Vermisst
Samstagmorgen im Mai. Die Nacht steckte mir in den Knochen: endlose Straßen, ab und zu ein Schluck Kaffee, dann wieder Erinnerungen, die wie Nordlichter vor mir hertrieben. Als die Sonne am Horizont aufstieg, fuhr ich von der Autobahn ab. Hier kannte ich jede Kreuzung, jede Baumallee, jedes Haus.
Am Abend zuvor hatten sie angerufen:
„Wenn Sie ihn noch einmal sehen wollen, sollten Sie sich auf den Weg machen.“
Als ob das so einfach wäre. Immer wieder hatte ich ihm versucht zu erklären: ‚Das ist ein langer Weg, viele hundert Kilometer. Ich kann nicht immer kommen, nicht immer alles stehen und liegen lassen, nur weil du es dir wünschst.’
Doch Zustand und Alter des Vaters graduierten seinen Wunsch zum Befehl. Jetzt stand ich vor der Stationstür. Matt und voller Angst.
Eine ältere Schwester öffnete mir. Müde sah sie aus, nickte, als ich mich vorstellte. „Wir sind gerade bei der Übergabe, sie müssen entschuldigen. Der Frühdienst ist gleich soweit. Aber kommen Sie doch rein, Ihr Vater liegt im Zimmer 108, da hinten rechts.“
„Wie geht es ihm?“, fragte ich unsicher. Ich wollte zumindest einen Hinweis von ihr, irgendeine brauchbare Information. Da war die kurze Leere in ihrem Blick, ein Verdrängen, ein kurzes Wegschauen. Erfahrung. Was sie sagte, verstand ich nicht wirklich. Brauchte ich auch nicht. Und doch schoben mich ihre Worte den Gang entlang, vorbei an den offenen Zimmern, am Gepiepse irgendwelcher lebenserhaltenden Apparaturen, an unentschiedenen und entschiedenen Schicksalen.
Zimmer 108. Ein Zweibettzimmer. Das erste Bett leer. Dann ein blauer Raumteiler. Volksmusik plärrte dahinter. Unerträglich und zugleich sein Erkennungszeichen. Jetzt lächeln. So wollte ich zu ihm treten und merkte zugleich, wie mein Mund sich staunend öffnete und offen blieb. Da lag eine alte, schnarchende Frau. Im Wasserglas auf dem Nachtisch ihre Zähne, daneben ein kleines Radio. Die Frau hatte so gut wie keine Haare mehr. Also möglicherweise auch ein sehr weiblich aussehender Greis – doch sicher nicht mein Vater. Nie im Leben. So sehr kann ein Mensch sich nicht verändern. Es musste eine Verwechslung sein. Die Zimmernummer? Stimmte. Das leere Bett? Es sah nicht aus wie frisch bezogen. Ich suchte nach etwas, was ich kannte, irgendeinen mir vertrauten Gegenstand als Beweis. Da. Der Rosenkranz. Ganz sicher, da lag seine abgewetzte Beetkette auf dem Nachtisch. Daneben, wie bei der Kahlen im Nachbarbett, das halbvolle Wasserglas. Von meinem Vater keine Spur. Ich marschierte mit schnellen Schritten zum Schwesternzimmer. Mir war schon klar, dass mein Klopfen nur störte. Doch das war mir gerade egal. Die müde Türschwester öffnete und sah mich gequält freundlich an.
„Ach Sie schon wieder.“
„Mein Vater ist nicht in seinem Bett.“
„Ich habe ihnen doch gesagt: Zimmer 108. Gleich rechts, wenn Sie reinkommen, da liegt er.“
„Liegt er nicht. Da war ich doch eben. Und hinter dem Raumteiler liegt die Volksmusiktante, stimmst?“
„Ja. Da liegt eine Frau. Moment, wir kümmern uns gleich um Sie.“
Die Tür schloss sich wieder, ich stand da wie der ungläubige Thomas. Und jetzt? Das Haus verliert nichts, dachte ich. Irgendwo muss er ja sein.
