Verlustsfloskeln.

4,00 Stern(e) 2 Bewertungen
Lili liegt auf der Straße.

Sie sieht aus wie ein Mond, ein Halbmond zwar, aber das ändert ja nichts an der Tatsache.
Wir nennen sie: den Mond.
Sie nimmt meine Hand und mich selbst instinktiv immer dann in den Arm, wenn es mir weh tut im Herz, ganz tief drin. Meist vergrabe ich meinen Kopf in ihrer Schulter und habe die Augen zu, um ihr Vorhandsein einatmen zu können und die heisere Stimme mein Gemüt rehabilitieren zu lassen.
Sie hat Sommersprossen und ist erwachsen. Wir haben uns lieb. Ich schlafe in ihrem Bett, wenn die Nacht zu dunkel ist und ich eine Hand auf meiner Schulter brauche, die mir nicht das Schlüsselbein bricht. Oft sitzen wir abends in ihrer lachsfarbenen Küche vor zwei Tassen Tee und feuern uns gegenseitig lächelnd die Geschichten aus unseren früheren Leben in die Fressen, um die beidseitigen Probleme für ein paar Augenblicke in banale Unwichtigkeiten zu zerhacken.
Ich habe die Perlen in der Hand, die wir gestern aus einer unerklärlichen Laune heraus gekauft haben für viel zu viel Geld; sie sind rot, mit klitzekleinen weißen Tupfen und passen wunderbar in dieses ästhetische Bild aus dunkelgrauem Himmel und Blut. Der Asphalt befindet sich im Besitz des Farbtons des Umfeldes.
Heute ist die Welt nicht bunt.

Lili liegt auf der Straße.

Ich brauche ihre Hand. Ich fasse ins Nichts. Nehme die unerlaubte Zigarette aus meinem zerrissenen Mundwinkel und ziehe den Ärmel meines Pullovers hoch, um sie mit einem kurzen stechenden Schmerz auf der viel zu weißen Haut auszudrücken. Die darauf zurück zu führende Narbe sieht aus wie ein kleiner Oktopus.

Lili liegt auf der Straße. Immer noch. Ich bräuchte sechsundzwanzigkommavierfünf Schritte, um bei ihr zu sein. Ich bleibe stehen, wie angewurzelt und schmeiße meine Blicke auf dieses viel zu triste Szenario aus einer gefühlssichereren Entfernung.
Es hat nicht lange gedauert, bis sich die ersten sensationsgeilen Menschen hysterisch aufgewühlt um ihren relativ leblosen Körper geschart haben und nun pflichtbewusst die notwendigen Maßnahmen ergreifen. Es ist ein bisschen so wie im Film. Nur, dass ich ihn nicht mit ihr zusammen ansehe.

110 oder 112?, fragt der große, fremde Mann mit dem im Zusammenhang unglaublich klein wirkenden Handy in der Hand. Sie hat genau dasselbe, es müsste in ihrem grünblauen Beutel neben ihr liegen.
Es ist ihr Lieblingsbeutel. Er sieht traurig aus, wie er so da liegt ohne Besitzer, aber er hat überlebt.

Ich werde ihn mit nach Hause nehmen, denke ich und eine gewisse Leere bohrt sich durch meine Knochen.
Ich gehe zu ihr. Es fühlt sich an, als hätte ich Lachgas eingeatmet und mein Herz pocht ununterbrochen gegen meine Rippen, während die restlichen Geräusche plötzlich nicht mehr existieren in unserer Welt.
Lilis Hand ist kalt. Ich habe sie noch nie schlafen gesehen vorher.
 



 
Oben Unten