Viertes Märchen: Wie der alte Großvater sein Erbe verteilte

VikSo

Mitglied
Viertes Märchen: Wie der alte Großvater sein Erbe verteilte

An diesem Nachmittag war Kai mit dem Anwalt seines Großvaters verabredet, der ihm das Testament eröffnen wollte. Der Anwalt des Großvaters war eigentlich nicht sein Anwalt. Das heißt, ein Anwalt war er schon. Allerdings hatte der Großvater ihn niemals engagiert und auch nie wirklich bezahlt. Der Großvater hatte das unnachahmliche Talent besessen, dass Menschen ihn so sehr mochten, dass sie nur selten daran dachten, ihm eine Rechnung zu stellen. Das bedeutet aber nicht, dass der Anwalt nicht für seine Leistungen entlohnt worden wäre. Im Gegenteil: Der gute Mann hatte zwei Kinder und fünf Enkel und wenn er ihre Gesichter betrachtete, nachdem sie den alten Mann besucht hatten, dann hatte er eher das Gefühl, ihm noch etwas schuldig geblieben zu sein.
Herr Schmitz – so hieß dieser ehrenwerte Mann – hatte sein Büro im Zentrum der kleinen Stadt, genau zwischen dem Supermarkt und der Apotheke, gegenüber dem mittlerweile geschlossenen Geschäft der Schneiderin Frau Puppe. Die Kanzlei erreichte man nur, indem man 33 Marmorstufen erklomm, die wie ein Korkenzieher in die dritte Etage hinauf führten. Die Sekretärin war eine Dame jenseits der 40, eine Tochter von Frau Puppe, die jedoch nach ihrer Hochzeit Pampel hieß. Die freundliche Frau begrüßte Kai sehr förmlich und führte ihn gleich zu ihrem Arbeitgeber.
Herr Schmitz reichte dem jungen Mann herzlich die Hand. Er kannte ihn, seit Kai als Kind seinen Großvater besucht hatte. Kai erinnerte sich kaum an den netten Herren, außer an den Geruch seiner Zigarre und an die Rauchwolken, von denen er stets umgeben war. Angesichts von Schmitz zutraulicher Familiarität fühlte er sich unbehaglich und wollte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.
„Von mir aus können wir gleich beginnen.“, schlug er darum dem Anwalt vor.
„Einen kleinen Moment noch.“, bat dieser aus. „Es sind noch drei Minuten Zeit und wir erwarten noch einen weiteren Gast.“
Das verwunderte den jungen Mann zwar. Doch da er es gewohnt war, zu warten, begnügte er sich damit, die Bilder zu betrachten, die die Wand des Büros schmückten. Da war die Imitation eines Picasso, ein Meer von Sonnenblumen vor einem dämmernden Himmel. Daneben eine Familie mit Kleidern wie vor hundert Jahren, Vater, Mutter, zwei Söhne, ein Mädchen im weißen Kleid, ein Baby auf dem Arm der Mutter und zwei Katzen zu ihren Füßen. Und daneben das Portrait einer jungen Dame im grünem Regelmantel, mit rotblonden Locken und einem unsicheren Ausdruck in den Augen. Aber Moment – Das Portrait hatte ja Arme und Beine und einen Rumpf noch dazu. Und jetzt lächelte es sogar.
„Ah, da ist ja unser letzter Gast. Kai, darf ich Ihnen vorstellen – Viola Baum, unsere eifrige Ärztin. Vielleicht erinnerst du dich an ihre Mutter?“ Vage stiegen in Kai Gedanken an Spritzen, Pflaster und den Geschmack von Tapferkeits-Gummibärchen auf. Einen Moment später gedachte er seiner guten Manieren und schüttelte dem Portrait, pardon: der jungen Frau die Hand. Ihr Händedruck war resolut und zauberte im gleichen Augenblick ein Lächeln auf ihr Gesicht.