Von Zimmer zu Zimmer lief ich. Rief seinen Namen hinein. Schaute in Nasszellen nach, hinter die Vorhänge und unter jedes Bett. Kein fehlender Patient in Sicht. Bald traf ich auf dem Gang ein erstes kleines Rudel weißer und blauer Kittel. Auch sie suchten nun aufgeregt und in deutlicher Erklärungsnot jene Person, wegen der man mich hierher gerufen hat. Der Stationsarzt, dick und groß wie ein Bär, legte den Arm um meine Schulter und schob mich zur Ausgangstür.
„Sie warten hier draußen. Wenn wir ihn gefunden haben, holen wir Sie wieder rein.“
„Er kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Was ist denn das für ein Laden hier?“, raunzte ich zurück.
Ohne weitere Erklärungen ließ er die Milchglasscheibentür ins Schloss fallen.
Da saß ich nun, sah zu, wie nach und nach das Personal an mir vorüber zog, alle auf der Suche nach diesem einen Mann. Ist mein Vater vielleicht vor mir getürmt? Oder hat man ihn entführt? Ich müsste etwas tun. Etwas, was ihn mit Sicherheit wieder herbeilaufen lässt. So wie damals mit meiner Wasserstoffbombe.
Ein Chemiebaukasten wurde mir zu Weihnachten geschenkt. Made in GDR. Da war ich zehn oder elf Jahre alt. Reagenzgläser waren drin, ein paar Magnesiumspäne, etwas verdünnte Salzsäure, rotes Blutlaugesalz und ein Spiritustablettenkocher. Brauchbare Dinge für erste Experimente, langweilig wenn man schon kurz nach Weihnachten mit den anderen Jungs aus der Klasse alles ausprobiert hat. Jeder bekam so ein Set. Das rote Blutlaugensalz taugte nicht. Hatten wir probiert. Die Russen, so erzählte man sich, hatten im zweiten Weltkrieg solches Salz immer dabei – um kurz vor der Gefangenschaft sich selbst zu erlösen. Es bildet im Magen Blausäure. Und die wirkt binnen Sekunden tödlich. Bei der Katze unseres Schloßbergschulenhausmeisters nicht. Wir hatten es auf ein Stück Schulbrot gestreut. Die Katze fraß es und lief auf den Dachboden. Wir hinterher. Sie verschwand durch irgendein Loch. Wir aber stöberten. Fanden Dinge aus längst vergangenen Zeiten. Eine echte Deutschlandkarte von 1948 zum Aufrollen. Ein Stalinbild. Einen alten Schrank. Der war verschlossen, jedoch die Türriegel nicht richtig eingehakt. Zwei, drei mal daran gezogen und das Paradies stand offen. Alles voller Chemikalien. Alles schön sauber beschriftet. Klar griffen wir zu. Die Flasche mit Benzol verschwand in der einen Jackentasche, in der anderen die mit der Salzsäure. Zweiunddreißigprozentig.
Im Garten meines Vaters hatte ich den Geräteschuppen zur Chemiewerkstatt erkämpft. Offiziell wurde er mit den Utensilien des Weihnachtsgeschenkes gefüllt. Hätte jemand genauer hingesehen, wäre das stetige Wachsen der Bestände aufgefallen. Doch das tat niemand.
Eines Tages wollte ich Wasserstoff erzeugen. Meine Salzsäure brauchte ich dazu – und Aluminium. Kein Problem, da fast alle Münzen aus diesem Metall bestanden. Zehn Pfennigstücke in den Erlenmeierkolben, die Salzsäure dazu und schon fing es an zu brodeln, als ob es Brausetabletten wären. Einen mehrfach gebrauchten Luftballon darüber gezogen - und der Wasserstoff begann sich im Ballon zu sammeln. Nicht sehr groß war er, jedoch auch nicht klein – immerhin leichter als Luft. Eine Zündschnur jetzt noch dran. Und da wir diese ständig für irgendwelche Stinkbombenexperimente brauchten, hatte jeder Junge in meinem Alter einen respektablen Vorrat davon.
