Versteckt.

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nisavi

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Wenn die Nachmittage trüb waren, so wie heute, und er nicht Gefahr lief, Leuten aus dem Dorf zu begegnen, verließ er seine Wohnung. Er stieg dann den Hügel hinter dem Haus hinauf und folgte dem Pfad in den nahegelegenen Wald. Dort hatte er einen kleinen See entdeckt.
Mückenschwärme flogen auf, wenn er das Schilf vorsichtig zur Seite bog, um in unmittelbare Ufernähe zu gelangen. Er liebte es, dort zu sitzen und zu beobachten, wie azurblaue Insekten die Oberfläche des Gewässers in schnellem Flug streiften. Wasserläufer glitten ruckartig aus dem Röhricht. Großäugige Libellen verharrten, sich gelangweilt paarend, auf schwankenden Halmen.
Manchmal hielt er seine nackten Füße ins Wasser. Dann dauerte es nicht lange, bis lakritzfarbene Blutegel sich den Weg zu ihm bahnten. In eleganten Wellenbewegungen kamen sie näher. Es tat nicht weh, wenn sie sich festsetzten. Beim ersten Mal hatte es ihn Überwindung gekostet, den Ekel zu unterdrücken und ruhig abzuwarten, bis die Tiere, von seinem Blut gesättigt, abfielen.
Inzwischen aber genoss er das Gefühl. Es war, als würde er sich selbst unter einem Lupenglas betrachten: geduldig, ruhig und beherrscht. Er gab etwas ab. Seine Zeit. Sein Blut.
Die Minuten, die die Egel brauchten, um sich vollzusaugen, waren im Laufe der Zeit eine wichtige Maßeinheit für ihn geworden.
Wenn auch der letzte Wurm ins brackige Wasser zurückgefallen war, stand er auf und lief schnellen Schrittes den Hügel hinab.
Er wollte nicht zu spät kommen. Um 18.00 Uhr war er mit Lilja verabredet, einer langhaarigen Gymnasiastin. Sie hatte große graue Augen und trug schulterfreie Oberteile. Der Anblick ihrer jugendlichen Figur erregte ihn. Zugleich aber wurde ihm der Verfall des eigenen Körpers schmerzlich bewusst. Das Haar wurde schütter, morgens, vor dem Spiegel ließ sich der Bauchansatz nicht mehr verbergen. Alle verbliebenen Zähne waren inzwischen überkront worden.
Er half Lilja bei den Hausaufgaben. Es machte ihm Spaß, für sie komplizierte Gleichungssysteme zu lösen und er recherchierte im Internet, wenn sie Referate zu schreiben hatte. Er freute sich über ihre gute Noten. Er mochte ihre unbekümmerte, manchmal unbeholfen-direkte, Art, sich mitzuteilen und liebte Ausdrücke wie „krass“, „geil“ und „fett“, die ohne sie nie zu ihm gefunden hätten. Er saugte diese Wendungen förmlich auf und baute sie nach und nach äußerst vorsichtig in die eigene Rede ein. Er fühlte sich dann jung. So, als hätte er noch alles vor sich.
Die Nachrichten wollte er nicht verpassen. Er verabschiedete sich mit einem Kuss von Lilja.
Sie sagte: „Vergiss mich nicht.“ Jedes Mal.
Der Papst strich Kindern übers Haar, Politiker redeten mit monotonen Stimmen über Koalitionsvereinbarungen, ein Zug war entgleist. Er stand auf und holte sich ein Glas Wasser aus der Küche. Jugendliche verschwanden und Ausstellungen wurden eröffnet. Er schloss die Balkontür. Fußballmannschaften gewannen Pokale. Er schlug die Beine übereinander. Ein Tief bestimmte die Großwetterlage in Europa. Er sah die Bilder und er sah sie doch nicht. Er hörte die Stimmen der Sprecher, aber der Gehalt der Worte drang nicht wirklich zu ihm. In Gedanken war er bereits bei Anne.