„Sehr schön, sehr schön.“, strahlte der Anwalt. „Wenn ich nun bitten dürfte...“
Er nötigte seine Gäste in zwei sehr stilbewusste und unbequeme Besucherstühle. Dann nahm er selbst in seinem rückenfreundlichen Sessel Platz und griff nach einer Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Mit deutlicher Stimme begann er:
„Letzter Wille und Testament: Im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte... und so weiter... Es war einmal.“
„Bitte?“
Herr Schmitz räusperte sich. „Entschuldigung, mein Junge, aber das steht hier. Mh. Es war einmal ein kleiner Junge, der liebte seinen Großvater abgöttisch und der Großvater ihn. Der Junge bist du, Kai und der Großvater – nun, das ist ja wohl offensichtlich. Gerne würde ich dir jetzt ein Märchen erzählen, nur fürchte ich, du hast schon seit einigen Jahren die Geduld mit langen Geschichten verloren, zumal mit erfundenen. Darum mache ich es so kurz wie möglich.
Nun also mein letzter Wille: Ich vermache mein Haus und mein gesamtes Vermögen meinem Enkel Kai. Letzteres ist nicht von nennenswerter Größe, aber mein Haus will ich in guten Händen wissen und darum gebe ich es dir. Allerdings nur unter zwei Bedingungen. Bedingung Nummer 1: Kai erhält das Haus nur, wenn er selbst dort einzieht und mindestens ein Jahr lang dort wohnt, ohne es zu veräußern. Bedingung Nummer 2: Es gibt ein Gästezimmer im oberen Stock des Hauses. Kai kennt es, es ist seit Jahren ungenutzt. Meine zweite Bedingung an dich ist, mein Junge, dass du in diesem Zimmer meine Prinzessin Viola wohnen lässt.“
An dieser Stelle warf Kai einen ausgesprochen erstaunten Blick auf die junge Frau.
„Das bringt mich zum nächsten Punkt meines Testaments und das ist vielleicht der wichtigste: Neben meinem Haus und meinen sämtlichen Vermögenswerten vermache ich meinem Enkel außerdem meinen wertvollsten Besitz, nämlich mein Märchenbuch. Es steht immer noch an der gleichen Stelle, an der ich es immer aufbewahrt habe. Du kennst es, mein Junge. Mache Gebrauch davon! Das ist wichtig! Und solltest du Schwierigkeiten haben: Viola kann dir ganz sicher weiter helfen. So, und nun habe ich genug geschrieben. Das wichtigste ist gesagt. Lebe glücklich und zufrieden, Kai und zwar bis an dein Lebensende.“
Damit schloss der Anwalt. Sorgfältig klappte er die Akte wieder zu und strahlte die beiden jungen Leute an. „Soweit die Bestimmungen deines Großvaters. Sie sind völlig legal, so weit ich sehen kann. Nun muss ich dich offiziell fragen: Nehmen Sie die Erbschaft an?“ Das Offizielle merkte man daran, dass Herr Schmitz vom Du zum Sie wechselte. Kai wusste offiziell, dass das der größte Unsinn war, den er je gehört hatte. Natürlich musste er ablehnen. Und so sagte er laut und deutlich: „Ich nehme an.“