Doch bevor ich meine Bombe fliegen lassen konnte, musste ich noch Spuren beseitigen. Alles verstecken, was versteckt werden musste. So tun, als ob. Und dann stieg mein Baby zischend in den Himmel. Es hat gerumst wie noch nie. Ich stand wohl etwas zu lange und selbstzufrieden in Siegerpose an dem Ort, da kam mein Vater angerannt. Als er mich bemerkte, sah er erleichtert aus, drehte eine Runde durch meine Werkstatt, packte mich dann am Schlafittchen und hielt mich fest: „Ich sag es dir mein Freundchen, nicht solche Dinger! Erschreckst uns ja zu tode. Sonst nehm ich dir den Schuppen wieder weg. Klar?“
Klar. Tage später kam er von einer Elternbeiratssitzung. Man hätte in der Schule Chemikalien entwendet. Man wisse noch nicht wer und was genau, aber die Polizei sei da gewesen. Das alles erzählte er meiner Mutter beim Abendbrot. So beiläufig es ging und mit einem kurzen scharfen Seitenblick zu mir. Das war alles. Keine Schläge mit dem Gürtel, kein Fernsehverbot, nicht mal ein böses Wort, geschweige denn Geschrei. Nur den einen Satz: „Mach kein Quatsch, Kleiner, und hol mir mal den Senf.“
Ja, einen solchen Ballon müsste ich jetzt zünden. Ihn erwecken, erschrecken – so dass er noch einmal angelaufen kommt. Nur wegen mir. Stattdessen bemerkte ich einen Polizisten. Er kam entschlossen auf mich zu, setzte sich.
„Sie sind der Sohn des Vermissten?“
Ich nickte. „Wollen Sie eine Anzeige aufgeben?“
„Wo könnte er sein? Sie haben doch Erfahrung mit solchen Fällen.“
„Schwer zu sagen. Die Ärzte meinen, er sei bei klarem Verstand gewesen. Jedenfalls noch unmittelbar davor, bevor er sozusagen verschwand. Sie verstehen? Wir würden ihn dort suchen, wo er sich zuletzt gern aufgehalten hat Was meinen Sie wo das war? In seiner Wohnung?“
„Keine Ahnung“, sagte ich und wusste es genau. „Seit Ewigkeiten wohne ich schon nicht mehr hier – woher soll ich das wissen?“
„Die Vermisstenanzeige – wenn sie es nicht tun, wird das Krankenhaus ihn melden.“
„Wie viel Zeit habe ich?“
„Sie wollen ihn suchen? Dachte ich mir. Hier haben sie meine Karte. Zwei Stunden, das muss reichen. Wenn wir bis dahin nichts von Ihnen hören, werden wir aktiv. Einverstanden? Rufen Sie mich an!“
Ich nickte. Warum eigentlich? Was hatte ich mit dem Verschwinden zu tun? Und doch lief ich wie mechanisch zu meinem Auto, stieg ein und fuhr den auf meiner Seele eingebrannten Weg.
Das Tor stand offen, Fußspuren im nassen Gras. Sie führten mich hindurch, mit einer Schleife am Gewächshaus vorbei, durch das Hintertor auf die Koppel. Etwas entfernt sah ich seine Galoschen stehen. Daneben Schlafanzughose und ein Hemd. Barfuß muss er weitergegangen sein. Ohne alles. Ich wusste, dass er morgens gern über nasse Wiesen streunte, frei nach kneipscher Art. Also folgte ich der Spur bis hin zu einer Quelle. Seiner Quelle. Ich war noch ein Kind, da hatte er diese angezapft, hatte mit uns ein ewig langes Plastikrohr in die Erde verlegt. Alle mussten mitschaufeln, selbst meine Großmutter. Gott hab sie selig. Fließendes Wasser für sein Reich, das war das Ziel und es hat funktioniert. Funktioniert bis heute.
Was nicht mehr funktionierte, war das Folgen seiner Spur. Hier endete sie. Merkwürdig. Er kann doch nicht weggeflogen sein. Vielleicht mit einem Heißluftballon? Den hätte ich doch sehen müssen. Eine Weile noch suchte ich die Gegend ab, rief nach ihm. Nichts. Niemand zu sehen oder zu hören. Es war Zeit. Ich nahm mein Handy, wählte die Nummer und sagte: „Seine Spur habe ich gefunden. Doch er ist nicht mehr da. Ich erstatte also Anzeige, ab jetzt wird er von mir vermisst.“
Samstagmorgen im Mai. Die Nacht steckte mir in den Knochen: endlose Straßen, ab und zu ein Schluck Kaffee, dann wieder Erinnerungen, die wie Nordlichter vor mir hertrieben. Als die Sonne am Horizont aufstieg, fuhr ich von der Autobahn ab. Hier kannte ich jede Kreuzung, jede Baumallee, jedes Haus.
