Vierzehntes Märchen: Von Thomas dem Träumer

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VikSo

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Vierzehntes Märchen: Von Thomas dem Träumer

Erst als er aufhörte zu sprechen merkte Kai, wie erschöpft er sich fühlte. Viola reichte ihm ein Glas Wasser, das er gierig herunter schüttete. Wie viel Zeit war vergangen, seit er mit seiner Erzählung begonnen hatte? Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er mindestens eine halbe Stunde lang ununterbrochen geredet hatte. Viola saß auf dem Boden, die Knie angezogen und kaute angespannt auf ihrer Unterlippe. Maria dagegen betrachtete ihn aufmerksam, als studierte sie jede Regung seines Gesichts. Schließlich war sie es, die das Schweigen brach, indem sie erklärte: „Nun, es macht Sinn.“
Ganz so würde ich das jetzt nicht ausdrücken., dachte sich Kai. Laut sagte er: „Es passt zu deiner Geschichte mit dem Wasser. Das Wasser, das versucht hat, dich zu erwürgen.“
„Es fragt sich bloß, was dieser Kelpie in unserem örtlichen Wassernetz zu suchen hat.“, überlegte Viola.
„Jetzt wartet mal.“ Kai versuchte, halbwegs einen klaren Verstand zu behalten. „Es ist nur eine Geschichte.“
„Die du dir gerade in aller Ausführlichkeit aus den Fingern gesogen hast? Wenn ich mich richtig erinnere, bist du einer der phantasielosesten Menschen, die du kennst. Nein, diese Geschichte ist über dich gekommen, als du sie gesucht hast. Sie ist die Antwort auf eine Frage, die du gestellt hast.“
Verbissen starrte Kai auf das leere Glas in seiner Hand. „Möglicherweise habe ich die Geschichte ja irgendwann gelesen und sie ist mir nur jetzt eingefallen, weil sie so gut zu Marias – Problem – passt.“
„Glaubst du das wirklich?“
Es ist die einzig vernünftige Erklärung., dachte Kai verzweifelt.
„Was hat schon Vernunft damit zu tun?“
Erstaunt sah Kai Maria an, von der diese Äußerung gekommen war. Hatte sie... Nein. Ausgeschlossen. Oder?
„Ich denke“, meinte Maria, „wir sollten uns mit den Zwergen in Verbindung setzen.“
Viola sah sie fragend an. Maria zuckte die Schultern. „Ist das nicht offensichtlich? Der alte Mann aus Kais Erzählung wollte doch offensichtlich dem Städter helfen. Er hat nicht versucht, ihn ins Wasser zu ziehen – das hat der Dummkopf selbst geschafft. Damit war der Zwerg ein Hindernis für den Kelpie. Deswegen hat das Mädchen ihn ermordet. Und wie hat Kai den Alten beschrieben?“
„Ein langer Bart.“, murmelte Viola. „Einfache Kleidung. Und klein. Ein Männlein.“ Sie nickte, wie zu sich selbst. „Ja, das könnte sein.“
„Na prima.“, warf Kai ironisch ein. „Dann müssen wir ja nur zum nächsten Bergwerk marschieren und Hi-Ho rufen. Problem gelöst.“
„Sei bitte nicht albern.“, entgegnete Viola tadelnd. Kai hob schon hoffnungsvoll den Kopf. Da fuhr sie fort: „Maria, bist du fit genug, uns zu begleiten?“
„Begleiten wohin?“, fragte Kai verwirrt.
„Natürlich.“, erklärte Maria. Ohne ihn zu beachten, sprangen die beiden jungen Frauen auf und rannten in die Diele. Hier packte sich Viola ihren Mantel und warf Maria eine Art Poncho zu, denn diese war ohne Jacke gekommen. Mit dem Gefühl, ein ausgemachter Idiot zu sein, hetzte Kai den beiden nach und konnte gerade noch rechtzeitig in die Schuhe schlüpfen. Zubinden konnte er sie nicht mehr, denn schon waren die beiden zur Tür hinaus und auf dem Weg zur Garage. Zu Zeiten seines Großvaters war diese hauptsächlich als Abstellkammer benutzt worden. Jetzt hatte sich Viola darin Platz für ihren Mini geschaffen. Als Kai die Frauen eingeholt hatte, hatte sie den Wagen bereits gestartet und Maria den Beifahrersitz vorgeschoben, sodass Kai auf die Rückbank klettern konnte. Kaum dass er sich angeschnallt hatte, trat Viola auch schon das Gaspedal durch und zischte aus der Ausfahrt, während Maria mit einer Fernbedienung das Garagentor schloss.
