Verhüllung

5,00 Stern(e) 1 Stimme

Raniero

Textablader
Verhüllung

Endlich war es soweit! Ich hatte es geschafft. Das fertige Buch lag vor mir. Ein Buch mit über dreihundert Seiten. Ledergebunden, mit ansprechendem Cover.
Die Mühe hatte sich gelohnt, letztendlich. Doch nun erhob sich eine Frage, die weitaus schwieriger zu beantworten war, weitaus mehr Kopfzerbrechen verursachte als die gesamte Fertigstellung des Werkes. Wohin mit diesem Buch?
Natürlich verfügten wir, meine bessere Hälfte und ich, über ein Bücherregal; über Regalsysteme gar.
Doch diese waren leider alle belegt, durchweg, mit gemischter Literatur, von Kochbüchern mit chinesischen Gaumenfreuden über Lexika bis hin zu den Werken der Weltliteratur. Da die meisten Freunde des geschriebenen Wortes von Natur aus zum Aberglauben neigen, so war auch ich der Meinung, dass man meinem Buch nicht zumuten könnte, es neben andere Texte in ein und dasselbe Regal zu stellen.
Nein, dieses mein Erstlingswerk sollte einen besonderen Platz erhalten, an einer Stelle, wo es unbeeinflusst von anderem Geschriebenem seinen Esprit verströmen konnte.
So war ich denn gezwungen, zu handeln, unverzagt und unverzüglich.
Ich entfernte alle vorhandenen Bücherregale aus unserem Wohnraum und verbannte sie in einen Nebenraum, nebst Inhalt. Während der Ausführung dieser Aktion entschuldigte ich mich bei jedem einzelnen Buch, gerührt und unter Tränen, für diesen unabdingbaren Ortswechsel. Die Bücher hatten offensichtlich Verständnis für meine Gemütslage; sie widersprachen mir nicht. Sodann ließ ich an der leeren Stelle im Wohnzimmer ein neues Regal, eine Bücherwand, errichten, in gleicher Art und Größe wie das vorherige.
In der Mitte dieses Regals deponierte ich schließlich gut sichtbar, in Augenhöhe eines Erwachsenen von normaler Größe, mein Meisterwerk. Phantastisch!
Es machte sich gut, das Buch, in der ansonsten leeren Wand.
Wir konnten den Blick kaum lösen, meine Frau und ich von diesem herrlichen Bild, was sich uns darbot.
Nachdem wir so an die drei Stunden in vollkommener Verzückung und Entrückung vor der Bücherwand verbracht hatten, wurden wir beide im gleichen Augenblick von einem merkwürdigen unbestimmten Gefühl erfasst.
Irgendetwas war nicht vollkommen, an diesem Anblick, irgendetwas fehlte, etwas Grundlegendes, Entscheidendes.
Wir vermochten längere Zeit nicht zu sagen, was dieses Etwas war, dieses Existentielles.
Wir blickten uns schweigend an, mein Weib und ich, und wiederum hatten wir, gleich einer telepatischen Strömung die gleiche Eingebung, die gleiche Idee.
„Eigentlich soll es ja ein Bücherregal darstellen“, seufzte meine bessere Hälfte, „und nicht ein Buchregal! Aber es stehen keine Bücher drin, nur ein Buch, ein einmaliges Werk, sicherlich, aber nur ein einziges Buch, man kann es drehen und wenden, wie man will“.
Sie sprach im Plural, sie sprach von Büchern, obwohl mein singulares Werk dieses Regal zierte!
Mein singuläres Werk reichte nicht aus, den Pluralismus einer Bücherwand zu erfüllen.
Ich musste insgeheim eingestehen, dass es auch mir besser gefallen hätte, wenn das ganze Regal prall gefüllt wäre, mit meinen eigenen Werken, doch da ich für dieses eine Opus bereits einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren verbraucht hatte, sah es nicht danach aus, dass sich diese Wand zu meinen Lebzeiten mit meinen Werken füllen würde.
Guter Rat war teuer.
Wir grübelten und grübelten; eine Lösung war nicht in Sichtweite.
So beschlossen wir schließlich, eine Nacht darüber zu verbringen, in süßem Schlummer. Die Nacht soll ja ein guter Ratgeber sein, so heißt es bekanntlich.
Doch solange brauchten wir nicht zu warten.
Als ich kurz den Fernseher einschaltete, liefen gerade die letzten Tagesnachrichten.
Was sahen wir auf dem Bildschirm? Den Reichstag in Berlin; das heißt, wir konnten ihn eigentlich nicht sehen, wir sahen nur eine Hülle, eine Verpackung.
Der Reichstag war vor geraumer Zeit verhüllt worden, von einem weltbekannten Künstlerpaar, bekannt und berühmt für derartige Großaktionen.
Das war es! Ich schrie auf vor Freude. Meine Frau blickte mich an, als habe nicht mehr alle Sinnen beisammen.
Ich klärte sie auf.
„Schatz, das ist die Idee. Was liegt näher, als Kunst mit Kunst zu verbinden. Wir lassen es einhüllen, das geschriebene Wort! Allüberall auf der Welt wird verhüllt und eingehüllt, große Bauwerke werden durch diese Aktionen herausgehoben und auf diese Art wird ihre besondere Bedeutung noch überhöht und herausgestrichen. Warum sollte man nicht das, was man mit diesen großen Bauwerken veranstaltet, nicht auch einem vom äußeren Umfang kleineren Kunstwerk angedeihen lassen? Lass es uns versuchen!“