Am Abend zuvor hatten sie angerufen:
„Wenn Sie ihn noch einmal sehen wollen, sollten Sie sich auf den Weg machen.“
Als ob das so einfach wäre. Immer wieder hatte ich ihm versucht zu erklären: ‚Das ist ein langer Weg, viele hundert Kilometer. Ich kann nicht immer kommen, nicht immer alles stehen und liegen lassen, nur weil du es dir wünschst.’
Doch Zustand und Alter des Vaters graduierten seinen Wunsch zum Befehl. Jetzt stand ich vor der Stationstür. Matt und voller Angst.
Eine ältere Schwester öffnete mir. Müde sah sie aus, nickte, als ich mich vorstellte. „Wir sind gerade bei der Übergabe, sie müssen entschuldigen. Der Frühdienst ist gleich soweit. Aber kommen Sie doch rein, Ihr Vater liegt im Zimmer 108, da hinten rechts.“
„Wie geht es ihm?“, fragte ich unsicher. Ich wollte zumindest einen Hinweis von ihr, irgendeine brauchbare Information. Da war die kurze Leere in ihrem Blick, ein Verdrängen, ein kurzes Wegschauen. Erfahrung. Was sie sagte, verstand ich nicht wirklich. Brauchte ich auch nicht. Und doch schoben mich ihre Worte den Gang entlang, vorbei an den offenen Zimmern, am Gepiepse irgendwelcher lebenserhaltenden Apparaturen, an unentschiedenen und entschiedenen Schicksalen.
Zimmer 108. Ein Zweibettzimmer. Das erste Bett leer. Dann ein blauer Raumteiler. Volksmusik plärrte dahinter. Unerträglich und zugleich sein Erkennungszeichen. Jetzt lächeln. So wollte ich zu ihm treten und merkte zugleich, wie mein Mund sich staunend öffnete und offen blieb. Da lag eine alte, schnarchende Frau. Im Wasserglas auf dem Nachtisch ihre Zähne, daneben ein kleines Radio. Die Frau hatte so gut wie keine Haare mehr. Also möglicherweise auch ein sehr weiblich aussehender Greis – doch sicher nicht mein Vater. Nie im Leben. So sehr kann ein Mensch sich nicht verändern. Es musste eine Verwechslung sein. Die Zimmernummer? Stimmte. Das leere Bett? Es sah nicht aus wie frisch bezogen. Ich suchte nach etwas, was ich kannte, irgendeinen mir vertrauten Gegenstand als Beweis. Da. Der Rosenkranz. Ganz sicher, da lag seine abgewetzte Beetkette auf dem Nachtisch. Daneben, wie bei der Kahlen im Nachbarbett, das halbvolle Wasserglas. Von meinem Vater keine Spur. Ich marschierte mit schnellen Schritten zum Schwesternzimmer. Mir war schon klar, dass mein Klopfen nur störte. Doch das war mir gerade egal. Die müde Türschwester öffnete und sah mich gequält freundlich an.
„Ach Sie schon wieder.“
„Mein Vater ist nicht in seinem Bett.“
„Ich habe ihnen doch gesagt: Zimmer 108. Gleich rechts, wenn Sie reinkommen, da liegt er.“
„Liegt er nicht. Da war ich doch eben. Und hinter dem Raumteiler liegt die Volksmusiktante, stimmst?“
„Ja. Da liegt eine Frau. Moment, wir kümmern uns gleich um Sie.“
Die Tür schloss sich wieder, ich stand da wie der ungläubige Thomas. Und jetzt? Das Haus verliert nichts, dachte ich. Irgendwo muss er ja sein.