„Möchte irgendjemand mir vielleicht erklären, wohin wir eigentlich unterwegs sind?“, fragte Kai missmutig, während er versuchte, seinen Fuß hoch genug zu heben, dass er den offenen Schnürsenkel binden konnte.
„Zu Herrn Georgi natürlich.“, antworteten Maria und Viola wie aus einem Mund. Kai blickte verständnislos von einer zur anderen, entschied sich aber schließlich, nicht nachzufragen. In wenigen Minuten würde er diesen Herrn Georgi ja kennen lernen und dann würde sich alles aufklären. Hoffentlich.
Tatsächlich hielt das Auto bereits nach kurzer Zeit vor einem Bungalow in einer Eigenheimsiedlung. Das Haus wirkte gepflegt. Im Vorgarten stand sogar ein Gartenzwerg, der ihnen freundlich zuwinkte. Alles sah ausgesprochen unauffällig aus. Das kam Kai verdächtig vor. Darum hatte er auch ein mulmiges Gefühl, als er nun ausstieg und hinter den beiden Damen über das niedrige Gartentor stieg. Als Viola die Hand zur Klingel hob, wollte er sie schon abhalten. Doch bevor er ein Wort sagen konnte, schallte ein Gong durch das ganze Haus. Dann – Stille. Nichts wies darauf hin, dass jemand auf ihr Klingeln reagierte oder dass überhaupt jemand im Haus war, der reagieren konnte. Erleichtert wollte Kai vorschlagen, umzukehren. Da erschien ein Licht hinter der Glasscheibe der Eingangstür. Schwere Schritte näherten sich. Schlüssel klirrten. Dann öffnete sich mit einem leisen Kratzen die Tür.
Das ist ein Scherz!, wollte Kai rufen. Im letzten Moment hielt er sich zurück. Statt dessen starrte er den Hausherrn an. Oder vielmehr auf ihn herab. Denn Herr Georgi reichte ihm gerade einmal bis zur Hüfte. Selbst Viola, die wahrhaftig nicht groß gewachsen war, musste sich herab beugen, um ihm die Hand zu reichen.
Ein Kleinwüchsiger, dachte Kai und musste innerlich kichern. Der Mann, den sie für einen Zwerg halten, ist kleinwüchsig. Das wird ja immer besser.
Der Winzling schaute seine Gäste grimmig unter buschigen schwarzen Brauen heraus an. Bei Kai blieb sein Auge haften.
„Wer ist der Milchbart?“, brummte er.
„Ein Freund.“, beschwichtigte ihn Viola. „Du kannst ihm vertrauen. Dürfen wir eintreten?“
„Wenn es sein muss.“ Sichtlich wenig begeistert wandte der Zwerg sich um und überließ es seinen Gästen, ihm zu folgen und die Tür zu schließen.
„Nun“, fragte er fordernd, als sie schließlich auf ein Sofa gepfercht dasaßen. „Was bringt euch dazu, mich mitten in der Nacht aus meinem Schlafzimmer herauf zu holen.“
Kai wunderte sich kurz über den Ausdruck „herauf“, verdrängte das aber wieder, als Maria begann, von Neuem ihre Geschichte zu erzählen.
„Mh.“, machte der kleine Mann. „Und was führt euch damit zu mir?“
„Wir glauben“, sprang Viola ein, „dass es sich bei dem Angreifer um ein Kelpie handelt.“ Lauernd ließ sie ihren Blick auf dem kleinen Mann ruhen.
Diesem entglitt zum ersten Mal an diesem Abend seine mürrische Mine. Mit anerkennendem Staunen fixierte er die beiden Frauen. „Ein Kelpie? Wie kommt ihr darauf?“ Seine Stimme klang zunehmend misstrauisch. Zur Antwort blickten Viola und Maria gleichzeitig zu Kai.