Meine Gattin war sofort angetan von dieser genialen Idee.
Wir setzten uns gleich am nächsten Tag mit dem berühmten Künstlerpaar in Verbindung und vereinbarten einen Termin zur Projektbesprechung.
Zum vereinbarten Termin fanden wir uns gemeinsam ein in unserer Wohnung, und nahmen Platz am Tisch, in unserem Wohnzimmer, unmittelbar vor dem Verhüllungsobjekt. Die großen Künstler mussten etwas missverstanden haben, am Telefon, bei der Einladung zur Besprechung, denn sie stellten zu Beginn gleich einen Katalog von merkwürdigen Fragen.
So wollten sie außer den Angaben über Größe und Beschaffenheit des Objektes Näheres wissen über dessen Lage, in freier Natur oder innerhalb enger Bebauung, über die Zuwegung, war sie mit normalen Straßenfahrzeugen zu erreichen oder mussten ausgeklügelte Transportwege erdacht werden oder kam gar ein Hubschraubereinsatz in Frage; welche Art von Gerüstsystemen kamen in Frage.
Darüber hinaus sollten wir Aussagen machen über den Anspruchsgrad des Verhüllungsmaterials wie Temperaturschwankungen von bis zu achtzig Grad Celsius sowie dessen Reißfestigkeit wie auch Elastizität.
Aus all diesen Fragen gewannen wir langsam den Eindruck, dass sie beabsichtigten, einen Staudamm zu verhüllen.
Meine Frau und ich sahen uns an, sprachlos. Temperaturschwankungen bis zu achtzig Grad? Gerüstsysteme? Hubschraubereinsätze?
Wir blickten beiden Verhüllungskünstler an, stumm, und zeigten zaghaft auf die Bücherwand. Die Künstler schauten in die Richtung, die wir angezeigt hatte, dann schauten sie uns an, meine bessere Hälfte und mich und fassten sich an den Kopf.
„Sie meinen doch nicht“, stammelte der Verhüller, „Sie meinen doch nicht, nein, das kann doch nicht wahr sein! Sie wollen, dass wir das Regal verhüllen, dieses Regal dort?“
Beide brachen in ein Gelächter aus, wie ich es von künstlerischen Menschen noch nie vernommen hatte.
Erschreckt sprang meine Frau auf, eilte an den Kühlschrank und stellte eine Flasche Hochprozentiges auf den Tisch.
Als sich unsere Künstler wieder einigermaßen beruhigt hatten, nach mehreren Gläsern des hochprozentigen Getränkes, fasste ich mir ein Herz und begann, unsere Motive für diese ungewöhnliche Verhüllung zu erläutern.
Je mehr ich auf sie einsprach, einflehte, umso mehr legte sich ihr ungläubiges Erstaunen und ihre anfängliche Heiterkeit.
Am Schluss meiner Ausführungen stimmten sie mir sogar lebhaft zu und fragten sich, warum sie nicht selbst schon auf so eine Idee gekommen waren.
Offensichtlich hatten sie eine Marktlücke erspäht.
Flugs eilten sie zu ihrem Fahrzeug und kehrten mit dem gesamten Material, das sie brauchten zurück; diese Menge Material führten sie immer bei sich, damit sie ihren potenziellen Auftraggebern direkt vor Ort ein Modell für das Original erstellen konnten.
Das letzte Modell, was sie gefertigt hatten, war tatsächlich eine Miniaturausgabe eines Staudammes.
Sie verhüllten kunstgerecht die komplette Bücherwand, bis auf einen kleinen Ausschnitt von zehn mal zwanzig Zentimetern. Aus dieser Öffnung lugte mein Opus hervor, für jedermann sichtbar, beim näheren Hinsehen, als Kunst in der Kunst!
Nach erfolgreicher Fertigstellung präsentierten sie uns sofort ihr Honorar. Aus der Höhe dieser Summe hatten wir wiederum das Gefühl, wir hätten die Verhüllung eines gesamten Staudammes in Auftrag gegeben, im Original; aber was tut man schließlich nicht für die künstlerische Eitelkeit.

