Verurteilt zum Leben

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MIO

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Viele Inseln sind im Laufe der Jahre überflutet. Die Insel auf der ich seit siebzig Jahren lebe, ist vom Rest der Welt abgeschnitten. Nur zu meiner Freundin Amalia hatte ich noch Kontakt. Vor einer Woche habe ich eine Nachricht von ihr bekommen. Sie schrieb, mein Vater liege im Sterben. Er habe einen letzten Wunsch; Er wollte mich noch einmal sehen. Während des Fluges beschlich mich eine böse Vorahnung.
Die Angst breitete sich mit jedem Schritt den ich die Stufen herunter stieg in mir aus. Fünf Genpos standen am Fuße der Rolltreppe. Daneben eine ihrer orangefarbenen Flugschalen. Es war eine Falle. Amalia hatte mich verraten. Später erfuhr ich, dass mein Vater lebte, wenn auch Jahr für Jahr eins seiner Organe ersetzt werden musste.

Ein Genpos stellte sich mir in den Weg. „Gesine Lohmann?“
Obwohl ich mich kaum an diesen Namen erinnerte, nickte ich stumm. Er legte mir Handschellen an und führte mich zum Flugwagen. Durch die getönte Scheibe fiel mein Blick auf die künstlichen Landschaften. Die andauernde Hitze hatte den natürlichen Lebensraum der Erde längst zerstört.
Als das Fahrzeug hielt, drückte ich mich tiefer in den Sitz. Ein Genpos warf mir einen stechenden Blick zu. Ich spürte einen heftigen Schmerz in der Brust. Willenlos erhob ich mich und folgte den Männern in den riesigen Gebäudekomplex.
In den unteren Geschossen befanden sich die Laboratorien.
Es roch nach Verwesung, künstlichen Aromen und Chlor.
Nachdem ich mein Zimmer bezogen hatte, trat einer der Obergenpos ein. Er fixierte mich mit leblos, leuchtend gelben Augen: „Gut, dass sie hier sind“, sagte er mit rauer Stimme. „Wir helfen Ihnen. Ihr Verschleiß ist schon sehr weit fortgeschritten.“
„Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“
„Sie haben schon zwei Mal versucht sich das Leben zu nehmen.
Das müssen wir ernst nehmen.“
„Ja, einmal vor zweihundert siebenundzwanzig Jahren und einmal vor …“
Er nahm die Codetafel und suchte nach meinen Daten.
„Dreiundsiebzig Jahren“, sagte er. Damals haben sie die Behandlung abgebrochen. Das war keine kluge Entscheidung.“
Ich sah auf die verblassten Narben an meinen Handgelenken. Nach drei Tagen fanden sie mich blutleer und mehr tot als lebendig. Die Reanimation dauerte drei Stunden.
Beim zweiten Mal wollte ich keinen Fehler machen. Das Seil schnürte mir die Kehle zu. Halsnerven und Arterien verschlossen sich. Mein Körper zuckte. Mir kamen Tränen der Erleichterung. Dann verlor ich das Bewusstsein.
Mit aufgedunsenem Gesicht, violetten Lippen, aus Nase und Mund blutend, wurde ich in diese Klinik gebracht. Ein zäher Kampf begann, den ich auch diesmal verlor.
Der Obergenpos tippte seine Worte ein, während er sprach:
„In den nächsten Wochen injizieren wir Ihnen Enzyme und Mitochondrien-Gene. Wir stimulieren die Immunzellen, um die unerwünschte Ansammlung von Proteinen wegzuräumen und vorhandene Zellen zur Neuteilung anzuregen. Außerdem rate ich zu einer Therapie mit körpereigenen Stammzellen, allerdings genetisch verändert. Sie werden sich wie neu geboren fühlen.“
Wie gelähmt lag ich auf dem Bett. Keiner hatte mich ernst genommen. Ich sei verrückt, hatten sie gesagt. Diese Augen waren es, die sie verrieten. Diese starren, reglosen Augen. Anfangs waren es wenige. Sie trugen blaue Kontaktlinsen. Überall schlichen sie sich ein, übernahmen alle leitenden Positionen. Woher sie kamen, weiß bis heute keiner. Später teilten sie sich, quasi über Nacht. Für sie ist es ein Spiel, dass alle begeistert mitspielen.
Ein Bett wurde herein geschoben. Die Frau kam frisch aus dem OP. Bei einem Verkehrsunfall verlor sie das rechte Bein. Eine leere Hülle wurde transplantiert und hängt wie ein schlaffer Luftballon unter ihrem Knie. Sie wird mit Wachstumsgranulat gefüllt. In zwei bis drei Wochen kann sie wieder laufen und springen. Nur eine blasse Narbe wird bleiben.
„Hallo“, sagte sie etwas benommen. „Warum bist du hier?“
„Zellerneuerung und Gefühlsumstellung“, antwortete ich.
„Zellerneuerung. Hab ich letztes Jahr machen lassen. Ist eine tolle Sache.“
„Fehlt dir nichts?“
„Nein, was sollte mir fehlen?“
„Kinderlachen. Rosenduft. Der Geschmack von Schokoladeneis auf der Zunge. Gedichte. Musik.“
Sie schüttelte den Kopf, steckte sich ihre Kopfhörer in die Ohren und schloss die Augen.
Einer der Wärter kam mit einem Tablett herein.
„Abendessen.“
Er reichte mir ein gepresstes Nährstoffkonzentrat und zwei bunte, mit weißem Pulver gefüllte Kapseln. Alles löste sich augenblicklich im Mund. Mir war, als würden alle meine Gefühle von einem trockenen Schwamm aufgesaugt. Ich atmete tief ein. In meine Hand tropfte eine kostbare, letzte Träne.
 

