschien sie meist weit, weit entfernt, als würde sie, selbst eher uninteressiert, einem anderen aus einem Buch vorlesen. Doch nicht bloß einmal sah er an ihren feuchten Augen, dass ein Staubkorn oder ein Haar sie reizen musste, was das Mädchen aber weder stocken noch überhaupt abbrechen ließ.

Dies also ist Nastassjas Geschichte.



"Ich werde dies so oft erzählen, so oft ich nur kann."

Ich werde dies so oft erzählen, so oft ich nur kann. Jedes Mal, wenn ich es möchte. Ich werde es dir erzählen und jedem anderen, der sich die Zeit dafür nimmt. Ich werde es so oft erzählen, so oft niederschreiben, so oft wiederholen, bis es jede Bedeutung verloren hat. Auch die allerallerkleinste. Wenn ich zu Hause vor dem Fernseher sitze, allein, und mich etwas daran erinnert, eine Farbe, ein Geruch oder ein alter Film, den ich lange nicht gesehen habe, dann werde ich es wiederholen, nur für mich. Wann immer ich es sagen muss, werde ich es sagen. Laut und unaufhaltsam. Wieder und wieder und wieder. Bis ich es nicht mehr zu tun brauche.

Ich weiß, ich bin nicht die erste Frau, der das widerfährt. Ganz im Gegenteil, es geschieht immer und überall. Es ist schon beinahe alltäglich. Nein, es ist alltäglich. Aber all das, all die Geschichten, die dir jemand erzählt, all die Dinge, die nur Fremden zustoßen in Zeitungsmeldungen und Dokumentationen und Filmen, all das bemerkst du erst, wenn es dir selbst passiert ist. Wenn du selbst beginnst, wenn du dich selbst dabei beobachtest, es fremden Menschen mitzuteilen.

Und das ist längst nicht alles. Ich nämlich hatte Glück, natürlich hatte ich das. Das weiß ich auch. Manchmal quält es mich. Warum war gerade ich die Glückliche? Warum nicht jemand anders? Viele mussten Schlimmeres, Demütigenderes, Brutaleres und Tödlicheres erleben.

Aber dies ist kein Wettbewerb. Jede Geschichte ist anders. Hier ist meine.



Der Mann war um einiges älter als ich. Ich kannte ihn schon ewig, schon seit wir in dieses Haus gezogen waren. Zugegeben, nicht wirklich gut, aber ich hatte ihn schon öfters bei uns zu Hause gesehen. Auf einen Kaffee oder ein Bier. Meistens doch Letzteres. Er hat selbst auch eine Tochter, soviel ich weiß. Sie ist ungefähr in meinem Alter, ja.

