Verrücktes Nachtprogramm

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Kabelkolb

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Verrücktes Nachtprogramm

Ich bin eigentlich keiner der Typen, die nächtelang vor dem Fernseher hocken und das komplette Nachtprogramm aus dem Effeff kennen. Erstens deshalb, weil ich dieses Nachtprogramm längst als werbelose Wiederholung der am Tag gezeigten Sendungen entlarvt habe. Zweitens, weil ich sehr gerne schlafe. Für die nächste Zeit wird sich das ändern. Vor einer Stunde, so gegen zwei Uhr MEZ, ist das Ultimatum, das Präsident Bush Saddam Hussein vor 49 Stunden gestellt hatte, abgelaufen. Saddam ist nicht im Exil. Der Krieg gegen den Irak ist ausgesprochen, obwohl der mächtigste Mann der Welt bis jetzt noch nicht vor diese getreten ist und entgegen der Meinung des Weltsicherheitsrat und entgegen der Stimmung in den vereinten Nationen, offiziell erklärt, was alle wissen. Auch ich sitze noch vorm Fernseher und bemerke, dass die deutsche Kriegsberichterstattung in guter Form ist und das ZDF sogar mit ausländischen Sendern zusammenarbeitet. Zwei amerikanische und eine arabische Sendestation sind vertreten. Die letztere wird nur gezeigt und nicht synchronisiert. Dafür sehe ich auf dem zweiten deutschen ungefähr 5 Minuten NBC am Stück. Vielleicht wollte man dem Moderator genug Zeit geben, um zu sagen, wie sehr sich die amerikanischen Soldaten freuen werden, wenn sie in einer Woche wieder bei ihren Familien daheim in Amerika sind.

Zur gleichen Zeit an einem ganz anderen Ort bewegt sich der Sohn von Mrs. Smith, John Smith, mit seinem Truppenverband vom Kuwait aus in Richtung Norden. Still und heimlich hatte man in der Nacht zuvor die Zelte abgebaut, die Panzer getankt und Briefe geschrieben. John schrieb zwei. Einen an seine Mutter. Es war ein Abschiedsbrief. Den zweiten an den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika. Es war eine Beschwerde, etwa derart, wie man sie an seinen Vermieter schickt, wenn die Wohnung gewaltsam geräumt, die Möbel verkauft und die Schlösser gewechselt wurden während man beim Zahnarzt war.
Der Text: „Mr. Pesident, if you got this letter, I am dead. But why? John Smith.”
Smith war nie Freund großer Worte. Er war ein Mann der Tat und wie er, waren es alle Soldaten, sogar der, der das Land regierte.

Um meine Meinung kurz kundzutun: Ich denke, dass Saddam Hussein abgesetzt werden sollte. Ich denke auch, dass der Irak in den Zustand vor Husseins Machtergreifung zurückversetzt werden muss. Allerdings denke ich so über alle Diktatoren. Wie andere Länder, die sich solchen Führen ausgesetzt sehen, ist auch der Irak besser ohne sein jetziges Regime dran. Darüber muss es keinen Streit mehr geben. Auch darüber nicht, dass sich andere souveräne Staaten in die innerpolitischen Themen solcher Diktaturen einmischen, um das Volk vor ihren eigenen Herrschern zu schützen.
Genau für diese Fälle wurden die vereinten Nationen doch geschaffen. Die Mitgliedstaaten haben sich dazu verpflichtet, in Absprache und Übereinkunft miteinander, Krisen und Kriege wenn möglich zu verhindern, zumindest aber einzudämmen. Ich will mal kurz den ersten Artikel der UN-Charta zitieren, auf der die Vereinten Nationen begründet sind:

„Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:

1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;

2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;

3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;

4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.“

Das die USA und ihre Alliierten diese Grundsätze fundamental angreifen, bedarf keiner weiteren Erläuterung.
Und wenn ein oder mehrere Mitglieder die Instanzen übergehen und die Zusammenkunft der Länder damit unnötig machen, dann ist es die Pflicht des Sicherheitsrates, diese Störenfriede aus ihrem Bund auszuschließen. Die USA handelt ohne Zustimmung des Sicherheitsrates sowie der vereinten Nationen. Da Russland, China und andere Vetoberechtigte Länder hundertprozentig diese Recht gebraucht hätten, wurden sie einfach nicht mehr gefragt. Man wirft ihnen sogar vor, sie hätten die friedliche Lösung erst unmöglich gemacht, dadurch, dass sie sich friedlich verhielten. Was soll man da machen? Ein Ultimatum muss her!
Mein Vorschlag wäre, Amerika sofort aus dem Sicherheitsrat auszuschließen, wenn der Krieg nicht beendet und die Waffeninspektionen, die gerade in den letzten Wochen den ersten richtigen Erfolg verbuchen konnten, wieder aufgenommen werden. Wenn durch die Gründungsvereinbarung der Vereinten Nationen, ein Ausschluss der USA nicht möglich ist, oder einen langwierigen Prozess bedeuten würde, muss eben ein neues Bündnis her. Des weiteren behaupte ich, dass jede Bombe die auf den Irak fällt eine Menschenrechtsverletzung ist. Egal ob im Irak zehn Jahre alte Massenvernichtungswaffen vermutet werden oder Saddam Hussein mal zu Bush Senior Arschloch gesagt hat, einen Angriffskrieg auf ein Volk, das nichts für seine Unterdrückung und schon gar nichts für seinen Unterdrücker kann, ist entgegen allen Regeln des zivilisierten Zusammenlebens. Ich kenne mich nicht mit der internationalen Politik aus und weiß nicht nach welchem Schema solche Pläne erarbeitet werden, ich habe von der Tragweite dieses Konfliktes für die kommenden Generationen vielleicht gar kein Verständnis, aber ich bin mir sicher, dass es auch andere Wege geben muss, um solche Krisen zu lösen.

Ich bin wütend. Außerdem müde. Leider bin ich aber auch gefesselt, an meinen Sessel und den Fernseher. Keine Ahnung warum, aber den Krieg in Afghanistan habe ich anscheinend völlig ignoriert. An keines der Bilder kann ich mich mehr erinnern und das zeigt, wie gut die ganze Taktik immer funktioniert. Das Vergessen ist der Freund des Krieges und seit einem Menschenalter auch der Freund der Vereinigten Staaten. Zum ersten Mal erlebe ich den Krieg. Mich erschreckt nicht, dass auf den Live-Bildern Bombeneinschläge zu sehen sind, sondern, dass es diese Live-Bilder überhaupt gibt. Der zweite Golfkrieg kommt und die zweite Chance vernünftig zu reagieren geht.

Ich bin aufgeregt. Immer hatte ich gehofft, die USA wird wie das Römische Reich sein. Vielleicht ist sie das. Vielleicht ist sie das aber auch nicht. Vielleicht hat sie den Zenit ihrer Macht schon längst erreicht, hat ihn überlebt und zeigt seitdem nur manchmal, wie in diesen Tagen, ihr wahres Gesicht. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, an dem wir dieses Gesicht sehen sollen. Sehen müssen, hätte ich fast geschrieben, und träume weiter davon, dass sich das alte Europa, von den Staaten abwendet...

Aber das führt zu weit und gerade fängt im Fernseher sitzend, der Präsident an zu reden.
 



 
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