jon

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Teammitglied
Das Thema ist nicht soo neu(*), aber aus meiner Sicht gut umgesetzt. Ein Feinschliff lohnt sich auf jeden Fall.

Der erste Schritt dazu wäre, eine Unlogik im Ansatz zu beheben: Der Ich-Erzähler wird am Ende zu einem dieser Zombies, erzählt aber rückwirkend - also als Zombie, was so manche emotionale Wertung unglaubhaft macht. Entweder die Erzählte Zeit auf die grammatische Zeit Gegenwart umstricken – das könnte aber zu einem noch kühleren Klang führen, den man wiederrum noch bewusster als Stilmittel kultivieren müsset. Man könnte auch vom Ich-Erzähler zu personaler Erzählweise wechseln, das wäre aus meiner Sicht am passendsten zum jetzigen Wortlaut.

In dem Zuge müsste auch der Einstiegsabsatz deutlich überarbeitet werden. Im Moment wirkt er wie eine krampfhaft zusammengestrichene Vorgeschichte. Abgefangen bei: „Wofür ist wichtig, dass viele Inseln überflutet sind?“ über die sprunghafte Ansage mit dem schlechten Gefühl (und dem falschen Absatz) bis zu der Erklärorgie nach „Fünf Genpos standen am Fuße der Rolltreppe." dem eigentlich nur (zur Sicherheit, dass der Leser versteht) ds "Es war eine Fall gewesen." ODER „Amalia hatte mich verraten.“ stehen sollte.
Abgesehen davon passt er in der Grundstimmung nicht zu dem schon erwähnten Zombie-Effekt.

Danach wären noch hier und da Details auszubessern. Wenn du möchtest, können wir das im zweiten Schritt in Angriff nehmen.


(* naja, was ist schon neu? ;))
 

MIO

Mitglied
Das fällt mir jetzt erst auf, das der Einstiegsabsatz wirklich nicht so toll rüberkommt. Ich bin mir in den Zeiten auch immer nicht sicher, Ich schreibe gerade einen Roman und verzweifle über den Zeiten. Ja, ich denke etwas ganz Neues zu finden ist schwierig. Ich versuche die Geschichten aus meiner Sicht rüberzubringen. Danke für die Hinweise.
LG MIO
 

MIO

Mitglied
Die vergifteten Ozeane fressen sich jedes Jahr tiefer ins Festland. Das ist nicht der einzige Grund, weshalb ich seit siebzig Jahren in einem Flüchtlingscamp in Sibirien lebe. Nur der Kontakt zu meiner Schulfreundin Amalia verbindet mich mit meiner Vergangenheit. Allein sie weiß, wo ich bin. Vor einer Woche bekam ich eine traurige Nachricht von ihr.

Liebe Sina,

Dein Vater liegt im Sterben. Er hat einen letzten Wunsch:

Er möchte dich noch einmal sehen.

Amalia

Während des Fluges beschleicht mich eine schlimme Vorahnung.

Als ich aus dem Flugzeug trete, weiß ich, dass es falsch war, meine innere Stimme zu ignorieren. Amalia hat mich verraten. Am Fuße der Rolltreppe stehen drei Genpos. Das sind Überwachungsroboter, die aus menschlichen Überresten gezüchtet werden. Ein Genpos stellt sich mir in den Weg. „Sina Lohmann?“

Ich nicke, weil leugnen zwecklos ist. Handschellen klicken. Er führt mich zu einer ihrer orangefarbenen Flugschalen. Durch die getönte Scheibe sehe ich auf die künstlich grünen Landschaften. Obwohl es viele Jahre her ist, erinnere ich mich gut an die gewaltigen Stürme. Bäume wurden samt Wurzeln aus dem Boden gerissen. Die Wälder sahen aus, als hätte Gott mit den Baumstämmen Mikado gespielt. In den Jahren danach verbrannte eine unbarmherzige Hitze das Leben auf der Erde.