Von Zimmer zu Zimmer lief ich. Rief seinen Namen hinein. Schaute in Nasszellen nach, hinter die Vorhänge und unter jedes Bett. Kein fehlender Patient in Sicht. Bald traf ich auf dem Gang ein erstes kleines Rudel weißer und blauer Kittel. Auch sie suchten nun aufgeregt und in deutlicher Erklärungsnot jene Person, wegen der man mich hierher gerufen hat. Der Stationsarzt, dick und groß wie ein Bär, legte den Arm um meine Schulter und schob mich zur Ausgangstür.
„Sie warten hier draußen. Wenn wir ihn gefunden haben, holen wir Sie wieder rein.“
„Er kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen. Was ist denn das für ein Laden hier?“, raunzte ich zurück.
Ohne weitere Erklärungen ließ er die Milchglasscheibentür ins Schloss fallen.
Da saß ich nun, sah zu, wie nach und nach das Personal an mir vorüber zog, alle auf der Suche nach diesem einen Mann. Ist mein Vater vielleicht vor mir getürmt? Oder hat man ihn entführt? Ich müsste etwas tun. Etwas, was ihn mit Sicherheit wieder herbeilaufen lässt. So wie damals mit meiner Wasserstoffbombe.
Ein Chemiebaukasten wurde mir zu Weihnachten geschenkt. Made in GDR. Da war ich zehn oder elf Jahre alt. Reagenzgläser waren drin, ein paar Magnesiumspäne, etwas verdünnte Salzsäure, rotes Blutlaugesalz und ein Spiritustablettenkocher. Brauchbare Dinge für erste Experimente, langweilig wenn man schon kurz nach Weihnachten mit den anderen Jungs aus der Klasse alles ausprobiert hat. Jeder bekam so ein Set. Das rote Blutlaugensalz taugte nicht. Hatten wir probiert. Die Russen, so erzählte man sich, hatten im zweiten Weltkrieg solches Salz immer dabei – um kurz vor der Gefangenschaft sich selbst zu erlösen. Es bildet im Magen Blausäure. Und die wirkt binnen Sekunden tödlich. Bei der Katze unseres Schloßbergschulenhausmeisters nicht. Wir hatten es auf ein Stück Schulbrot gestreut. Die Katze fraß es und lief auf den Dachboden. Wir hinterher. Sie verschwand durch irgendein Loch. Wir aber stöberten. Fanden Dinge aus längst vergangenen Zeiten. Eine echte Deutschlandkarte von 1948 zum Aufrollen. Ein Stalinbild. Einen alten Schrank. Der war verschlossen, jedoch die Türriegel nicht richtig eingehakt. Zwei, drei mal daran gezogen und das Paradies stand offen. Alles voller Chemikalien. Alles schön sauber beschriftet. Klar griffen wir zu. Die Flasche mit Benzol verschwand in der einen Jackentasche, in der anderen die mit der Salzsäure. Zweiunddreißigprozentig.
Im Garten meines Vaters hatte ich den Geräteschuppen zur Chemiewerkstatt erkämpft. Offiziell wurde er mit den Utensilien des Weihnachtsgeschenkes gefüllt. Hätte jemand genauer hingesehen, wäre das stetige Wachsen der Bestände aufgefallen. Doch das tat niemand.
Eines Tages wollte ich Wasserstoff erzeugen. Meine Salzsäure brauchte ich dazu – und Aluminium. Kein Problem, da fast alle Münzen aus diesem Metall bestanden. Zehn Pfennigstücke in den Erlenmeierkolben, die Salzsäure dazu und schon fing es an zu brodeln, als ob es Brausetabletten wären. Einen mehrfach gebrauchten Luftballon darüber gezogen - und der Wasserstoff begann sich im Ballon zu sammeln. Nicht sehr groß war er, jedoch auch nicht klein – immerhin leichter als Luft. Eine Zündschnur jetzt noch dran. Und da wir diese ständig für irgendwelche Stinkbombenexperimente brauchten, hatte jeder Junge in meinem Alter einen respektablen Vorrat davon.