Durch die plötzliche Aufmerksamkeit unangenehm berührt, räusperte sich dieser. „Nun ja.“, begann er. „Es scheint so, dass mir gelegentlich gewisse Informationen...zufließen, ohne dass ich es kontrollieren kann. Genau genommen kommen sie in Form von Geschichten. Manchmal in Träumen, manchmal auch einfach so.“
„Oh. Ohhhhhhh!!!“ Die Augen des Zwerges quollen beinahe aus ihren Höhlen. Dann wandte er sich an Viola. „Ich gratuliere dir, Banríon. Du hast einen neuen Erzähler gefunden.“
Jetzt fängt der auch noch so an!, stöhnte Kai innerlich, während ein stummes Lächeln über Violas Gesicht glitt.
„Nun“, fuhr der Zwerg fort, „das ist auf jeden Fall erfreulich. Und er hat recht. Nach allem, was die Hexe berichtet, handelt es sich um ein Kelpie. Und damit seid ihr bei mir an der richtigen Adresse.“ Stolz richtete er sich auf seinem Sessel auf, bis er vor lauter Würde fast doppelt so groß wirkte. „Wir Zwerge waren die ersten, die jemals ein Kelpie entdeckt haben. Das ist natürlich viele tausend Jahre her und geschah weit entfernt von hier in der afrikanischen Wüste. Meine Vorfahren lebten dort in Tunneln, die sie sich zum Schutz vor der mörderischen Hitze in die Dünen gegraben haben. Da sie sich vor allem unter der Erde bewegten, stießen sie häufiger als die Menschen darüber auf Wasserquellen. Grundwasser, das in unterirdischen Armen verlief. Eines Tages begegnete eine Gruppe von Arbeitern an einer solchen Quelle einem Pferd. Das allein war schon merkwürdig genug, so fern von jedem Sonnenlicht. Und nebenbei bemerkt von jedem Graswuchs. Noch seltsamer war, dass das Tier gerade erst ein gründliches Bad genommen zu haben schien, so triefte sein Fell von Wasser. Meine Vorfahren wurden neugierig und da sie wagemutige Männer waren, gingen sie sofort an das Pferd heran. Es ließ sich ohne weiteres streicheln und nach einer Weile durfte sogar einer von ihnen auf seinen Rücken steigen. Ihr könnt euch den Fortgang der Geschichte vorstellen. Es hätte nicht viel gefehlt und die Gruppe hätte ein Todesopfer zu beklagen gehabt. Nur mit viel Kraft und wohl einigem an Glück gelang es den Männern, dem Monster sein Opfer zu entreißen. Der Dämon verschwand daraufhin in den Fluten des unterirdischen Flusses. Aber in den kommenden Tagen und Wochen folgten immer mehr Berichte – auch von weiter entfernten Zwergenvölkern – das solche seltsamen Pferde gesichtet worden seien, mal allein, mal in einer Herde. Mit der Zeit versuchten einige der tapfersten Zwerge – naja, vielleicht waren auch Vertreter der anderen Völker dabei – dem Biest beizukommen. Ein paar schafften es sogar, auf den Rücken des Pferdes zu springen und konnten sich einige Minuten dort halten. Dafür waren ihre Wunden umso gefährlicher, wenn sie endlich in hohem Bogen abgeworfen wurden.“
„Aber es gibt eine Möglichkeit, sie zu zähmen.“, fiel ihm Viola ins Wort. „In Kais Erzählung wirft der Städter dem Kelpie das Halfter über. Danach tut der Wassergeist, was er von ihm verlangt.“
„Ja.“ Der Geist räusperte sich und seine Wangen röteten sich ein wenig mehr. „Auf diesen Trick sind meine Vorfahren nach etwa 150 Jahren Testphase gestoßen; mehr oder weniger zufällig. Es geschah im Bergland der Corbières. Der Held dieses Märchens ist Thomas der Träumer.
„Wieso Träumer?“, platzte Kai heraus.
