Vittorios Tochter

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valcanale

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Vittorios Tochter

Vittorio lebt mit acht Katzen in einem kleinen Bergdorf in den Schweizer Alpen zu dem es keine Straße gibt. Eine winzige Seilbahn führt vom Tal hinauf zu den wenigen alten Steinhäusern und der kleinen Kirche mit dem Friedhof. Am Friedhof liegt seine große Liebe Anna begraben. Anna, nach der er so lange gesucht hat.

Ich bin an diesem schönen warmen Maitag mit dem Zug in das entlegene Tal gekommen und fahre nun mit einigen anderen Touristen mit der kleinen Seilbahn, die eigentlich nur für die Dorfbewohner errichtet wurde, den Berg hinauf.
Es passen nicht viele Personen in die kleine Kabine, sie stehen dicht gedrängt, ich finde zum Glück einen Platz an der Kabinenwand und genieße den Ausblick auf die umliegenden Berge. Die Fahrt dauert nicht sehr lange, dann entlässt die Bahn ihre Fahrgäste auf das kleine Bergplateau. Die Touristen verteilen sich zwischen den Häusern und der Kirche, bewundern die Aussicht und stoßen entzückte Rufe angesichts des Panoramas aus, das ihnen hier geboten wird. Da es aber nicht einmal ein Gasthaus gibt, streben sie bald wieder der Bergstation zu, um mit der nächsten Bahn wieder ins Tal zu fahren. Dann wird es wieder still zwischen den Häusern, das Dorf wirkt verlassen, von den Bewohnern ist nichts zu sehen.

Ich nehme meine Kamera und gehe auf Entdeckungsreise. Stille Winkel, verwitterte Zäune, Mauerritzen, in denen sich kleine Eidechsen sonnen, ein uralter Rebenstock, der sich an einer alten Holztüre hochrankt. Ein rostiger Kübel kopfüber auf einem Stock präsentiert sich wie eine kunstvolle Skulptur.
Die Häuser, aus den für die Gegend typischen Granitsteinen gebaut und mit Steinschindeln gedeckt, sind meist mit Glyzinien oder wildem Wein bewachsen, haben kleine trutzige Fenster und dicke Mauern. Vor einem etwas abseits gelegenen Haus steht ein alter Mann, er winkt mir, ich winke zurück, aber dann sehe ich, dass er nicht nur winkt, sondern mir deutet, ich solle näher kommen.
„Grüezi!“ sag ich, als ich ihn erreicht habe, er lacht mich an und zuckt nur wortlos mit den Schultern, mir fällt ein, wir sind ja im Tessin, hier spricht man italienisch, aber auch meinen italienischen Gruß erwidert er nicht, legt nur die Hand auf seinen Mund.
Da begreife ich, er ist stumm und kann sich nicht über das Sprechen mit mir verständigen. Er deutet mit einer einladenden Geste mehrmals zu seiner Eingangstür, ich zögere, es ist mir nicht ganz geheuer, vielleicht ist er verrückt oder will mir was antun? Aber für einen Vergewaltiger scheint er mir ein wenig zu alt und und auch als als mörderischen Psychopathen kann ich ihn mir nur schwer vorstellen. Dafür wirkt er doch zu seriös, auch wenn er mir etwas seltsam erscheint. Wahrscheinlich will er nur gastfreundlich sein. Oder fühlt sich vielleicht einsam.

Als ich ihm in den Wohnraum folge, ist das erste, was mir auffällt, ein strenger Geruch nach Urin, dann sehe ich die Katzen, ich zähle acht, sie sehen mir aufmerksam entgegen. Der Mann bedeutet mir, ich solle mich setzen, scheucht eine der Katzen vom Sofa, damit ich Platz habe. Dann geht er zur Kochnische und hebt mit fragender Miene eine kleine silberne Espressokanne in meine Richtung, „Ja, gerne“ sage ich, „si, per favore!“ Da ich nicht sicher bin, ob er vielleicht taubstumm ist, deute ich auf meine Ohren und auf ihn, da lächelt er und zeigt auf ein kleines Radio, also kann er hören.

