Versager muss man verprügeln

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nachtsicht

Mitglied
Bert zieht sich seine alte Lederjacke über und schließt die Wohnungstür. Ganz leise, damit seine 2 Hunde nicht wach werden. Die Tiere sind seine Familie, sein Grund jeden Monat zum Sozialamt zu gehen und das Geld abzuholen, anstatt einfach abzuwarten bis der Gestank seines Körpers die Nachbarn anwidert. Im Treppenhaus: getrocknete Kotze, Zigarettenstummel, der Geruch der Faulheit. Zehn nach fünf am Morgen erst, aber Bert kann nicht schlafen, und um diese Zeit trifft man wenigstens keine Menschen bei einer Runde durchs Viertel. Keine Menschen, die ihn verstoßen mit ihren Blicken. Ihn, den ekligen, abscheulichen Wichser, dessen verfickte Hunde immer bellen
und überall hinscheißen.

Bert läuft langsam den Weg entlang, den er früher jeden Morgen zur Schule gegangen ist. Er hat das Leben nicht verdient, das weiß er, und seine Mitschüler wussten es auch. Damals, als er vor zwölf Jahren genauso viele Schläge in die Fresse bekommen hat, wie Einträge ins Muttiheft. Bei ihm war es ein Muttibuch, so dick wie die Beulen auf seinem Schädel, so wertlos wie er selbst, denn es hat sowieso niemand gelesen. Je mehr sich das Bildungsinstitut nun nähert, desto mehr steigt Bert das eigene Abwasser in die Augen. Vor dem Gebäude mit den eingeschlagenen Fenstern bleibt er stehen. Am Zaun festgekrallt überrennen Ameisen seine Schuhe und Erinnerungen seinen Kopf.
Im Unterricht von Lehrern und von Schülern ausgelacht, diente die Toilette alle 45 Minuten als Versteck, bis die Kameraden den hässlichen Außenseiter mit den täglich selben Klamotten fanden, und kurz darauf stinkend und nass auf dem Boden zusammengerollt zurückließen. Denn Pausen waren zum Pissen da.

Warum war der Spast auch so dumm und ging dann noch in die Schule? Zu Hause war es schlimmer, heute noch hört Bert seine eigenen Schreie und spürt den abartigen warmen Keuschatem an seinem Hals. Stellen wir uns vor, welche Schmerzen ein Junge hat, dem ein perverses Stück Fleisch hinten reingebohrt wird. Stellen wir uns vor, wie Bert sich fühlt.

Ihr habt diesen Menschen vernichtet.
 

Gandl

Mitglied
Hi nachtsicht,
hoppla!
Du fällst auf. Du bist originell. Du bist nicht langweilig. Nein, wirklich, das nun wirklich nicht.
Du fällst nicht auf, weil du auffallen willst. Deine Geschichten sind es. Sie sind hart. Schonungslos. Gott – wir schonen uns hier andauernd, wir sind nett zueinander, wir nehmen Rücksicht. Nein, du nicht. Nicht in deinen Geschichten. Gut so. Das bringt einen weiter. Mich ...
Lieben Gruß
Gandl
 

Stern

Mitglied
Hallo nachtsicht,

ein Text, der sich meinen literarischen Bewertungsmaßstäben entzieht.
Er macht mich betroffen, wütend, beschämt, traurig... und unfähig über Literatur nachzudenken.
Kann also nicht so schlecht sein, aber ich sage es nur widerstrebend. Nicht widerstrebend, weil ich lieber sagen würde, dass ich ihn schlecht finde - widerstrebend, weil ich es total daneben finde, mich in solchen inhaltlichen Bereichen über die Qualität der Darstellung zu unterhalten. Aber ich finde ihn "gut". Brutal. Ja, schonungslos, wie Gandl schreibt.

Er entzieht sich offensichtlich auch meiner Fähigkeit, einen vernünftigen Kommentar zu schreiben. Trotzdem wollte ich was schreiben.

Gruß von Stern *
 
Hallo Nachtsicht

"Denn Pausen waren zum Pissen da" - das macht echt sprachlos. Grandioser Text!!

Viele Grüße
Susanne

PS Keuchatem statt Keuschatem?
 

nachtsicht

Mitglied
Ja, Keuchatem.

Ich habe gehört, dass die Paarung von drastischem Inhalt mit drastischer Sprache übertrieben sein soll. Was sagt ihr dazu?
 

Stern

Mitglied
Hallo nachtsicht,

"übertrieben"? Das ist sicher eine Frage des persönlichen Empfindens. Mir persönlich erscheint dein Text wie aus einem Guss, stimmig und von Übertreibung keine Spur. Wohl aber drastisch.

Da ich nun zum dritten Mal hier lande und mir inzwischen doch Mühe gegeben habe, beim Lesen etwas mehr Distanz walten zu lassen, sind mir noch einige Kleinigkeiten aufgefallen:

der Geruch der Faulheit
Meinst du tatsächlich Faulheit oder Fäulnis? Ich bin mir nicht sicher.