Um dieses epochale Ereignis gebührend zu feiern, luden wir für das kommende Wochenende ein befreundetes Ehepaar ein.
Freunde von erlesener Kultur und überragender Bildung, die neben einem Theaterabonnement auch über einige Bücher verfügten; mithin genau die Personen, die den richtigen Rahmen abgaben für die Würdigung dieses außergewöhnlichen künstlerischen Höhepunktes und von denen wir eine angemessenen Wertschätzung
unseres einmaligen Geniestreiches erwarten durften.
Wir hatten kaum Platz genommen, am Tisch in unserem Wohnraum, als unsere Gäste mit Blick auf das neugeschaffene Kunstwerk ausriefen, mit einem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns.
„Aber warum habt ihr uns denn nicht gesagt, dass ihr gerade tapeziert, wir hätten diese Einladung heute doch verschieben können. Ach, schaut mal, da ist ja noch ein Loch in der Plane, habt ihr das gesehen? Das würde ich aber noch zukleben, an eurer Stelle, sonst verstaubt ja das ganze schöne Regal!“
Mein Frau und ich blickten uns entsetzt an. War das die von uns erwartete Reaktion unserer lieben kunstbeflissenen Freunde, der erwartete Ausdruck euphorischer Wertschätzung. Statt in Jubelrufe der Verzückung auszubrechen, faselten sie von einem Loch in der Plane. Wir verzichteten darauf, unsere Freunde aufzuklären, über die wahre Kunst, und mit großer Mühe und kaum verhüllter Enttäuschung brachten wir diesen Abend über die Bühne, unterstützt von einer Menge hochprozentiger Getränken.

Am nächsten Tag rissen mein Weib und ich in maßloser Verbitterung die „Plane“ herunter und warfen sie auf den Müll.
Anschließend erteilte ich mehreren Übersetzungsbüros den Auftrag, mein Buch in alle Sprachen und Dialekte der Weltgemeinschaft zu übersetzen.
Und so steht sie nun da, unsere Bücherwand, prall gefüllt, mit meinem eigenen Werk, und dazu noch verständlich bis in den letzten Winkel dieses Planeten.
 
Warum reissen sie die Plane erst am nächsten Tag voll Verbitterung herunter? Wenn ich so verbittert wäre, würde man das doch sofort machen, ohne erst lang drüber zu schlafen?

Marius
 
S

Saurau

Gast
Sehr lustig! Damit auch wirklich jeder die Kunst versteht!

witzige geschichte

Lg daniel
 

Raniero

Textablader
Hallo Daniel,

freut mich, dass Dir die Vrhüllung gefallen hat.

Gruß Raniero

PS
Entsprechend dem alten Bibelspruch 'Es ist nicht gut, dass ein Buch allein sei' hat dieses ein Brüderchen bekommen.
:)
 

Gorgonski

Mitglied
Sehr gut

Mir hat die Geschichte auch gefallen und man kann nur hoffen, daß der Hochprozentige keinen bleibenden Schaden hinterlassen hat. Die Auflösung des Ganzen mit den Übersetzungen ist zweifelsfrei geschickt gewählt, aber das kann man von einem designierten Schreiberling (lt. Deiner Homepage) auch erwarten.
Prima, weiter so.

MfG, Rocco
 

Raniero

Textablader
Hallo Rocco,

wollen wir doch hoffen, dass der Hochprozentige (noch) keine bleibenden Schäden hinterlassen hat.:)

Gruß Raniero

PS
In Anbetracht der Tatsache, dass sich zu dem Erstlingswerk mittlerweile ein zweites hinzugesellt hat und darüber hinaus in Kürze ein drittes einstellen wird, werde ich wohl oder übel einige von den Übersetzungen entfernen müssen (oder ein weiteres Regal kaufen)
 



 
Oben Unten