Verschwunden (Teil I)

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Mai 1990

Es war Samstagabend und die Discothek dementsprechend gut besucht. Bettina und ihr Zwillingsbruder Tim hatten Mühe, sich einen Weg durch das Menschengewimmel zu bahnen, bis sie Harald am Rande der Tanzfläche entdeckten. Bettina steuerte auf ihn zu und warf ihm, endlich angekommen, die Arme um den Hals.
„Hi, mein Kätzchen!“ Harald küsste sie.
Bettina lachte und schmiegte sich noch enger an ihn.
„Endlich Samstagabend! Wollen wir tanzen?“
„Wenn wir da noch Platz finden.“ Harald lachte und deutete auf die Tanzfläche.
„Ich dreh erst einmal eine Runde“, sagte Tim, „vielleicht ist Lydia ja auch da.“
Bettina verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Lass das doch, das bringt doch nichts.“
„Das weißt du doch nicht.“ Tims Tonfall war trotzig. Er drehte sich um und verschwand in Richtung Billardzimmer. Bettina sah ihm verärgert hinterher.
„Was läuft er ihr noch nach? Sie hat doch schon vor zwei Monaten Schluss gemacht und er will es immer noch nicht akzeptieren. Hat er gar keinen Stolz?“
Harald tippte ihr sanft auf die Nase.
„Kätzchen, das ist seine Sache. Sie waren schließlich drei Jahre zusammen, das steckt man nicht so einfach weg. Komm, wir tanzen.“ Er schob Bettina vor sich her auf die überfüllte Tanzfläche. Kaum hatten sie sich dort neben den anderen tanzenden Pärchen einige Meter Platz erobert, wechselte die Musik von einem schnellen Fox zu einem langsamen Blues. Harald drückte Bettina an sich und während sie engumschlungen tanzten, dachte Bettina daran, dass sie noch nie so glücklich gewesen war. Das Abitur lag seit einem Monat hinter ihr und sie hatte es mit Bravour gemeistert. Vor drei Wochen hatte sie, zusammen mit ihrem Zwillingsbruder und der ganzen Clique, ihren 19. Geburtstag gefeiert. Auf der Party waren sie und Harald sich näher gekommen und nun waren sie ein Paar. Manchmal glaubte Bettina, zu träumen, so unendlich verliebt war sie in ihn und er ganz offensichtlich auch in sie.
Im Herbst würde ihr Studium in München beginnen und vorher, über den Sommer, würde sie zeitweise abends als Kellnerin in ihrer Heimatstadt jobben, um sich vor dem Studium noch ein wenig Geld dazu zu verdienen. Auch wenn ihre Eltern, bei denen sie und Tim zurzeit noch wohnten, sie finanziell unterstützen würden, wollte sie ihnen nicht mehr als nötig auf der Tasche liegen. Ehe sie sich also wieder mit aller Kraft aufs Lernen konzentrieren musste, lagen noch ein paar Monate mehr oder weniger freie Wochen vor ihr, die sie dazu nutzen würde, viele Bücher zu lesen, ins Freibad zu gehen und vor allen Dingen viel Zeit mit Harald zu verbringen. Wenn sie erst in München war, würden sie sich nicht mehr so oft sehen können und Bettina hatte fest vor, die Zeit vorher so richtig zu genießen.

