Verloren

Verloren

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Hälfte des Lebens - Friedrich Hölderlin

Erneut sitze ich vor dem Fenster und werde hinunter gezogen in tiefe, klebrige Schwärze. Meine Gedanken fliegen zu einer einzigen Szene zurück, bleiben daran haften. Eine Szene für die Handlung so unbedeutend, für mich doch allumfassend. Inmitten dieser großen Katastrophe, welche der Film beschreibt, inmitten zwischen unzähligen, schrecklichen Schicksalen kniet diese ältere Frau - es ist ihr erster Auftritt, eine Statistin, namenlos, gänzlich unbekannt, nur ein Beispiel unter vielen, ein Sandkorn in der großen leidgetränkten Wüste – und wiegt ihren toten Ehemann in ihren Armen. Tränen stürzen aus meinen Augen. Die Erinnerungen überschwemmen mich, schlagen über meinem Kopf zusammen, reißen mich mit sich. Ich kann mich nicht wehren und gebe schließlich nach.

Es ist Herbst. Im Herbst bereiten sich die Bäume auf das Sterben vor. Irgendwie zumindest. Jeder weiß das. Aber wir erfreuen uns nur an den blutrot gefärbten Blättern, die sie uns zurück lassen, als letzten Gruß. Es war Herbst. Ich kam von der Schule nach Hause. Meine letzte Stunde war Deutsch, Friedrich Hölderlins „Hälfte des Lebens“ wurde analysiert. Auf dem alten Holztisch, der uns ewig begleitet hatte, thronte jene schwarze Mappe mit ledernem Einband, ein in sich verschlungenes, silbernes Kreuz zierte die Vorderseite. In diesem Moment wusste ich, dass er tot war.
Einige Wochen zuvor war mein Großvater plötzlich erkrankt. Kurz nach ihrer Goldenen Hochzeit. 50 Jahre verheiratet, mindestens 53 zusammen. Seine Agilität, seine Freude wurde von seinem eigenen Körper verzehrt. Manchmal kam er mir nur noch vor wie ein Schatten seiner selbst. Sein Lächeln, das liebevollste Lächeln das ich kenne, schien gequält. Er war sehr schwach. Meine Eltern und meine Großmutter machten sich sorgen, zogen sein Ende in Erwägung. Ich winkte lediglich ab. Warum sollte ausgerechnet mein Opa sterben? Natürlich nahm auch ich seinen veränderten Zustand wahr.
Er hatte sich so einen Wagen gekauft, nach seinem ersten Krankenhausaufenthalt. So einer mit dem man alte Leute manchmal in der Stadt herum fahren sieht. Mit Motor. Einen „Scooter“ sagte er immer. Um mobil zu bleiben. Er wolle schließlich noch so viel erleben und sehen mit Anna, meiner Oma. „So viel“ ging nicht mehr über unser Haus und das Krankenhaus hinaus. Mehr sah er nicht mehr.
Ihm ging es besser. Wunderbar. Die Ärzte waren zuversichtlich. Wir waren zuversichtlich. Wenn ich darüber nachdenke fällt mir auf, dass ich nie wirklich damit gerechnet hatte, dass er sterben könnte. Ich denke ich wollte es nicht wahr haben, konnte mir nicht vorstellen ohne ihn zu leben.
„Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist, die Blumen, und wo den Sonnenschein und Schatten der Erde?“
Das erste was er zu Hause tat war all seine Hühner zu schlachten. Warum? Eine Art Liebesbeweis an meine Oma. Sie war ebenfalls erkrankt und der Grund für ihre ständige Atemnot, so die Ärzte, war Staub der durch Hühner entsteht. So ging er am Tag seiner Krankenhausentlassung in den Garten und schlachtete jedes einzelne Huhn. Zu diesem Zeitpunkt hatte er seine Welsumer über 20 Jahre lang gezüchtet. Wenn das keine Liebe ist.
An eine Szene erinnere ich mich als wäre es gestern gewesen. Von meinem Zimmer aus gab es einen direkten Zugang zu der Wohnung meiner Großeltern. Eines Nachts hörte ich wie er im Flur hinfiel. Binnen weniger Sekunden hatte ich die Tür aufgerissen und sah ihn dort liegen. Er sah mich an, sagte kein Wort. Ich wollte ihm helfen wieder aufzustehen, aber ich konnte nicht. Ich stand nur da und sah ihn unverwandt an. Nach mehreren Minuten oder auch einigen regnerischen Tagen war es meine Oma die ihm halt gab.
Weiß man, dass man sterben muss? Er brach zusammen, ich war in der Schule. Das einzige was er zu meiner Mutter sagte war: „Ruf nicht den Krankenwagen. Wenn ich jetzt ins Krankenhaus komme, komme ich nie wieder nach Hause.“ Und er hatte recht.
„Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen.“
Besucht habe ich ihn nie. Wollte ihn nicht so sehen. Ich bereue es oft. Aber ich frage mich jedes mal ob er es gewollt hätte, dass ich ihn so sehe. Er war gerade 70. Das ist kein Alter.
Menschen im Koma sollen Besucher bemerken, sollen Stimmen hören und sich nachher daran erinnern können wer an ihrem Bett gewacht hat. Ihn konnten wir nicht mehr danach fragen.
Seit dem war ich nicht mehr in der Kirche. Nicht einmal Weihnachten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mir in den Kopf gesetzt hatte Theologie zu studieren. Das war vorher. Ewig her. Wie könnte ich an jemanden glauben, der den Liebsten Menschen dieser Welt nimmt? Der Tod meiner Oma nur drei Monate später bestärkte mich noch darin. Sie durfte den Frühling, die Sonne, ihren Garten, nach dem sie sich so sehr sehnte, nicht mehr erleben. Der Verlust saß zu tief. Wenn das keine Liebe ist.
Ich fühle mich oft schuldig. Es hat mich genervt. Das sollte man nicht sagen. Wir waren nicht im Urlaub weil wir, vor allem meine Mama, sich um Oma kümmern mussten. Sie bekam keine Luft, war ständig an so eine Maschine angeschlossen, die doch nichts brachte. Es hat mich fertig gemacht. Nach der Schule, jeden Tag, habe ich ihr Essen gekocht. Seit Beginn meines Lebens hatte sie das für mich getan. Ich half ihr vom Bett zu ihrem Sessel zu kommen und vom Sessel ins Bett.
Mein Vater hatte die Wohnung umgebaut. Geschlafen wurde nun nicht mehr in der ersten Etage sondern im Erdgeschoss. Sie konnte keine Treppen mehr steigen, aber vor allem wollte sie nicht mehr in ihrem Schlafzimmer sein. Das konnte sie nicht. Manchmal saß ich in eben diesem vor dem großen Bett, wenn niemand im Haus war und Oma schlief, und habe einfach nur geweint. Das habe ich sogar später noch gemacht, nach ihrem Tod, als die Wohnung schon zu meiner umgebaut war.
Ich half ihr bei allem. Es hat mich fertig gemacht, und dann war sie tot. Sie war tot als ich in der Schule war, sie war tot als ich im Bus stand, sie war tot als ich mir Sorgen um die Klausuren machte, sie war tot als ich in unsere Straße einbog. Und genau in diesem Moment war mir bewusst, dass sie tot war. Schon wieder. Ich wusste, dass es zu Ende war. Für sie und für uns. Wir würden wieder in den Urlaub fahren können. Dieser Gedanke schoss mir durch den Kopf und ich habe mich dafür selbst so sehr gehasst. Und wieder sah ich die selbe schwarze Mappe mit ledernem Einband auf dem Küchentisch liegen, in dem Haus was meine Eltern und meine Großeltern zusammen eigenhändig gebaut hatten, in dem Haus, dass uns allen seit jeher ein zu Hause war. Doch plötzlich waren wir allein, war ich allein.
An diesem Tag hatte ich überraschend schon nach der 5. aus. Meine Eltern waren nicht da. In mir keimte noch einmal die Hoffnung, dass meine Gefühle mich getäuscht hatten und ich wollte hinunter gehen um ihr etwas zu essen zu machen. Sie würde dort sitzen in ihrem Sessel am Fenster und hinaus in den Garten schauen. Doch als ich die Tür öffnete rief mich meine Mutter zurück. Meine Hoffnung zerbrach. Wir waren allein.
Sie hatte im Schlaf einfach aufgehört zu atmen. Ein Tod den sich viele wünschen. Im hohen Alter, nach einem erfüllten Leben im Schlaf einfach aufhören zu atmen. Friedlich sterben. Für mich war das ein schwacher Trost. Und auch die Tatsache, dass ich wusste, dass sie meinen Großvater über alle Maßen vermisst hatte linderte meinen Schmerz. Sie wollte das Ende, zumindest ein Teil von ihr. Irgendwie. Doch sie sah nicht zufrieden aus. Kein friedliches Lächeln auf ihren Lippen. Sollte man das nicht haben nach dem Tod? Sie hat sich gequält. Man konnte es ihr ansehen. Ich konnte es. Und trotz alledem war ihr Tod für mich nicht so schlimm wie der meines Opas. Sie waren wieder zusammen. Wenn das keine Liebe ist.
„Mit gelben Birnen hänget und voll mit wilden Rosen das Land in den See. Ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen tunkt ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser.“

Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich nie wieder mit ihnen reden, nie wieder ihre und seine Stimme hören würde. Besonders dieser Gedanke lässt mich heute noch zerbrechen, aber ich habe gelernt mich wieder zusammenzusetzen, wenn es geschieht. Kein Meckern mehr über das doch immer leckere, tägliche Mittagessen, was ich seit 15 Jahren genießen durfte. Keine Treckertreffen, keine Hühnerausstellungen, kein Plätzchen backen. Opa sitzt rechts am Tisch, ich ihm gegenüber. Neben ihm mein Cousin, neben mir Oma. Sie reicht uns das Essen, sagt mir, dass sie die Suppe mit Maggiewürfeln gemacht hat, weil sie denkt ich mag das besonders gerne. Bis heute weiß ich nicht wie sie darauf kam. Opa macht schlechte Witze, Dominik regt sich darüber auf. Ich lache. Ich lachte. So stelle ich mir das Paradies vor.
Ich saß einfach nur da. Sah nach rechts, nach links. Niemand saß dort. Dort, an jenem Tisch, an dem wir so oft gesessen hatten. gesessen, gelacht, geweint, gestritten, geschwiegen. Niemand. Ich wusste, dass ich allein war. Sie waren fort. Fort für immer. Nie wieder würde ich dort sitzen wie früher. Nie wieder mit ihnen sitzen, lachen, weinen, streiten, schweigen. Es war alles so leer, so still, so unbarmherzig still. Es fühlte sich alles so taub an, so echt, nicht wie ein Traum. Ich saß einfach nur da. Es war der schlimmste Traum meines Lebens.
Kurz vor dem Feiertag des Jahres war ich am Tiefpunkt angelangt. Ich konnte weder vor noch zurück, steckte fest inmitten dieser Weihnachtsstimmung, inmitten der Weihnachtskugeln, dem Weihnachtsglitter, der Weihnachtsplätzchen und Geschenken, der Engel, der von Kindern neu interpretierten Weihnachtslieder und dem Schneegestöber vor den Türen. Ich war von der gesamten Situation vollkommen überfordert. Meine Gedanken schwirrten. Mir ging so viel durch den Kopf. Ich hätte auf der Stelle losschreien können, aber dann hätte irgendjemand bemerkt was in mir vorging, oder auch nicht, und das, obwohl es mich wahrscheinlich erleichtern würde, kam nicht in Frage.
Bei all diesen Erinnerungen und Träumen bleibt nichts mehr übrig. Kein Platz für neues, für die Schule, für mich, und das ist das Schlimmste. Das Einzige was zurück bleibt, sind die schönen Zeiten, in denen wir zusammen mit unseren Eltern vor dem Fernseher saßen und uns Disney-Filme ansahen. Diese Momente waren noch so etwas wie vollkommene Glückseligkeit. Heute ist das leider nur noch sehr selten. Doch dies sind auch nur Erinnerungen in den tiefen wabernden Schwaden meines vollends überforderten Gehirns.

„Ach, die ist stark, die schafft das schon.“, „Ach ihr geht das nicht so nah, die kriegt das schon hin. Sie kommt darüber weg.“. Nach Außen hin bin ich das auch. Doch bei jedem Gedanken an sie, bei jeder Erinnerung, bei jeder Szene im Fernsehen mit älteren Menschen könnte ich sofort anfangen zu weinen. Selbst jetzt kann ich mich nicht zurück halten. Ich habe gelernt mich zu kontrollieren oder es zu verbergen, aber nicht damit umzugehen. Das habe ich noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal mir selbst. Würde ich mir das eingestehen wüsste ich, dass ich schwach bin. Und ich muss stark sein.
Mir fehlte ein Abschied, eine Verabschiedung, so etwas gab es weder bei meinem Opa noch meiner Oma. Ich kann mich nicht an die jeweils letzten Gespräche erinnern. Ich hoffe nur immer, dass sie nicht böse auf mich waren weil ich irgendetwas schlimmes gesagt habe. Und selbst wenn hoffe ich, dass sie wissen wir sehr ich sie geliebt habe und dass ich es selbst wusste. Besonders an Weihnachten und anderen Feiertagen spüre ich diese Einsamkeit. Wir sind nur noch zu Dritt.
Irgendwann wird vielleicht alles einen Sinn ergeben. Irgendwann kann ich vielleicht ein älteres Ehepaar sehen ohne, dass alles zerspringt. Ich werde warten.
„Es gibt fünf Phasen der Trauer: Verweigerung, Wut, Verhandlung, Depression, Akzeptanz. Das Gemeinste daran ist, dass es in dem Moment, in dem man glaubt man hätte es überstanden, wieder von vorne losgeht. Und immer, jedes mal, verschlägt es einem den Atem. Es gibt fünf Phasen der Trauer. Jeder erlebt sie anders. Aber es sind immer fünf.“

Für Günther und Anna F., In Liebe, Nadine
 

nichts

Mitglied
Ich dachte immer, es wäre leichter, wenn alte Menschen sterben. Weil sie ja "ihr Leben gelebt haben". Aber das stimmt nicht.
 



 
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