Ich frage ihn, ob er zu meinem Vater will und er nickt und erwidert, ob es mir etwas ausmache, zuvor noch ein wenig mit ihm zu plaudern und ich sage: "Na gut." und wie konnte ich nur so verdammt bescheuert sein, wie konnte ich nur. Selbst jetzt tut es weh, damals so naiv, so unschuldig, nein, das trifft es wohl nicht ganz, so blauäugig gewesen zu sein. Er will einen Schluck von der Limonade, die mein Vater mir immer gemacht hat. Er ist nämlich durstig und dazu noch überaus charmant. Also sage ich "Ja", gottverdammt, ich sage: "Ja, natürlich, warum denn nicht?". Warum denn nicht. Schließlich mochte ich ihn, irgendwo, er war ganz nett. Ein Nachbar eben. So dumm. Als ich mich nach dem Krug beuge, der am Boden steht, zieht er etwas Schwarzes, ich kann nicht erkennen, was es ist, was ist es bloß, zieht er etwas Dunkles, etwas Schwarzes aus seiner Jackentasche, er trägt eine dieser viel zu großen Fliegerjacken, die zehn, fünfzehn Jahre früher in Mode gewesen sein mussten, und schlägt mir mit diesem schwarzen Ding auf den Kopf. Er kann mich nicht richtig erwischt haben, denn ich erinnere mich, wie ich mich von ihm losreiße und versuche, ins Haus zu gelangen. Er schlägt noch zweimal zu und hier wird meine Erinnerung etwas verschwommen. Das nächste, das ich weiß, ist, dass ich die Augen öffne und unter mir und zwischen meinen Fingern Erde spüre. Erde und Steine. Mein Kopf liegt auf der Seite und ich sehe die Hollywoodschaukel und sie schwingt allein und sie ist so weit fort. Ich kann kaum atmen. Etwas Schweres sitzt auf mir und nimmt mir die Luft. Mein Kopf tut höllisch weh. Etwas Warmes rinnt mir von der Stirn ins Auge und ich taste danach, um zu sehen, ob es Blut ist oder bloß Limonade. Jemand hält meine Hände fest. Die Flüssigkeit erreicht meine Lippen und sie ist gar nicht süß oder fruchtig. Ich drehe den Kopf und sehe, wie er auf meiner Brust sitzt. Er wartet, bis ich mich wieder ein wenig erholt habe, dann zeigt er mir das schwarze Ding, mit dem er mich k. o. geschlagen hat. Ein Hammer. Kein großer, so ein kleiner, ich weiß nicht genau, wie man die nennt, einer, um kleine Steine zu bearbeiten. Um daraus Figuren zu machen oder so. Er nimmt den kleinen Hammer und streicht mir damit über das Gesicht. Ich bin noch zu benommen, um darauf zu reagieren, aber natürlich weiß ich, was jetzt passieren wird. Wie kann er das nur tun, denke ich mir, warum würde irgendjemand mir so etwas antun? Und mein nächster Gedanke ist, wie konnte ich nur so unglaublich bescheuert sein, ihm ein Glas Limonade anzubieten und wieso habe ich mich nach unten gebeugt und wie konnte ich nur mit ihm plaudern wollen und überhaupt. Wieso, verdammt. Das Metall ist kalt. Er schlägt mir damit leicht auf die Stirn. Er grinst. Alles ist so verdammt lustig. Mehr Blut rinnt über mein Gesicht. Er steckt mir den Hammer in den Mund und ich sehe, wie seine Lippen sich bewegen, wie er irgendwas sagt, aber ich höre nur mich selbst stöhnen. Mein Körper schmerzt überall und Blut rinnt über mein Gesicht und ich habe diesen Hammer in meinen Mund und das ist der Moment, an dem ich das erste Mal daran denke, sterben zu müssen. Du wirst hier sterben, Nastassja, hier, in deinem eigenen Garten, ein paar Meter von der rettenden Hollywoodschaukel entfernt. Selbst-gemachte Limonade wird den Boden der Veranda ganz süß und klebrig machen und du wirst tot sein. Er reißt den Hammer aus meinem Mund und ich spüre, wie ein Zahn sich lockert. Er befiehlt mir, sein Gesicht zu berühren. Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber er wird wütend, sehr wütend und packt meine linke Hand. Noch immer spüre ich den Hammer an meiner Wange. Er leckt meine Finger ab, aber ich denke nur an diesen Hammer und ich versuche meinen Kopf zu drehen, um ihn besser sehen zu können, um das Blut zu sehen und die Haare, die auf ihm kleben. Er drückt meine Hand auf die Erde zurück und gibt mir wieder irgendwelche Anweisungen, die ich nicht verstehe. Er riecht sehr stark, aber nicht unangenehm. Und ich denke, warum riecht er nicht un-angenehm? Seine Hände sind überall auf mir. Sie sind kalt und schwitzen. Er kratzt und reißt an meiner Kleidung und meiner Haut und als ich endlich