Da Harald ein guter Tänzer war und ihr auf ihrer Geburtstagsparty den Foxtrott beigebracht hatte, konnte Bettina nun nicht genug vom Tanzen bekommen. So blieben sie lange auf der Tanzfläche.
Einmal glaubte Bettina, Tim von dort aus an der Bar im Gespräch mit irgendeinem Typen, den sie nicht kannte, zu sehen, maß dieser Begebenheit aber keine große Bedeutung bei, obwohl Tim beim Sprechen wild gestikulierte. Beide schienen recht aufgebracht zu sein, aber das kam an einem späten Samstagabend nach einigem Alkoholkonsum schon einmal vor. Seit Lydia Schluss gemacht hatte, verhielt Tim sich sowieso ein wenig merkwürdig. Er gab kaum noch Auskunft darüber, wo er hinging und was er machte, weder ihr noch ihren Eltern gegenüber. Im Gegensatz zu ihr hatte er das Abitur nur mit Ach und Krach geschafft und für ein Studium würde es sicher nicht reichen. Momentan sollte er sich eigentlich darum bemühen, sich dann eben für eine Ausbildung zu bewerben, aber Tim konnte sich nicht so richtig entscheiden, welchen Beruf er überhaupt ergreifen wollte. Sprach man ihn darauf an, reagierte er unwirsch und murmelte etwas davon, dass er sowieso nicht in diesem „gottverlassenen Kaff“ bleiben wollte und es daher Blödsinn sei, sich hier für eine Ausbildung zu bewerben. Nun gut, es war sein Leben. Bettina wusste, dass es nichts bringen würde, ihm gute Ratschläge zu erteilen, konnte es aber dennoch manchmal nicht lassen. Sie hing an ihrem Zwillingsbruder und wollte, dass es auch ihm gut ging.

Gegen 4.00 Uhr leerte sich die Discothek allmählich. Harald schlug vor, sie nach Hause zu bringen.
„Können wir Tim mitnehmen?“
„Sicher. Wenn er nicht schon weg ist. Ich hab ihn nämlich seit dem frühen Abend nicht mehr gesehen. Schauen wir mal nach.“
An der Bar war er nicht, im Billardzimmer auch nicht. Harald zuckte die Achseln.
„Komm, wir fahren. Er ist sicher schon zu Hause, wirst du gleich sehen. “
„Ich geh um die Uhrzeit bestimmt nicht mehr in sein Zimmer.“
„Dann frag ihn eben morgen, warum er einfach abgehauen ist, er hätte dir ja wenigstens Bescheid sagen können.“
„Davon hält er doch seit einiger Zeit nichts mehr“. Obwohl das stimmte und es somit eigentlich keinen Grund gab, beunruhigt zu sein, hatte Bettina ein merkwürdiges, unbestimmtes, auf eine gewisse Art ganz schreckliches Gefühl. Als ob sie Tim nie mehr wiedersehen würde. Sie bemühte sich, das Gefühl abzuschütteln.
„Komm, Kätzchen, wir fahren jetzt.“ Harald nahm ihre Hand und sie gingen zu seinem Auto. Es war keine weite Strecke von hier aus bis zu ihrem Elternhaus, höchstens zwei Kilometer, aber links und rechts der Straße lagen nur Felder, kein einziges Haus war zu sehen und Bettina war froh, dass sie den Weg nicht im Dunkeln zu Fuß gehen musste. Auf dem Hinweg waren sie und Tim dieselbe Strecke zu Fuß gelaufen, aber da war es noch hell gewesen. Vielleicht war er ja tatsächlich auch jetzt vorgegangen und längst zu Hause.
Als sie ca. einen Kilometer gefahren waren, sah Bettina von weitem eine schlanke, dunkel gekleidete Gestalt am Wegesrand, die aber, kaum dass die Scheinwerfer sie erfasst hatten, zur Seite sprang und quer über die Felder davon lief.
„Halt mal an, vielleicht war das Tim!“
Harald fuhr unbeirrt weiter.
„Das war bestimmt nicht Tim, der wäre doch nicht vor uns weggelaufen. Er kennt ja mein Auto. Und ich halte nicht mitten in der Nacht in einer verlassenen Gegend einfach so an, da bin ich vorsichtig.“
„Angsthase“, dachte Bettina, sprach es aber nicht aus. Die Gestalt war sowieso nicht mehr zu sehen und sie hatte auch keine Lust, einen Streit mit Harald anzufangen. Vor ihrem Elternhaus angekommen, hatte sie es dennoch sehr eilig, auszusteigen und ins Haus zu kommen. Sie gab Harald nur einen flüchtigen Abschiedskuss.
„Du kommst ja morgen um zwei?“
„Ja, sicher, Kätzchen, bis dann!“ Harald hatte den Motor gar nicht erst ausgeschaltet, wendete nun direkt und fuhr davon. Vielleicht war er von dem raschen Abschied enttäuscht, aber das war Bettina momentan unwichtig. Sie schlich auf Zehenspitzen vor Tims Zimmertür und horchte. Es war alles ruhig, wahrscheinlich schlief er also schon. Sie zauderte, wollte die Klinke niederdrücken und überlegte es sich dann doch wieder anders. Er würde mächtig sauer sein, wenn sie um halb fünf an einem Sonntamorgen ohne richtigen Grund in sein Zimmer kommen und ihn wecken würde. Zum Frühstück würde er bestimmt frisch und munter oder vielleicht ein wenig verkatert am Tisch sitzen und dann würde sie ihm sagen, dass sie es überhaupt nicht gut fand, wenn er bei einem Abend, den sie gemeinsam begonnen hatten, einfach so abhaute, ohne ihr Bescheid zu sagen.