Anne war Krankenschwester und Mitte dreißig. Er kannte sie bereits länger. Sie waren ganz vertraut miteinander. Meist trafen sie sich gegen elf, dann hatte sie ihre Kinder im Bett und den Haushalt erledigt. Schon in den ersten Minuten wusste er, ob es ihr gut ging, oder schlecht. Sie berichtete von ihrer Arbeit, von zermürbenden Streitigkeiten mit Kollegen und der Arroganz des Chefarztes. Er hörte geduldig zu und bemühte sich, ihr Hinweise zu geben, wie sie solchen Querelen aus dem Weg gehen könne. Anne tat ihm leid, wenn sie beschrieb, wie sehr das langsame Sterben von Patienten ihrer Psyche zusetzte. Er war dann oft ratlos und wusste nicht, was er sagen sollte. Er saß schweigend da. Manchmal weinten sie zusammen.
Er bekam Hunger, ging in die Küche und schmierte sich ein Leberwurstbrot. Als er zurückkam, war Anne verschwunden. Ohne Verabschiedung. Das tat sie oft. Er hasste das, aber er hatte sich daran gewöhnt. Morgen würde sie wieder da sein.
Er wurde müde. Die Augen schmerzten und er kniff sie zusammen.
Christiane war Malerin. Wie heute erschien sie unangemeldet und unregelmäßig, aber oft redeten sie dann bis zum Morgengrauen. Sie war eine kluge Frau, kannte sich in der Kunstszene aus, las viel und mochte klassische Musik, so wie er. Leider war sie aber auch eigensinnig und starrköpfig. Mehrmals waren sie sich ernsthaft in die Haare geraten.
Sie hatten sich beschimpft, beide die Beherrschung verloren.
Zitternd war er aufgestanden und davongegangen. Er konnte vor Aufregung nicht schlafen und stritt in seinen Träumen weiter mit ihr. Am Morgen tat es ihm leid und er schämte sich.
Beim nächsten Treffen entschuldigte Christiane sich wortreich, dann war alles wieder gut. Bis zum nächsten Mal.
Er war erschöpft. Erschöpft von seinem Spaziergang an den See, erschöpft von der Erregung, die ihn angesichts von Lilja’s nackten Schultern ergriffen hatte, erschöpft von Anne’s Krankenhausberichten und vom Streit mit Christiane.
Müde von diesem Leben.
Er loggte sich aus dem Chatroom aus, fuhr den Rechner herunter, duschte kalt und ging zu Bett.
Er deckte sich zu mit einer blauen Decke, gewoben aus den Leben anderer Menschen. Sie barg ihn vor der Nacht, aber sie wärmte ihn nicht.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hübsch dichte Atmosphäre, suppig und gehaltvoll, das schlürft sich mit Genuss.
Aber eine Schüssel hätte genügt.
Und dann mit einem Satz am Schluss den nimmerleeren Topf gezeigt: Guck, alle Tage Eintopf!
Ich jedenfalls mochte von den Nachschlägen je grad’ zweieinhalbe Löffel kosten, wusste ja schon, wie es schmeckt.

Noch ein wenig in den Zähnen gepult:

..., und er nicht [blue]keine[/blue] Gefahr lief, ...
Großäugige Libellen verharrten, sich gelangweilt paarend, auf schwankenden Halmen.
Also, ick weess nich. Gelangweilt? Das traue ich alten Ehepaaren zu, aber nicht den Libellen.
Die machen auf mich eher einen verbissenen Eindruck .

...,stand er auf und lief schnellen Schrittes den Hügel hinab.
Er eilte, rannte, raste, hetzte, wetzte... meinetwegen beschleunigte er seine Schritte, weil er hastete und so eilig lief... mal so aus dem Stand geschossen, gibt noch mehr.
Seufz. Tschuldigung, aber ich habe eine Allergie gegen Beine, die „schnellen Schrittes“ stelzen.
Nix für ungut ;-)

Machte die Mücke und schwärmte aus
 



 
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