Herr Georgi bedachte ihn mit einem unerfreulich unerfreuten Blick. „Thomas der Träumer war ein Erfinder. Baute ständig irgendwelche...nützlichen...Dinge. Laufende Nussknacker, die auf Zuruf Nüsse knackten. Bücher, die sich nach einem Kapitel automatisch schließen, damit man nachts nicht so lange liest. Solche Sachen. Die meisten davon gingen ziemlich schnell kaputt und wenn sie hielten, dann wollte sie keiner haben. Trotzdem träumte Thomas ständig davon, dass ihm mit einer dieser Erfindungen der Durchbruch gelingen und er weltweit berühmt würde.“ Bei diesem Bericht wurde die Stimme des Zwerges zunehmend leiser und murmelnder. „Irgendwann kam er auf die Idee, eine Reise um die Welt zu unternehmen. Das war damals noch ziemlich ungewöhnlich, aber von den meisten seines Volkes wurde es nur als eine weitere seiner Verrücktheiten angesehen. So machte sich keiner weiter Sorgen, als er sich eines Tages mit seinem fünfrädrigen Fahrrad auf den Weg machte. Ehrlich gesagt kümmerte es auch niemand weiter, ob er wiederkehren würde oder nicht, denn bis dahin hatte er sich nicht als besonders nützliches Mitglied der Gemeinschaft erwiesen. Die meisten gingen wohl sogar davon aus, dass er mit seiner etwas weltfremden und trotteligen Art früher oder später in der Welt verloren gehen würde. So überraschte es alle, als er fast auf den Tag genau fünf Jahre nach seinem Aufbruch wieder vor der Tür stand; die Kleidung etwas lädiert und mit einem eingegipsten Bein, aber ansonsten gesund und frohgemut. Und mit drei Überseekoffern voller Mitbringsel im Gepäck – Erfindungen, die er im Laufe seiner Reise entworfen oder von anderen Träumern gekauft hatte. Darunter befand sich auch etwas, das auf den ersten Blick wie eine lange, weiße Angelschnur wirkte. In Wirklichkeit hatte er in der weiten Welt etwas kennen gelernt, das sich erst Jahrzehnte später in der Zwergengesellschaft durchsetzte: Die Zahnseide.“
Hier machte Georgi eine kunstvolle Pause, um erwartungsvoll in die Runde zu blicken.
„Und – was genau...“, fragte Kai, unsicher, ob es sich hier wieder um einen Insider-Witz im Kreise der magischen Völker handelte, „Was genau hat Zahnseide mit unserer Geschichte zu tun?“
„Nun“, meinte der Zwerg, auf seinem Sessel hin und her rutschend, „Es handelte sich hierbei nicht um gewöhnliche Zahnseide. Was Thomas der Träumer entwickelt hatte, war eine unzerreißbare Spezialseide, die nicht kaputt geht, während man sie durch eine Zahnlücke zieht.“
Kai starrte ihn ungläubig an. „Aber muss man nicht die gebrauchte Zahnseide von der Spule abreißen? Wie hat er das angestellt?“
„Das war genau das Problem.“, war die Antwort. „Deswegen wollte auch niemand etwas davon haben. Wer trägt schon Zahnseide mit sich herum, an der die Essensreste der letzten zwei Wochen kleben? Das hielt Thomas aber nicht davon ab, selbst immer eine Rolle in der Westentasche zu haben. Und das war, wie sich herausstellen sollte, unser aller Vorteil.“
„Wie das?“
„Eines schönen Tages flanierte Thomas untätig durch die Gänge seines Heimatstollens, als er auf eine Gruppe müßig herumstehender Arbeiter stieß. Da dies unter Tage ein ungewöhnlicher Anblick war, ging er auf die Gruppe zu, um zu sehen, was geschehen sei. Da erblickte er ein Kelpie. Die Männer um ihn herum waren wie erstarrt, denn sie wussten nicht, was sie tun sollten. Wegrennen? Das ging nicht, denn der Geist versperrte ihnen den Weg zu einer wichtigen Höhle. Auf einem Kampf mit dem Monstrum wollte sich aber auch keiner einlassen. Bis auf einmal Thomas erklärte, er wolle dem Vieh Manieren beibringen.
