Verwobene Fäden

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philomena

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Verwobene Fäden

Er war nur der kleine Freund ihres einzigen Bruders.

Manchmal kam er mit zu ihr nach Hause, wenn die beiden sich getroffen hatten. Dann legte sie noch ein Gedeck mehr auf den Tisch und er aß mit ihnen, was sie gerade gekocht hatte. Es war meistens nicht viel, in diesem letzten Kriegsjahr gab es keine große Auswahl mehr, aber es war mehr, als er in seiner Familie mit den vielen jüngeren Geschwistern bekommen würde.
Dann saß sie mit ihnen am Tisch, lachte über ihre Späße, schüttelte den Kopf über die hochfliegenden Pläne, die ihre jugendlichen Köpfe ausbrüteten. Und sie freute sich darüber, dass ihm ihr bescheidenes Essen schmeckte.
Es rührte sie, wenn er zum Abschied ihre Hand nahm, sie fest drückte und hielt, als wolle er diese Hand nie mehr loslassen.

Zehn Jahre später wartete sie auf die Geburt ihres zweiten Kindes. Ihr erstes Mädchen hatte sie viele Jahre zuvor bei der Geburt verloren. Zwar waren seither die Zeiten anders geworden, besser, aber das Gefühl von damals war noch in ihr. Und tatsächlich gab es auch dieses Mal Komplikationen, die eine sofortige Operation erforderlich machten. Die Atmoshäre im Operationssaal, die Eile der Menschen um sie her ängstigten sie. Niemand kann ihre Erleichterung beschreiben, als sie plötzlich zwischen den Fremden ein bekanntes Gesicht erblickte. Der kleine Freund ihres Bruders war hier, hatte hier seine Aufgaben. Ihn konnte sie bitten aufzupassen, damit ihr nicht wieder ein Kind genommen wurde.
Das letzte, was sie fühlte, bevor sie in den tiefen Schlaf versank, war seine Hand, die die ihre nahm, sie fest drückte und hielt, als wolle er diese Hand nie mehr loslassen.

Jahre später war aus ihrem Kind eine erwachsene Frau geworden, die ebenfalls ihre berufliche Zukunft im Krankenhaus gesucht hatte. Sie hatte sogar unter dem kleinen Freund ihres Onkels gelernt. Der kleine Freund war nicht länger klein, sondern ein stattlicher Mann geworden, der sich langsam dem wohlverdienten Ruhestand näherte. Seine Frau hatte ihn verlassen, seine Kinder waren mit ihren Familien weit von ihm weggezogen, lediglich ein paar Freunde waren aus seinem bisherigen Leben geblieben. Und noch immer dachte er schmunzelnd daran, dass er es war, der sie als erster auf der Welt begrüßt hatte, dass es seine Hand war, die den Klaps gab, um ihren ersten Schrei in dieser Welt ertönen zu lassen. Und bei seinem Abschied vom Arbeitsleben sagte er ihr, dass er diesem ersten Klaps noch einige folgen lassen würde, wenn sie ihren Beruf nicht so ausüben würde, wie er es sie gelehrt hatte.
Dann nahm er ihre Hand, drückte sie fest und hielt sie, als wolle er ihre Hand nie mehr loslassen.

Es waren nur wenige Jahre vergangen, als sie nach einem längeren Urlaub für die Nachtwache ihre Station betrat. Ihre Kolleginnen teilten ihr mit, dass es wohl eine ruhige Nacht werden würde, es waren keine problematischen Fälle mehr auf Station. Nur ein Patient, zum Sterben ins Krankenhaus gebracht, würde wohl etwas mehr Aufmerksamkeit verlangen. Er sei nicht mehr bei Bewußtsein, aber sehr unruhig, quäle sich seit Wochen in seinem Sterben, könne nicht loslassen. Seine Kinder seien vor Tagen nur einmal kurz bei ihm gewesen, ansonsten sei er wohl alleine, daher solle sie ein besonderes Auge auf ihn haben. Sie erschrak, als sie den Namen sah und ein Blick auf ihn bestätigte ihre Befürchtungen. Es war der kleine Freund ihres Onkels, der mir ihm am Tisch ihrer Mutter gegessen hatte, als es kaum etwas zu essen gab, der Mann, der sie als erster auf dieser Welt begrüßt hatte, ihr Lehrer, der ihr soviel mit auf ihren Lebensweg gegeben hatte. Jetzt traf sie ihn wieder, gezeichnet von der schweren Krankheit und dem nahenden Tod.

Es war tatsächlich eine ruhige Nacht, deshalb setzte sie sich an sein Bett und nahm seine Hand. Sie saß still und beobachtete, wie er langsam ruhiger wurde, die Qual aus seinen Gesichtszügen wich. In der Stille der Nacht lauschte auf seinen schwächer werdenden Atem.
Sie nahm seine Hand, drückte sie fest und hielt sie, bis er endlich loslassen konnte.
 
A

Arthrys

Gast
hallo philomena,

schön, traurig schön. Wäre vielleicht eine gute Vorlage für einen Roman?
Korrektur:
"schmunzelnd"
LG
Arthrys
 

Haremsdame

Mitglied
Deine Geschichten sind gut: am Anfang frage ich mich, ob es sich lohnt, weiter zu lesen und dann kommt ein umwerfender Schluss.
 



 
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