versuche, mich loszureißen, schlägt er mir mit der Faust mitten ins Gesicht. Ich spüre, wie der lockere Zahn in meinem Mund sich löst. Es tut nicht sonderlich weh. Ich wage nicht, ihn auszuspucken. Dann rutscht er nach unten und drängt seinen schweren Körper zwischen meine Beine. Ich weiß nicht, ob ich mich noch wehren soll, ich glaube, ich kann es nicht. Er sagt, ihn soll ihn ausziehen, sagt, ich soll seine Hose öffnen, um seinen großen Bruder herauszulocken. Ich tue nichts, also beginnt er, mich zu würgen, schlägt mich, würgt mich wieder. Ich huste und muss den Zahn ausspucken. Er bemerkt es nicht oder es kümmert ihn nicht. Jetzt wird es geschehen, jetzt wird es geschehen, denke ich, aber ich will nicht, dass es geschieht. Ich bin zu jung und das ist der falsche Ort und ich sollte im Haus sein, ich sollte bei meinem Vater sein und wo ist der eigentlich und ich hätte ihm keine Limonade geben sollen, hätte ihm niemals diese Limonade geben sollen. Da verstehe ich: ich werde das hier überleben und ich wiederhole den Satz wieder und wieder in meinem Kopf. Du wirst das hier überleben! Ich wiederhole ihn, als ich versuche, den Reißverschluss seiner Jeans zu öffnen, aber meine Finger sind kalt und sie zittern und ich rutsche ab. Und ich versuche es wieder und rutsche wieder ab. Er wird rot im Gesicht und sagt irgendwas Schreckliches zu mir, sagt irgendwas wie: "Du bist ja zum Scheißen zu blöd." Er macht es selbst. Er zieht seine Jeans und seine Unterhose runter bis auf die Knie. Er zittert. Er reibt sich an mir, fest. In seiner Linken hält er noch immer den Hammer. Ich möchte die Augen schließen, aber ich kann nicht. Er keucht und spuckt mir ins Ohr. Finger bohren sich in mein Fleisch. Er reißt mein T-Shirt hoch und ich beginne zu zittern, wegen der kalten Herbstluft. Er zieht meinen Rock hoch und er sagt: "Na gut, also los." Ich frage mich, wie er so etwas Dummes sagen kann, in dieser Situation, auf mir drauf und ob er das immer sagt. Wieder fange ich an, meinen Satz zu wiederholen: du wirst das überleben. Aber ich habe solche Angst, dass ich es nicht überleben werde. Er wird mich töten. Ich muss ruhig bleiben, sage ich mir. Ich bin kräftig, aber wenn ich mich wehre, tötet er mich. Dann tötet er mich mit seinem Hammer oder seinen Fäusten oder was auch immer er in seine Hände bekommt. Ich bleibe nicht ruhig, ich kann es nicht. Ich verkrampfe und beginne zu weinen. Er sagt, wenn du gut zu mir bist, wird dir auch nichts Böses passieren. Aber ich weine und er sagt, dass ich mich nicht wie ein Baby benehmen solle, dass ich das ja ohnehin schon so oft gemacht habe, er habe sie gesehen, die Jungs, die ich ran gelassen habe, die Jungs, die ich unter meinen Rock gelassen habe und er sagte, wie sehr ich seinen Schwanz in mir spüren möchte und dass ich das ja schon wolle, seitdem ich laufen könne. Schließlich dringt er in mich ein. Beim dritten Versuch gelingt es ihm erst und es tut höllisch weh. Es brennt und es sticht. Ich tue nichts. Ich beobachte, tue aber nichts, bewege mich nicht. Alles geschieht in Zeitlupe. Ich spüre nichts. Er bewegt sich auf und ab. Ich spüre nichts. Durch die Büsche, die unseren Garten vom nächsten abgrenzen, sehe ich Herrn Miller, den Nachbarn. Er spricht mit seiner Frau. Sie unterhalten sich über den neuen Rasenmäher, den sie kaufen wollen. Eben startet er den alten. Er mäht den Rasen und gelegentlich kommt er so nah an die Büsche heran, dass ich glaube, er wird gleich in unserem Garten mähen. Ein stechender Schmerz holt mich zurück. Der Mann auf mir. Er bohrt seine Fingernägel in mein Fleisch. Die Spitzen seiner Finger sind weiß, so fest drückt er zu, an ihren Enden sehe ich Blut. Er kratzt und zerrt und beißt an meiner Haut. überall auf meinem Bauch sind blutige Striemen, auch an meinen Schenkeln. Er beißt in meine Brust. Er unterdrückt meine Schreie mit seiner Faust. Ich weiß nicht, wie lange das so weitergeht und was er alles mit seinen Fingern und seine Zähnen und seinem Hammer anstellt. Irgendwann zieht er sein Ding aus mir raus und schüttelt es über mir ab. Er lässt mich am Boden liegen. Er tötet mich nicht. Es beginnt zu nieseln. Dann ist er fort und es ist vorbei.


