Verloren

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nisavi

Mitglied
Beim Essen war sie schweigsam gewesen.
Als er das leere Geschirr in die Küche trug, stand sie gedankenverloren am Fenster und schaute hinunter auf die Straße.
Blass sah sie heute aus. Blass und erschöpft.
Die Furcht war augenblicklich zu ihm zurückgekehrt wie eine alte schwarze Katze. Lauernd verfolgte sie jeden seiner Schritte aus sicherer Entfernung.
„Geh allein, ich fühle mich heute nicht so gut“, hatte seine Frau leise gesagt.
Er versprach, bald zurück zu sein, leinte den Hund an und ging nach draußen. Tief atmete er die klare Winterluft.
Der Hund lief voraus und verschwand im Gebüsch. Mit großen Schritten folgte der Mann ihm, als müsse er einen Verfolger abschütteln.
Eine Katze saß vor dem Haus, als er zurückkam. Sie schien keine Angst zu haben und blickte ihn unverwandt aus großen grünen Augen an.
Er eilte die Treppen hinauf, mehrere Stufen mit einem Schritt nehmend, und öffnete die Wohnungstür.
Seine Frau lag in der Mitte des Wohnzimmers auf dem Boden, Arme und Beine unnatürlich abgewinkelt. Ihr Atem war flach. Auf seine Fragen antwortete sie nicht.
Der Krankenwagen kam innerhalb von Minuten. Die Männer hoben den leblos und fremd wirkenden Körper auf die Trage. Sie würden in die Universitätsklinik fahren, er könne dort anrufen.
Er wusste nicht, wie lange er auf dem Stuhl gesessen hatte. Einfach dagesessen hatte er. Er fror.
Irgendwann musste er zum Telefonhörer gegriffen und die Nummer gewählt haben, die man ihm hinterlassen hatte. Es stehe sehr schlecht, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
Man würde die Patientin gerade operieren.
Auf dem Weg zum Parkplatz fauchte ihn die Katze an.
Ein junger Arzt saß ihm gegenüber. Seine Hände spielten mit einem grauen Bleistift.
Es fiel ihm schwer zu sprechen. Mit heiserer Stimme formulierte er seine Fragen: ob die Frau wieder bei Bewusstsein sei. Ob es bereits eine Diagnose gäbe.
Der Stift wurde auf den Tisch gelegt.
Ob er denn nicht Bescheid wisse?
Bescheid?
Bereits seit September habe die Patientin um die Tatsache gewusst, dass ihr noch wenige Monate blieben.
Er dachte an die langen Spaziergänge.
Von einem Tumor war die Rede, von Metastasen und davon, dass jede Art der Behandlung ausgeschlagen worden war.
Zu Weihnachten hatte sie einen roten Pullover getragen, der wunderbar zu ihrem blonden Haar passte.
Der graue Stift lag auf dem Tisch. Er teilte das Schweigen.
Die Katze hatte gefaucht.
„Geh allein“, hatte sie gesagt.
Er wusste nicht, wohin.
 
H

HFleiss

Gast
Au ja, der Text gefällt mir sehr. Lakonisch, ohne Menkenke,
ohne philosophisches Tiefengeschwätz, einfach nur der Ablauf, und die Gedanken überlässt du dem Leser. Und immer wieder die Katze. Hat mich sehr, sehr angesprochen.

Lieben Gruß
Hanna
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo nisavi,

es ist mir schon ein wenigt peinlich, dass ich zu diesem Text eigentlich nur das wiederholen könnte, was Hanna bereits schrieb. Mir gefällt der Text (der durchaus auch bei Kurzgeschichten stehen könnte) wirklich gut - und das, obwohl ich bei solch ausgesprochen knapp gehaltenen Storys eher skeptisch bin.
Um nicht ganz so blöd dazustehen, habe ich noch ein paar winzige Anmerkungen aus meiner Sicht.


Die Furcht war augenblicklich zu ihm zurückgekehrt wie eine alte schwarze Katze.
[blue](Das könnte vielleicht ein wenig dramischer sein. "augenblicklich zu ihm zurückgekehrt" klingt ein bisschen zu lahm. Wie wäre es, wenn die Furcht ihn erneut anspringt oder ihre Krallen nach ihm ausstreckt oder sich in sein Denken krallt oder...) [/blue]

Auf seine Fragen antwortete sie nicht.
([blue]Sind es wirklich nur "Fragen", die er stellt? Wo bleibt die Artikulation der Angst, die er doch nun nicht mehr nur hintergründig spürt?)[/blue]

Seine Hände spielten mit einem grauen Bleistift. Es fiel ihm schwer zu sprechen.
[blue](jetzt wird es schwierig. Laut Satzstellung bezieht sich das "Er" auf den Arzt. Der ist aber nicht gemeint. Mir fällt im Moment auch keine Formulierung ein, wie man das "Er" umgehen kann)[/blue]

Mit heiserer Stimme formulierte er seine Fragen: ob die [blue] (seine oder einfach „sie“)[/blue] Frau wieder bei Bewusstsein sei. Ob es bereits eine Diagnose gäbe.

Der graue Stift lag auf dem Tisch. Er teilte das Schweigen.([blue]Klasse!)[/blue]


Das sind nur ein paar Gedanken. Sie ändern nichts an meiner Meinung, einen außergewöhnlich gut geschriebenen Text gelesen zu haben.

Gruß Ralph
 

nisavi

Mitglied
dank euch für`s lesen.
ich komme eigentlich aus der lyrikecke und bei prosa bin ich ein bisschen unsicher.
von daher sind vor allem ralph`s hinweise für mich sehr wertvoll.ich werde mir das alles durch den kopf gehen lassen.
nur zwei gedanken auf die schnelle.


"Seine Hände spielten mit einem grauen Bleistift. Es fiel ihm schwer zu sprechen."---> Es ist nicht klar, wer ER ist. Muss das klar sein? Ich habe diese Variante bewusst gewählt. Dem Mann fällt es schwer, Worte zu finden. Dem Arzt doch aber sich auch?


"Mit heiserer Stimme formulierte er seine Fragen: ob die Frau wieder bei Bewusstsein sei. Ob es bereits eine Diagnose gäbe."---> Hier werde ich ändern. Ursprünglich hatte ich beabsichtigt, mit "die Frau" eine gewisse Distanz zu zeichnen. Jetzt glaube ich, dass dies unrealistisch ist. Keiner würde das so sagen.

LG

n.

PS: Und eigentlich wollte ich den Text gern bei "Kurzgeschichten" stehen haben, fand nur keinen entsprechenden Ordner. Bin inzwischen schlauer. Vielleicht sollte ein Verantwortlicher verschieben?
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo nisavi,

freut mich, dass Du das Mit der Kurzgeschichte genauso siehst. Verschieben? Kein Problem.
Na, da wollen wir mal - ich wünsch dem Text auch in der neuen Rubrik viele Leser.

Gruß Ralph.
 



 
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