Versuch einer Geschichte gegen Winterdepressionen

knychen

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Versuch einer Geschichte gegen Winterdepression

Als wir letzten Sommer den ersten Tag am Strand hinter uns hatten und die Frage nach einem Lagerplatz für die kommende Nacht langsam akut wurde, nahmen wir uns den großen Frankreich-Atlas zur Hand und studierten die Gegend landeinwärts mit einem Radius von ungefähr fünfzig Kilometern. Wenn man sich mit dem Lesen von Karten auskennt und von der Picknickwütigkeit der Franzosen weiß, reicht es eigentlich, eine als Sehenswürdigkeit gekennzeichnete Stelle( Burgruine, Abtei, alte Brücke oder Ähnliches) zu entdecken und mit 99%-ger Sicherheit findet man dort einen schönen Parkplatz für den Bus, eine Grillstelle, oftmals Gleichgesinnte, in jedem Fall aber, nach Abzug der Tagestouristen, einen ruhigen Platz für die Nacht.
Wir hatten uns für die Montagne de la Gardiole zwischen Montpellier und Sete entschieden.
Von der N113 fuhren wir in der Ortschaft Gigean links ab, unter der Autobahn hindurch und auf einen Hügel mit dem schönen Namen Roc d’Anduze hinauf. Dort oben sollten laut Karte
die Überreste der Abtei St.Felix de Montceau stehen.
Es war ein traumhafter Platz.
Von der Abtei selbst standen eigentlich nur noch die Hauptmauern und die Portaltreppe, aber der Ort strahlte eine Ruhe aus, die uns sofort gefangen nahm.
Ein massiver Holztisch war vorhanden, große Bäume spendeten Schatten und Lotte konnte rumrennen, ohne daß wir uns Gedanken machen mußten. Melanie entdeckte die riesige Zi-
kade(heißen die so?), und mit Beginn der Dämmerung genossen wir nach dem Tag am Strand
absolute Stille.
Ich baute den Grill auf, wir hatten unterwegs im Supermarkt ein paar Merguezen gekauft, Melli schnitt sonnenpralle Tomaten und Gurken auf und wir tranken einen leichten Sandwein aus der Nachbarschaft der Salines du Midi. Altmeister Bob Marley sang mit heiserer Raucherstimme aus dem Autoradio einen Reggae nach dem anderen.
Wir hatten Charlotte versprochen, daß sie gaaanz lange aufbleiben darf und, als Sahnehäubchen auf den schönen Tag, daß wir einen Spaziergang machen würden, aber erst wenn es ganz dunkel ist. Wir wollten noch die Sterne und den Mond ansehen.
Schließlich war es soweit. Nur im Nordwesten lag noch ein rotvioletter schmaler Lichtstreifen am Horizont. Eigentlich kein Lichtstreifen, eher die Ahnung davon.
Melanie links, ich rechts und das Kind in der Mitte gingen wir, ohne es vorher abgesprochen zu haben, die hundertfünfzig Meter zur Ruine rüber. Als wir vor dem ehemaligen Hauptportal standen, war ich überwältigt. Hier, auf den sommerwarmen Granitstufen, wollte ich mich setzen, einen kleinen Joint rauchen, die Arme hinter dem Kopf verschränken und überlegen auf die im Tal unablässig von links nach rechts und von rechts nach links wandernden roten und gelben Licht punkte schauen. Luftlinie vielleicht einen Kilometer , schien mir die Autobahn A9“ La Languedocienne“ doch Lichtjahre entfernt. Mit etwas Phantasie und geschlossenen Augen konnte man das gleichmäßige Rauschen, das von dieser ameisenstraßengleich bevölkerten Betonpiste emporstieg, als das Geräusch einer schwachen Brandung einordnen.
Die zahllosen Insekten waren auch plötzlich, ihrem uralten Zeitplan gemäß, verstummt und so hörten wir nur diese imaginäre Brandung und uns selbst.
„Kommt, hier wollen wir uns ein bißchen hinsetzen.“
Na da hättest du Lottchen erleben müssen. Um nichts in der Welt war sie dazu zu bewegen, auch nur einen Fuß, geschweige denn ihren kleinen Hintern auf die geweihten Stufen zu setzen.
„Nein, nich hinsetzen, wir wollen doch pazieren. Wir wollen doch den Mond kucken und die Terne. Mein Mond und meine Terne, wa? Komm Papa, wir wollen hier laufen.“
Nun ja, versprochen war versprochen, wenn die Autorität gewahrt bleiben soll, muß man auch mal auf ein paar warme Granitstufen verzichten.
So gingen wir also weiter, auf der anderen Seite der Ruine den Hügel hinauf, einen verwaschenen Trampelpfad entlang, erst im völligen Dunkel einiger Hartlaubgewächse und plötzlich standen wir auf einer plateauähnlichen Rasenfläche, schon deutlich höher als die Ruine und Lotte sagte, als ob sie gewußt hätte, daß dieser Platz hier oben ist:
„Hier kann man den Mond sehen.
Und die Terne.
Meinen Mond.
Und meine Terne.“
Und ich nahm sie auf meinen Arm und wie um den unendlichen Himmel besser erreichen zu können, streckte sie die Hände nach oben und fing an, die Gestirne zu verteilen.
„Der Kleine da ist Mamas Tern.
Und diss ist Papas Tern. Die andern sind alle meine, wa?“
Wir konnten ihr nur beipflichten.
Bis hier alles in Ordnung.
Wenn man sich nun Mühe gibt, kann man eine nette kleine Geschichte daraus machen, etwas abschweifen, zurückfinden, Pointen setzen, Dialoge basteln, aber wer will sowas lesen?
Wenn ich soweit bin, daß ich diesen Abend aus der Sicht des Kindes schildern kann, mit allem Drum und Dran, wenn ich schildern kann, warum sie mit uns zu diesem schönen Platz auf dem Plateau wackelte, ohne zu wissen oder genau wissend, daß dieser Platz da ist, wenn ich die Phantasie habe, ihre Gedanken in adäquate Worte zu fassen und zwar dergestalt, daß ein erwachsener Leser mit einer verschütteten Kindheitserinnerung ähnlicher Art sagt: „Stimmt, so war das damals und ich bin nach oben gegangen, weil ich in meinem letzten Spiel vor dem Dunkelwerden ein Marienkäfer war und weil Käfer immer, ob an der Hand oder einem Stock, nach oben klettern.“-wenn ich das kann, dann bin ich soweit, daß etwas von mir veröffentlicht werden kann.
Bis dahin werde ich wohl bei meinen Fingerübungen bleiben.
 



 
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