Als das Fahrzeug hält, drücke ich mich tiefer in den Sitz. Der stechende Blick eines Genpos trifft mich. Ein missliches Kribbeln fährt durch meinen Körper. Willenlos erhebe ich mich und folge den Robotern in den grauen Gebäudekomplex.

In den unteren Geschossen befinden sich die Laboratorien.

Es stinkt nach Verwesung, künstlichen Aromen und Chlor.

Nachdem ich mein Zimmer bezogen habe, tritt ein Obergenpos ein. Er fixiert mich mit leblos, leuchtend gelben Augen. „Gut, dass Sie hier sind“, sagt er mit monotoner Stimme. „Wir helfen Ihnen. Ihr Verschleiß ist weit fortgeschritten.“

Zorn steigt in mir auf. „Ich brauche Ihre Hilfe nicht.“

„Sie haben schon zwei Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Das müssen wir ernst nehmen.“

„Ernst nehmen …“ hauche ich erschöpft. Das ist zweihundertsiebenundzwanzig Jahren her. Das zweite Mal war vor …“

Der Genpos nimmt die Codetafel und sucht nach meinen Daten. „Dreiundsiebzig Jahren. Damals haben sie die Behandlung abgebrochen. Das war keine kluge Entscheidung.“

Ich sehe auf die verblassten Narben an meinen Handgelenken. Nach dem ersten Mal fanden mich Freunde. Blutleer. Mehr tot als lebendig. Die Reanimation dauerte dreieinhalb Stunden.

Beim zweiten Mal wollte ich keinen Fehler machen. Das Seil schnürte mir die Kehle zu. Die Arterien am Hals schlossen sich. Ich fühlte einen tiefen Frieden. Tränen der Freude und Erleichterung liefen mir über die Wangen. Dann verlor ich das Bewusstsein. Mit aufgedunsenem Gesicht, violetten Lippen, aus Nase und Mund blutend, wurde ich in die Klinik gebracht. Ein zäher Kampf begann, den ich wieder verlor.

Der Obergenpos tippt in sein Tablet, während er spricht.

„In den nächsten Wochen injizieren wir Ihnen Enzyme und Mitochondrien-Gene. Wir stimulieren ihre Immunzellen, um die unerwünschte Ansammlung von Proteinen wegzuräumen und die vorhandenen Zellen zur Neuteilung anzuregen. Außerdem rate ich zu einer Therapie mit körpereigenen Stammzellen. Die werden wir genetisch verändern. Frau Lohmann, ich verspreche Ihnen: Sie werden sich wie neu geboren fühlen.“

Wie gelähmt liege ich auf dem Bett. Keiner hatte mich ernst genommen. Ich sei verrückt, haben sie gesagt. Diese Augen waren es, die sie verrieten. Diese starren, reglosen Augen. Anfangs waren es wenige. Sie trugen blaue Kontaktlinsen. Geschickt schlichen sie sich ein, waren flexibel und passten sich an. Sie funktionierten wie Roboter und übernahmen gezielt leitende Positionen. Bis heute weiß keiner, woher sie kamen. Ich vermute, von einem fernen Planeten, den sie vor unserem vernichtet haben. Für sie ist es ein Spiel.

Ein zweites Bett fährt, wie von Zauberhand gelenkt herein.

„Ich bin Carolin“, krächzt die Frau heiser und hebt einen Beinstumpf wie eine gewonnene Trophäe in die Höhe. Eine transplantierte Hülle hängt daran, wie ein schlaffer Ballon.

„Was ist denn passiert?“, frage ich.

„Mir ist so ein Oldie mit seinem selbstfahrenden Auto über mein Bein gefahren.“

Sie zeigt auf den Ballon. „Hier ist Wachstumsgranulat drin. In drei Wochen kann ich wieder laufen und springen. Warum bist du hier?“

„Zellerneuerung und Gefühlsumstellung“, antworte ich.

„Zellerneuerung. Hab ich letztes Jahr machen lassen. Ist eine tolle Sache. Gefühlsmäßig bin ich im Lot.“

„Fehlt dir nichts?“

„Nein, was soll mir fehlen?“

„Kinderlachen. Der Geschmack von Schokoladeneis auf der Zunge, die Schönheit und der Duft einer blühenden Rose …“

Carolin schüttelt den Kopf, zieht die Kopfhörer über die Ohren und schließt die Augen. Einer der Wärter kommt mit einem Tablett herein. „Abendessen.“

Er reicht mir ein gepresstes Nährstoffkonzentrat und zwei bunte, mit weißem Pulver gefüllte Kapseln. Alles löst sich augenblicklich im Mund. Mir ist, als würden meine Gefühle von einem trockenen Schwamm aufgesaugt. Ich atme tief ein und in meine Hand tropft eine letzte, kostbare Träne.
 



 
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