Der Kaffee schmeckt scheußlich, aber ich möchte nicht unhöflich sein und nippe an meiner Tasse. Der Mann holt Bleistift und Papier, schreibt auf einen Zettel „Vittorio“ und deutet auf sich. Ich bin Andrea, sage ich. „Perché sei venuta qui?“ Warum sind Sie hierhergekommen? schreibt er. Mit meinen begrenzten italienischen Sprachkenntnissen und erklärenden Gesten versuche ich ihm zu vermitteln, warum ich reise. Erzähle von meiner Freude am Fotografieren, am Entdecken, am Erkunden von Wegen abseits der überlaufenen Routen.
Er schaut mich aufmerksam an, mustert mich fast eindringlich, dann nimmt er ein gerahmtes Bild mit der alten Fotografie eines jungen Mädchens von der Kommode und hält es mir hin. Er zeigt immer wieder auf das Bild und deutet auf mich, ich verstehe nicht, was er will. Dann schreibt er mit zittrigen Fingern „È tua madre?“ auf den Zettel. Ist das Ihre Mutter? Nun halte ich ihn doch für verrückt. Oder zumindest für altersverwirrt. Ich schüttle den Kopf und stehe auf. Sage, dass ich jetzt wieder weitergehen möchte, deute auf meine Armbanduhr und verabschiede mich. Plötzlich wirkt er müde und enttäuscht. Er begleitet mich noch bis zur Türe, streckt mir seine Hand zum Abschied entgegen und sieht mich nur traurig an.

Draußen in der frischen Luft atme ich einmal tief durch, versuche den unangenehmen Geruch des Zimmers und den für mich etwas unheimlichen Beigeschmack dieser seltsamen Begegnung abzuschütteln. Noch ist etwas Zeit, bis die nächste Bahn wieder talwärts fährt, daher sehe ich mir noch die kleine Kirche mit dem angeschlossenen Friedhof an. Ich lese gerne die Grabinschriften, sie erzählen oft Geschichten und lassen mich an fremden Schicksalen teilhaben. Es gibt Orte, da erreichen die Bewohner ein auffallend hohes Alter, in manchen Regionen sterben sie jung, werden Opfer von Unfällen, besonders in den Bergen.

Ein Grab erregt meine Aufmerksamkeit, ein schlichtes Holzkreuz trägt das Bild einer jungen Frau, die mir irgendwie bekannt vorkommt, und den Namen Anna Rivelli. Zuerst ist mir das unerklärlich, auch der Name sagt mir nichts, aber dann erinnere ich mich plötzlich an die Fotografie, die mir Vittorio gezeigt hat. Es ist die gleiche Frau auf dem Bild.

„Sie waren vorhin zu Besuch bei Vittorio?“ sagt eine männliche Stimme hinter mir. Ein junger Pfarrer tritt an meine Seite „Schön, dass Sie ihm ein wenig Gesellschaft geleistet haben, er ist recht einsam hier!“ In so einem kleinen Ort scheint nichts verborgen zu bleiben.
Dann erzählt er mir die Geschichte von Vittorio und Anna, die ihm wiederum von seinem Vorgänger, dem alten Pfarrer, übermittelt worden war:

Vittorio stammt aus Süditalien und arbeitete als junger Mann Anfang der Sechziger Jahre als Hausarbeiter im berühmten Grand Hotel in Locarno. Dort lernt er Anna kennen, die ebenfalls im Hotel arbeitet. Sie verlieben sich ineinander, doch dann muss Vittorio zurück nach Italien weil sein Vater schwer erkrankt ist. In der letzten Nacht vor seiner Abreise gibt Anna sich ihm hin.
Er verspricht ihr, so bald es geht, zurückzukommen, doch sein Vater stirbt, Vittorio muss die kleine Landwirtschaft und die Mutter versorgen. Er schreibt ihr, aber seine Briefe kommen wieder retour, schließlich teilt man ihm mit, dass Anna nicht mehr im Hotel arbeitet. Eine neue Adresse kann man ihm nicht geben.
Als Vittorios Mutter stirbt, verkauft er den Hof und fährt Jahre später wieder in die Schweiz, um sich erneut auf die Suche nach Anna zu machen. Er macht den alten Hotelportier ausfindig, der nun schon im Ruhestand ist, und dieser erinnert sich noch an das hübsche Zimmermädchen. Er erzählt, dass Anna damals gekündigt wurde, weil sie schwanger war. Aber er weiß auch nicht, wohin sie gegangen ist. Vittorio ist zutiefst erschüttert, es muss sein Kind sein, das Anna damals erwartet hat. Unermüdlich sucht er weiter, er muss Anna und sein Kind finden.
Schließlich trifft er eine Frau, die früher gemeinsam mit Anna im Hotel gearbeitet und auch später noch Kontakt zu ihr hatte. Sie erzählt ihm, dass Anna ihr Kind – ein Mädchen – zu Pflegeeltern geben musste, weil es ihr nicht möglich war, es allein großzuziehen. Irgendwann habe sie Anna dann aus den Augen verloren. Jemand hätte gemeint, sie sei in ihr kleines Heimatdorf hoch über einem Tessiner Tal zurückgekehrt, aber Genaueres wüsste sie auch nicht.

Vittorios hartnäckige Suche wird schließlich belohnt. Nachdem er fast alle in Frage kommenden Orte erfolglos nach ihr abgesucht hat, findet er einen Hinweis mit dem Namen ihrer Herkunftsfamilie in diesem kleinen Dorf, in dem ich mich jetzt befinde.
Als er dort ankommt und sich nach ihr erkundigt, führt man ihn zu ihrem Grab. Anna ist ein Jahr zuvor verstorben. Er fragt nach ihrem Kind, aber Anna lebte hier alleine, von einer Tochter ist niemandem etwas bekannt, auch gibt es keine anderen Familienangehörigen mehr von ihr.
Als Vittorio, der sich so knapp am Ziel seiner Suche glaubte, die bittere Wahrheit begreift, versagt ihm die Sprache, seit diesem Tag ist er stumm. Er bezieht eines der verlassenen Häuser im Dorf, vielleicht in der Hoffnung, seine Tochter könnte ähnlich wie er nach Anna, nach ihrer Mutter, suchen und ihren Vater hier eines Tages finden.
Geduldig wartet er seither Tag für Tag auf die Ankunft der Bahn und beobachtet die Leute, die aussteigen. Ist eine Frau im Alter seiner Tochter dabei, sucht er den Kontakt. Immer mit der Sehnsucht, sein Warten könnte von Erfolg gekrönt sein. Das hält ihn noch am Leben, sagt der Pfarrer.
Ich muss mich verabschieden, weil die Bahn ins Tal in wenigen Minuten abfährt. Am Weg dorthin lassen mich meine Gedanken über das Schicksal, dass manchen Menschen widerfährt, nicht los. Wie unerschütterlich und groß doch die Liebe und die Sehnsucht zwischen zwei Menschen sein kann, auch über den Tod hinaus.

Als ich in die Bahn einsteige, sehe ich Vittorio vor seinem Haus stehen. Er wirkt nicht mehr so alt und gebeugt, wie vorhin als ich ihn verlassen habe. Er steht aufrecht und erwartungsvoll und blickt zur Bergstation der Bahn. Getragen von Hoffnung und Zuversicht. Etwas wunderlich geworden mit den Jahren. Aber unerschütterlich in seinem Glauben an Wunder.
 



 
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