...um diese Zeit trifft man wenigstens keine Menschen bei einer Runde durchs Viertel.
Hier würde ich umstellen, also "um diese Zeit trifft man bei einer Runde durchs Viertel wenigstens keine Menschen. Keine Menschen, die...", dann wird klarer, dass es seine Runde ums Viertel ist. Allerdings könnte die Wiederholung danach auch manchem nicht gefallen. Ich finde sie wirkungsvoll. - Übrigens zweifle ich ein bisschen an dem "man", scheint mir in seine Sichtweise hineingefallen zu sein, während du sonst über Bert sprichst. Hat aber auch eine gewisse Wirkung. Beabsichtigt?

Am Zaun festgekrallt überrennen Ameisen seine Schuhe...
Das klingt, als seien die Ameisen am Zaun festgekrallt, nicht er. Ansonsten ein geniales Bild.

Im Unterricht von Lehrern und von Schülern ausgelacht, diente (ihm) die Toilette alle 45 Minuten als Versteck
Und hier bezieht sich das Auslachen auf die Toilette, nicht auf ihn. Ich glaube, das "ihm" reicht, um diese Wirkung zu verhindern.

Beim genauen Lesen finde ich deinen Text noch besser.

Liebe Grüße,

Stern *
 

nachtsicht

Mitglied
Hallo Stern.

Danke, dass du dir die Zeit für den Text nimmst, die
ich mir beim Schreiben nicht nahm.

Faulheit meinte ich schon, dein Vorschlag zu den "keinen Menschen" gefällt mir. Das "ihm" ist wirklich angebracht, bei der Toilettenstelle.
Mein Ameisenbild ist wirklich etwas versaut, jetzt wo du es sagst, fällt es mir auch auf.


(Um das lesen zu können, müsstest du allerdings ein viertes Mal hier landen...)

Nachtsicht
 
D

Denschie

Gast
hallo nachtsicht,
mich reizt die geschichte nicht besonders.
problematisch ist tatsächlich das zusammenspiel
von derber sprache und derber story.
das soll nicht heißen, dass sie inhaltlich übertrieben
ist. was kinder/jugendliche sich untereinander antun,
was in schulen passiert, welche schicksale menschen,
mit denen wir tür an tür wohnen, erleben, da kann
man nur schwerlich übertreiben.
sprachlich jedoch schon, was auf mich als leserin dann
schlicht emotional nicht mehr ansprechend wirkt.
denn was passiert hier? ein mann verlässt seine wohnung.
geht die straßen entlang und erinnert sich an seine
schulzeit. vor dem alten gebäude bleibt er kurz stehen.
die geschichte hat keine eigentliche handlung.
sie ist eine aneinanderreihung von scheußlichkeiten,
die dem protagonisten zugestoßen sind.
wenn die erinnerung an die schulzeit die eigentliche
handlung ausmachen soll, ist der erste teil mit seinen
beschreibungen überflüssig. dann muss nicht geschildert
werden, dass die hunde seine einzige familie sind, und er
sich nur ihretwegen nicht einfach das leben nimmt.
die moralische wertung am ende verstehe ich nicht.
nach all dem, was du bis dahin beschrieben hast, ist sie
absolut nicht notwendig. der text ist schon eine einzige
anklage, das braucht nicht auch noch in worte gefasst
zu werden.
nun, ich habe hier anscheinend insgesamt eine andere
lesart.
viele grüße,
denschie
 
Hallo nachtsicht!

Mir gefällt der Text einerseits – er hat etwas Schonungsloses, aber da hat man auch schon ganz anderes, weitaus Härteres gelesen. Insofern geht der Text nicht weit genug. Er ist eben nur - wie schon formuliert wurde - drastisch. Einige Formulierungen sind sehr schön: „eigene Abwasser“, „Geruch der Faulheit“, „ Er hat das Leben nicht verdient, das weiß er…“.

Völlig aus dem Rahmen fällt tatsächlich das Ende. Diese moralische Anklage nimmt dem Text seinen Schwung. Auch der Satz „Stellen wir uns vor, wie Bert sich fühlt“ ist für mich zu schulisch.

Ein wenig krankt der Text auch daran, dass in der Kürze zu ausdrücklich die Perspektive der Normalwelt hereinkommt (Ihn, den ekligen, abscheulichen Wichser, dessen verfickte Hunde immer bellen und überall hinscheißen). Da schwankt es perspektivisch ziemlich hin und her, die Konsequenz fehlt noch. Der Autor boxt mit gefesselten Händen und kann so keinen echten literarischen Kinnhaken platzieren. Mir persönlich ist das Ganze etwas zu harmlos aufbegehrend - gemessen an der Intention des Textes.

Ich denke, der Text sollte weitergehen, geradliniger werden und von den (schein-)moralischen Resten befreit werden. Wie gesagt: Ich sehe zwar die Direktheit im Stil, aber wer seinen Buk, seinen Fauser, seinen Fels, seinen Hubert Selby und seinen Bret Easton Ellis ect. gelesen hat, wird eigentlich nicht so viel „Härte“ in dieser kleinen Schilderung finden können. Dennoch ein schönes Stück Prosa. Ich jedenfalls bin sehr gespannt auf Weiteres.

Liebe Grüße

Monfou
 



 
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