Aber Tim erschien nicht zum Frühstück. Um halb elf klopfte ihre Mutter an ihre Zimmertür.
„Bettina, bist du wach?“
„Ja“. Bettina setzte sich im Bett auf und gähnte. Eine halbe Stunde hätte sie schon noch gerne geschlafen. „Ich komme gleich zum Frühstück.“
Ihre Mutter steckte den Kopf zur Tür hinein.
„Weißt du, wo Tim ist?“
Bettina bekam einen Schreck. „Ist er nicht in seinem Zimmer?“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Nein, und anscheinend war er auch noch gar nicht da. Das Bett ist völlig unbenutzt. Ich dachte, er hätte dir vielleicht gesagt, dass er irgendwo anders übernachtet.“
„Er hat mir überhaupt nichts gesagt.“ Bettina stieg aus dem Bett. „Ich ziehe mich direkt an und komm runter, dann ruf ich mal Carsten an, vielleicht weiß der ja was.“
„War er gestern Abend auch da?“
„Ich hab ihn nicht gesehen, aber das heißt nichts. Die Disco war so voll. Mach dir mal keine Sorgen, er wird schon irgendwo sein.“ Mit fahrigen Bewegungen zog Bettina sich an. Ihr seltsames Gefühl von gestern Abend war ihr wieder eingefallen, wie es sie durchdrungen hatte mit der gleichzeitigen Erkenntnis, dass sie Tim nie mehr wiedersehen würde.
„Das sind doch Hirngespinste“, schalt sie sich selbst. Jedenfalls war das nichts Greifbares. Und auf keinen Fall würde sie davon ihren Eltern erzählen. Solange sie glaubten, Bettina würde sich keine Sorgen machen, würden sie sich auch keine machen.
Sie beeilte sich, zum Telefon zu kommen. Carsten gehörte zu ihrer Clique und war früher ganz dicke mit Tim befreundet gewesen. Dann kam Lydia und die Freundschaft zwischen Tim und Carsten kühlte mehr und mehr ab, weil Carsten Lydia nicht ausstehen konnte. Als sie mit Tim Schluss gemacht hatte, war Carsten jedoch wieder bei Tim aufgetaucht und hatte versucht, so gut es eben ging, Tim über den Verlust hinwegzuhelfen. Allerdings hatte Tim sich das nur begrenzt gefallen lassen und Carsten war nur zweimal seit der Trennung da gewesen. Wie auch immer, eventuell könnte er ja etwas wissen. Mit zitternden Fingern wählte Bettina die Nummer.
Carstens Vater meldete sich und kurz darauf war Carsten selbst am Apparat.
„Nee, Tim ist nicht bei mir“, antwortete er auf Bettinas Frage. „Ich habe ihn schon seit einer Woche nicht mehr gesehen. Auf meine Hilfe hat er ja offenbar keinen Wert gelegt.“
„Ja, ich weiß, danke, war ja auch nur eine Frage.“ Bettina legte auf und beschloss, jetzt einfach jeden aus der ganzen Clique anzurufen, inklusive Lydia, aber niemand wusste etwas. Schließlich musste sie ihren Eltern sagen, dass Tim nicht aufzufinden war.
Ihre Mutter fing an zu weinen. „Wo kann er nur stecken?“
„Er wird schon wieder auftauchen.“ Bettinas Vater legte seiner Frau tröstend die Hand auf die Schulter. „Du weißt doch, wie er in letzter Zeit war. Er hat uns ja sowieso nichts mehr gesagt.“