Nun konnte zwar keiner dem Träumer gut leiden. Sie wollten aber auch nicht an seinem Tode schuldig sein, wenn sie es verhindern konnten und so versuchten sie mit Engelszungen, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten. Umsonst – ohne sich weiter Gedanken zu machen schritt der Spinner auf das Pferd zu. Mit der Zahnseide in der Hand.“
„Wieso mit der Zahnseide?“, rief Kai erstaunt aus.
„Er war halt nicht ganz richtig im Kopf.“, meinte Georgi entschuldigend. „Er war der Meinung, Erziehung beginne mit einer guten Kinderstube. Und die begann für ihn mit Reinlichkeit. Sauber musste der Gaul ja sein, so wie er vor Wasser triefte. Also war als nächstes das Maul dran. Er schaffte es auch wirklich, bis auf wenige Zentimeter an das Tier heran zu treten und mit einer einzigen flinken Bewegung ihm die Zahnseide zwischen die Zähne zu rammen. Ich persönlich glaube ja, dass ihm das nur gelang, weil selbst ein Flussgeist nicht mit soviel Wahnsinn rechnete. Wie auch immer: Der Seidenfaden steckte im Gebiss des Pferdes und zwar auf beiden Seiten. Das gefiel dem Tier natürlich gar nicht. Es begann, sich aufzubäumen und den Kopf hin und her zu werfen. Thomas dachte jedoch gar nicht daran, seine kostbare Zahnseide loszulassen. So wurde zusammen mit der Schnur auch der Zwerg hin und her geworfen. Nach allen Berichten, die ich darüber gelesen habe, war es ein ziemlich langer Rodeoritt und ein oder zwei mal kollidierte der arme Kerl mit der Felswand der Höhle. Egal, wie heftig sich das Pferd wehrte – die reißfeste Zahnseide hielt, was ihr Name versprach. Schließlich aber hatte er beide Enden der Zahnseide fest genug in der Hand, um daran zu ziehen. Und das tat er, kräftig, wenn auch eher in Panik als mit einer festen Absicht. Aber – oh Wunder – im gleichen Moment, in dem er zog, hielt der Kelpie inne. Die Arbeiter, die die Szene beobachtet hatten, schauten wohl kaum überraschter drein als Thomas selbst. Glücklicherweise war unter ihnen auch ein Stallmeister, der das Geschehene durchschaute: Das Pferd betrachtete die reißfeste Zahnseide als Zügel. Und es gehorchte demjenigen, der sie ihm angelegt hatte. Thomas, der in seinem Leben noch nie auf einem Gaul gesessen hatte, wusste gar nicht, was er mit diesem unverhofften Glücksfall anfangen sollte. Nachdem er das Pferd eine Weile lang hatte hin und her tänzeln lassen, kam ihm eine grandiose Idee; zumindest hielt er selbst sie für grandios. Vor Jahren schon hatte er eine Maschine gebaut. Eine Art riesiges Hamsterrad, in dem man laufen musste, um damit einen Arm zu betreiben, der wiederum einen Bogen hielt, der über eine Violine strich. Er nannte es einen automatischen Musikapparat. Bis jetzt hatte sich zu seinem Bedauern allerdings niemand bereit gefunden, lange genug in dem Hamsterrad zu laufen, um ein vollständiges Lied zu spielen. Nun, einen Freiwilligen hatte er jetzt. Triumphierend ritt er zu dem Holzapparat hin. Der Gaul betrat auch ganz brav das Rad und begann zu treten. Das war wohl der erfolgreichste Augenblick, die er je genießen durfte. Drei Stunden lang trabte das Geisterpferd dahin und ließ einen Gassenhauer nach dem anderen auf der Geige erklingen, begleitet vom Applaus und dem johlenden Tanz der Zwergenmeute. Mit der Zeit aber ermüdete Thomas und so entschloss er sich, dass das Tier ja wohl eine Weile allein weiter laufen konnte. So stieg er ab und ließ das Halfter los.“
„Und was geschah?“, fragte Viola.