Später hörte es auf zu regnen. Herr Miller mähte nicht mehr seinen Rasen und ich lag neben den Büschen, lag im Dreck und versuchte, den Mut zu finden endlich aufzustehen. Ich hatte überlebt und irgendwie war mir das mittlerweile nicht mehr so wichtig. Ich richtete mich auf. Blut rann meine Beine hinab und ich weiß nicht, ob ich nur meine Periode hatte oder er mich verletzt hatte. Ich musste würgen. Ein bitterer Geschmack erfüllte meinen Mund. Ich zog den Slip hoch und rückte meinen Rock zurecht. Das, was vom Shirt übriggeblieben war, stopfte ich darunter. Alles war voller Schlamm und Blut und Sperma. Ich wünschte mir, der leichte Schauer, der plötzlich aufkam, würde es fortwaschen. Der Dreck ging nicht ab. Solange ich auch dort stand in diesen zerfetzten Kleidern. Völlig nutzlos, er ging nicht ab. Irgendwo lag ein Zahn von mir. Zweimal übergab ich mich, das meiste davon blieb in meinen Haaren hängen. Ich band sie zusammen. Du bist am Leben, Nastassja, sagte ich immer wieder zu mir. 

Ich zog meine Schuhe aus und ging durch das feuchte Gras zurück ins Haus. Mein Vater saß im Wohnzimmer. Er sagte, dass ich nicht mit dreckigen Füßen über den Teppich laufen solle. Er sagte nichts über mein zerrissenes T-Shirt, nichts über das Blut, nichts sonst, ja, er sah noch nicht einmal von seiner Lektüre auf. Ach ja, und er fragte mich, ob ich nicht eine Tasse heißen Tee möchte. So eine Tasse macht alles wieder gut, hat er gesagt, auch die Leiden des Herzens. Ich antwortete ihm nicht. Bis zum heutigen Tag nicht.

Ich ging nach oben und nahm eine lange Dusche. Heiß, kalt, wieder heiß. Ich wechselte die Kleidung, warf die alte fort und ging zu Bett, so wie an jedem anderen Tag auch.



Fou nahm sie in den Arm, obwohl er wusste, dass er das nicht tun sollte. Er küsste sie auf die Stirn, obwohl ihm bewusst war, dass es eine Dummheit war. Er nahm sie in den Arm, küsste sie auf die Stirn und als sie zu weinen begann, zog er seine Hand zurück und saß da und sprach kein einziges Wort mehr, bis sie eingeschlafen war. Vielleicht war sie erschöpft gewesen.

Er deckte sie zu und setzte sich in einen Sessel. Ihre Puppe, die noch immer keinen Namen erhalten hatte, hielt er die ganze Zeit über, in der sie schlief, fest in beiden Händen, vorsichtigst darauf bedacht, ihrem Mund nicht zu nahe zu kommen. Nastassja würde ihre Ruhe bekommen.

Irgendwann später war der Tag zu Ende.

Aus: Nastassja zu brechen - ein bitteres Märchen
Mehr? http://www.wer-ist-monsieur-fou.com/nasstart.asp
 



 
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