Zwei Stunden später klingelte es an der Tür von Großvaters Haus. Im Eingang stand die Frau mit den roten Haaren und dem resoluten Händedruck. Sie hielt eine Reisetasche in der Hand.
„Wenn ich Sie nicht störe?“
Natürlich stören Sie mich, erwiderte Kai in Gedanken. Gehen Sie nach Hause. Oder noch besser: Bleiben Sie hier und lassen Sie mich nach Hause gehen. Ich gehöre hier nicht her.
„Natürlich stören Sie nicht. Bitte kommen Sie herein. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“
Die rotblonden Locken schwebten über die Schwelle in die Küche hinüber, als kenne sie das Haus in- und auswendig. Für eine erwachsene Frau war sie außergewöhnlich klein. Ihre Tasche ließ sie unter dem Kleiderhaken im Flur stehen. Während Kai mit möglichst sparsamen Bewegungen Kaffee aufsetzte und nach zwei zueinander passenden Tassen suchte, packte die junge Frau ein Paket mit Schokostreuselkuchen aus. „Möchten Sie?“
Kai hasste Streuselkuchen. „Sehr gerne. Vielen Dank.“
Während der Kaffee dampfend durch die Maschine lief, mampfte er sein Stück, das, wie er zugeben musste, außergewöhnlich gut schmeckte. „Was halten Sie von diesem Testament?“
„Was denken Sie?“ Der Lockenkopf legte sich schräg.
„Nun, ich bin ein wenig...“ - entsetzt - „überrascht. Ich hätte nicht gedacht, dass er mir alles überlässt.“
„Sie sind sein einziger Enkel, so weit ich weiß.“
„Was soll ich mit einem Haus? Noch dazu in so einem verschlafenen Nest? Ich glaube kaum, dass hier viel physikalische Forschung betrieben wird.“
Der Lockenkopf lächelte, was Kai ein wenig durcheinander brachte. Glücklicherweise war in diesem Moment der Kaffee fertig und musste serviert werden.
„Was ich auch nicht verstehe“, erklärte er der Besteckschublade, „Was haben Sie mit dem ganzen zu tun? Ich meine, nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie gehören nicht gerade zur Familie. Warum will er, dass Sie hier wohnen?“
„Ich habe in den letzten zwei Jahren die Herzschwäche Ihres Großvaters behandelt. Wir sahen uns recht oft.“ Sie lächelte, woraufhin Kai sich dem Kühlschrank zuwandte, um die Milch zu suchen, die genau bereits auf dem Tisch stand. „Er nannte mich Prinzessin, seit meiner Kindheit. Mir hat das damals sehr gefallen.“
„Nun, das ist ja schön und gut. Wohnen Sie hier, so lange Sie wollen. Nehmen Sie von mir aus das ganze Haus. Aber was sind das für Schwierigkeiten, bei denen Sie mir helfen sollen? Warum ausgerechnet Sie? So weit ich weiß, geht es meinem Herzen ganz gut und ich fühle mich auch sonst recht gesund, außer dass ich vielleicht zu viel Kaffee trinke und zu unregelmäßig esse.“
Die kleine Frau sah ihn über den Rand ihrer Kaffeetasse prüfend an. Ihre Augen waren moosgrün, wie er beiläufig feststellte.
„Sie wissen es nicht, oder?“
„Was weiß ich nicht?“, runzelte er die Stirn. „Irgendwelche Erbkrankheiten, die man mir vorenthalten hat? Sollte ich mich besser mal durchchecken lassen?“
„Sie haben tatsächlich keine Ahnung.“ Dieser Fakt schien sie ausgesprochen zu erstaunen. „Hat er es Ihnen nicht erzählt?“
„Mir was erzählt?“ Langsam begann Kai, sich unbehaglich zu fühlen.
„Die Geschichten. Das Märchenbuch. Er hat Ihnen doch daraus vorgelesen?“
Dieser Punkt schien sie sehr zu echauffieren. Vorsichtig bestätigte Kai, dass er jedes einzelne der Märchen zigmal gehört hatte. Beruhigt lehnte sie sich zurück.
„Dann wissen Sie ja das wichtigste.“
So viel Informiertheit hätte Kai nun wohl erleichtern sollen. Allerdings: „Wovon sprechen Sie eigentlich? Mein Großvater hat sich Kindergeschichten ausgedacht, na und? Was hat das mit seinem Testament oder mit mir zu tun?“
„Ist das nicht offensichtlich?“ Die roten Locken wippten aufgeregt vor und zurück. „Sie sind sein Erbe. Er hat Sie zu seinem Erben ernannt. Er hat Ihnen alles wichtige anvertraut, das Märchenbuch ausdrücklich. Damit hat er Sie zu seinem Nachfolger erklärt. Sie sind der nächste.“
„Der nächste was?“
„Erzähler. Ihr Großvater war einer der Erzähler, ein Bindeglied zwischen den Menschen und den magischen Völkern. Sie haben sein Erbe angenommen. Damit sind Sie sein Nachfolger. Sie sind der nächste Erzähler. Ich gratuliere Ihnen.“
Es war einmal ein junger Mann namens Kai, der glaubte, eine Verrückte säße in seiner Küche...
 



 
Oben Unten