Als Harald um zwei Uhr kam, öffnete ihm Bettina mit angespannter Miene die Tür.
„Tim ist immer noch nicht da“, informierte sie ihn kurz.
„Was?“ Haralds Gesichtsausdruck wechselte von anfänglicher Verblüffung zu ernster Besorgnis.
„Habt ihr die Polizei angerufen?“
Bettina schüttelte den Kopf. Harald nahm sie in die Arme.
„Soviel ich weiß, kann man erst nach 24 Stunden eine Vermisstenanzeige aufgeben. Falls er bis dahin wirklich noch nicht wieder da ist, dann macht das.“
Bettina nickte und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. Nein, sie wollte nicht weinen. Vielleicht war ja gar nichts passiert. Vielleicht hatte Tim ein Mädchen aufgerissen, dort die Nacht verbracht und würde in den nächsten Stunden quicklebendig vor der Tür stehen. Sie klammerte sich an diese Hoffnung, aber die Zeit verrann und Tim tauchte nicht auf.

Nach 24 Stunden gab die Familie die Vermisstenanzeige auf.
„Sind Sie sicher, dass Ihr Sohn nicht einfach mal weg wollte?“ fragte der Polizist, der die Anzeige entgegen nahm.
„Was soll das heißen?“ Bettinas Vater musterte den Polizisten ärgerlich. „Meinen Sie, wir würden hier sitzen, wenn wir annehmen würden, er wollte nur mal weg? Ganz bestimmt nicht.“
„Sie glauben gar nicht, was ich schon erlebt habe“. Der Polizist füllte ein Formular aus. „Da wurden erwachsene Kinder als vermisst gemeldet und später stellte sich heraus, dass sie nur mal kurz nach Spanien trampen wollten. Kein Verbrechen oder so. Vielleicht hatte ihr Sohn ja Grund, abzuhauen.“
„Ganz bestimmt nicht!“ Jetzt fuhr Bettinas Mutter wütend in die Höhe. Doch der Polizist winkte ab. „Beruhigen Sie sich bitte. Es ist ja nur in Ihrem Interesse, wenn wir nach dem Ausschlussverfahren vorgehen.“
 
G

Gelöschtes Mitglied 18005

Gast
Hallo SilberneDelfine,

ich finde diese Erzählung recht gelungen. Das "recht" kann eventuell auch gestrichen werden, wobei ich denke, dass gewisse Formulierungen etwas vorgekaut und klischeehaft wirken, vielleicht aber auch nicht.

Ob ich die beiden weiteren Teile lesen werde weiß ich noch nicht.

Was jedoch als Kompliment noch anzumerken ist (ohne mir jetzt die Mühe zu nehmen Beispiele zu geben): ich konnte mich mit gewissen Stellen ganz gut identifizieren. Der Aha Effekt. Das IchKenneDas Gefühl. Toll so.

LG Peter
 
Hallo Peter,

vielen Dank für deinen Kommentar! Freut mich, dass dir der erste Teil gefällt, deine Antworten bei den beiden anderen habe ich schon gelesen und finde es interessant, wie es bei dir mit dem Gefallen bergab geht, während ich den dritten Teil für meinen gelungensten bis jetzt halte :).

LG SilberneDelfine
 



 
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