Doch bevor ich meine Bombe fliegen lassen konnte, musste ich noch Spuren beseitigen. Alles verstecken, was versteckt werden musste. So tun, als ob. Und dann stieg mein Baby zischend in den Himmel. Es hat gerumst wie noch nie. Ich stand wohl etwas zu lange und selbstzufrieden in Siegerpose an dem Ort, da kam mein Vater angerannt. Als er mich bemerkte, sah er erleichtert aus, drehte eine Runde durch meine Werkstatt, packte mich dann am Schlafittchen und hielt mich fest: „Ich sag es dir mein Freundchen, nicht solche Dinger! Erschreckst uns ja zu tode. Sonst nehm ich dir den Schuppen wieder weg. Klar?“
Klar. Tage später kam er von einer Elternbeiratssitzung. Man hätte in der Schule Chemikalien entwendet. Man wisse noch nicht wer und was genau, aber die Polizei sei da gewesen. Das alles erzählte er meiner Mutter beim Abendbrot. So beiläufig es ging und mit einem kurzen scharfen Seitenblick zu mir. Das war alles. Keine Schläge mit dem Gürtel, kein Fernsehverbot, nicht mal ein böses Wort, geschweige denn Geschrei. Nur den einen Satz: „Mach kein Quatsch, Kleiner, und hol mir mal den Senf.“
Ja, einen solchen Ballon müsste ich jetzt zünden. Ihn erwecken, erschrecken – so dass er noch einmal angelaufen kommt. Nur wegen mir. Stattdessen bemerkte ich einen Polizisten. Er kam entschlossen auf mich zu, setzte sich.
„Sie sind der Sohn des Vermissten?“
Ich nickte. „Wollen Sie eine Anzeige aufgeben?“
„Wo könnte er sein? Sie haben doch Erfahrung mit solchen Fällen.“
„Schwer zu sagen. Die Ärzte meinen, er sei bei klarem Verstand gewesen. Jedenfalls noch unmittelbar davor, bevor er sozusagen verschwand. Sie verstehen? Wir würden ihn dort suchen, wo er sich zuletzt gern aufgehalten hat Was meinen Sie wo das war? In seiner Wohnung?“
„Keine Ahnung“, sagte ich und wusste es genau. „Seit Ewigkeiten wohne ich schon nicht mehr hier – woher soll ich das wissen?“
„Die Vermisstenanzeige – wenn sie es nicht tun, wird das Krankenhaus ihn melden.“
„Wie viel Zeit habe ich?“
„Sie wollen ihn suchen? Dachte ich mir. Hier haben sie meine Karte. Zwei Stunden, das muss reichen. Wenn wir bis dahin nichts von Ihnen hören, werden wir aktiv. Einverstanden? Rufen Sie mich an!“
Ich nickte. Warum eigentlich? Was hatte ich mit dem Verschwinden zu tun? Und doch lief ich wie mechanisch zu meinem Auto, stieg ein und fuhr den auf meiner Seele eingebrannten Weg.
Das Tor stand offen, Fußspuren im nassen Gras. Sie führten mich hindurch, mit einer Schleife am Gewächshaus vorbei, durch das Hintertor auf die Koppel. Etwas entfernt sah ich seine Galoschen stehen. Daneben Schlafanzughose und ein Hemd. Barfuß muss er weitergegangen sein. Ohne alles. Ich wusste, dass er morgens gern über nasse Wiesen streunte, frei nach kneipscher Art. Also folgte ich der Spur bis hin zu einer Quelle. Seiner Quelle. Ich war noch ein Kind, da hatte er diese angezapft, hatte mit uns ein ewig langes Plastikrohr in die Erde verlegt. Alle mussten mitschaufeln, selbst meine Großmutter. Gott hab sie selig. Fließendes Wasser für sein Reich, das war das Ziel und es hat funktioniert. Funktioniert bis heute.
Was nicht mehr funktionierte, war das Folgen seiner Spur. Hier endete sie. Merkwürdig. Er kann doch nicht weggeflogen sein. Vielleicht mit einem Heißluftballon? Den hätte ich doch sehen müssen. Eine Weile noch suchte ich die Gegend ab, rief nach ihm. Nichts. Niemand zu sehen oder zu hören. Es war Zeit. Ich nahm mein Handy, wählte die Nummer und sagte: „Seine Spur habe ich gefunden. Doch er ist nicht mehr da. Ich erstatte also Anzeige, ab jetzt wird er von mir vermisst.“