„Ich hab da so eine Idee.“ Kai konnte sich ein Grinsen nicht verdrücken. „Kaum dass der Tölpel losgelassen hatte, spürte der Kelpie den Freiheitsdrang in sich aufflammen und galoppierte auf Nimmerwiedersehen davon. Stimmt's?“
„Haargenau.“ Georgienickte. „Es rannte dabei nicht nur Thomas über den Haufen, der dem Vieh unbesorgt den Rücken zugewandt hatte, sondern riss auch den automatischen Musikapparat um, der daraufhin in tausend Teile zerschmettert wurde. Danach wurde er zumindest in dieser Zwergenkolonie nicht mehr gesehen. Dafür hatten die Zwerge nun endlich ein Mittel gefunden, den Geist zu bändigen. Thomas erhielt trotzdem keine Anerkennung. Im Gegenteil: Bis zum Ende seines hochbetagten Lebens musste er sich wieder und wieder die Geschichte seines kurzen Abenteuers an den abendlichen Lagerfeuern anhören. Es soll ihn aber nicht weiter gestört haben. Nach allem, was man hört, verbrachte er unbeeindruckt weiter seine Zeit damit, mehr oder weniger brauchbare Gegenstände zu entwerfen. Und so lebte er glücklich und zufrieden bis ans Ende seines Lebens – Herr Grimm, kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Kai war schon eine Weile lang unruhig hin und her gerutscht. Auf Herrn Georgis gereizte Anrede färbten sich seine Wangen purpurrot. Verlegen räusperte er sich: „Ihre Erzählung war zweifellos interessant und lehrreich.“, versuchte er den beleidigten Zwerg zu beschwichtigen. „Ich frage mich nur – wie hilft sie uns weiter? Wie verhindern wir, dass er weiterhin Menschen angreift?“
„Ich glaube nicht“, fiel Viola nachdenklich ein, „dass er jemand anderen als Maria angreift“
Kai sah sie erstaunt an. „Was meinst du? So wie ich es verstanden habe, sucht dieser Kelpie einfach Opfer. Und dabei ist er eben zufällig hierher geraten.“
„Mein lieber Kai“, hauchte Maria, „In der Welt der Magischen gibt es viele Dinge, aber eines sicherlich nicht: den Zufall.“
Viola stimmte zu. „Du hast selbst gesagt, der Kelpie braucht irgendein Opfer. Er befindet sich in einer Stadt mit ein paar tausend Einwohnern. Und da verirrt er sich ausgerechnet in das Wasserrohr einer Hexe?“
„Er hat also absichtlich Maria angegriffen? Welchen Nutzen hat er davon?“
„Besser: Wer hat einen Nutzen davon?“, warf Georgi ein. „Der Kelpie ist ein Tier. Ein listiges Tier, aber nichts desto trotz von seinen Instinkten geleitet. Er geht planvoll vor, aber immer nur soweit, wie es ihm zu seinem nächsten Opfer verhilft. Langfristige Strategien sind ihm fremd. Wenn wir davon ausgehen, dass er absichtlich in das Haus der Hexe gekommen ist...“
„...dann hat ihn jemand geschickt.“
Und wer?, wollte Kai rufen.
In diesem Moment geschah etwas seltsames. Dass er es seltsam fand, erschien Kai später erstaunlich, angesichts dessen, was er in den letzten paar Tagen gehört und zum Teil gesehen hatte. Wie dem auch sei: In diesem Moment klopfte es an der Tür. Viola sah auf. „Erwarten Sie noch Gäste?“
„Nicht um zwei Uhr morgens.“ Langsam erhob der Zwerg sich und tippelte entschlossen aus dem Raum. Auf dem Weg griff er scheinbar zufällig nach einem hölzernen Gehstock. Ein paar Sekunden später hörten die drei die Haustür quietschen. Dann rief Georgi: „Viola, ich glaube, es ist für sie.“ Die Tür schloss sich. Leise Schritte kamen näherten.
Der muss ja noch kleiner sein als Georgi, schoss es Kai durch den Kopf, und bedeutend leichter, nach dem Klang der Schritte zu urteilen. Er wunderte sich noch darüber, wer der Neuankömmling sein könnte, da schaute der schon um die Ecke – und bellte.
 



 
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