Vivere militare est (Leben heißt Kämpfen)

Lio

Mitglied
Vivere militare est (Leben heißt Kämpfen)


Herr Becker lag zusammengerollt auf dem Fussbodenteppich und stöhnte leise. Es war der Bandscheibenvorfall, der ihm zu schaffen machte; das schrille Läuten des Telefonapparats ignorierte er. Aber: es läutete…über Herrn Becker hinweg gegen das Gemälde von Karl Marx, läutete den Flur entlang, wo die Doktorurkunde des Sohnes hing, läutete um das schlichte Eisenbett im Schlafzimmer herum, läutete, läutete, die ganze Wohnung läutete. Herr Becker brachte seinen massigen Körper in Bewegung, versuchte sich aufzurichten, wobei ihm ein lautes „Aahhh“ entfuhr. Wieder dieser entsetzliche Schmerz in der Hüfte. Friedrich, der Sohn, hätte ihm vielleicht helfen können…
Schritt für Schritt näherte Herr Becker sich dem Telefonapparat, dabei war sein Gesicht sterbensbleich, die Augen hielt er halb geschlossen. Umständlich hob er mit seiner Pranke den Hörer ab und verdrehte ihn dabei, so dass die Ohrmuschel vor seinem Mund landete.
„Ja?“ sagte er mit krächzender Stimme, der man anhörte, dass sie kaum mehr gebraucht wird.
„Hallo? Tom? Haaaallo?“ kam aus der Ohrmuschel in Herrn Beckers Mund geflossen. Herr Becker riss seine, durch aufgeplatzte Äderchen blutrotgefärbten Augen auf, versuchte etwas zu verstehen, aber er hielt ja den Hörer verkehrt herum, ohnehin waren seine Ohren müde und mit Ohrenschmalz verstopft. „Friedrich?“, murmelte er. Aber es war nicht der Sohn, der da nach einem Tom verlangte.


„Verdammt noch mal!“, Julia hämmert den Hörer auf den Apparat und schaut sich mit funkelnden Augen um. Sie hätte jetzt gerne irgendetwas gegen die Wand geschmissen oder jemanden angeschrien, am besten Tom selbst. Warum ging er nicht ans Telefon? Warum zog er sich immer zurück, mit seinem Ventilator im Zimmer. „Blödmann!“, rief Julia jetzt und horchte, nichts in der WG rührte sich. Ausgerechnet diese Prüfung, bei Bohnert, bei jedem anderen, gut, das wäre zu verkraften gewesen, aber Bohnert dieser Korinthenkacker… Jetzt musste sie die Prüfung noch einmal wiederholen, das bedeutete ein halbes Jahr lang warten, ein halbes Jahr lang blöde Kommentare von Papa anhören, ein halbes Jahr lang herumlungern, während die Kommilitoninnen sich längst auf Bewerbungsgespräche vorbereiteten.
„Scheiß Tom!“, brüllte Julia. Sie ging zum Schreibtisch, ließ sich auf den Stuhl fallen und vergrub das Gesicht zwischen ihren Fäusten. Zwei Monate lang hatte sie wie eine Blöde gelernt und nichts gewonnen. NICHTS; Nada, Niente. Und jetzt musste sie diesem notgeilen Bohnert noch einmal vor die Augen treten. Sie HASSTE ihn. Wie er sie immer anglotzte mit seinen wässrigen Augen. Was der sich wohl dabei vorstellte? Warum konnte Tom nie für sie da sein, wenn sie ihn brauchte? Warum zog er sich immer zurück? Julia trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und griff nach einem Stückchen Papier, das sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Kügelchen zusammen rollte. Dann warf sie es hoch in die Luft und schnippte es aus dem Fenster.


Das Kügelchen beschrieb einen schönen Bogen und landete in der Hutkrempe von Studienrat Sanders. Dieser hatte davon nichts bemerkt, er war auf dem Weg in Richtung Gesamtschule Hohenheide, die Mathematikklausuren hielt er fest unter den Oberarm geklemmt. Sicher würden die üblichen Kandidaten wieder ihre Schwierigkeiten haben, „aber tut nichts!“, dachte Herr Sanders, „mir geht´s auch dreckig!“ Claudia Sanders, seine Ehefrau, hatte er vor zwei Wochen in der Turnhalle erwischt. Nicht bei Gymnastikübungen, nein, nein, bei kreisenden Hüften und lautem Stöhnen, das fettige blonde Haar im Gesicht hatte sie den jungen Sportlehrer unter sich bearbeitet. „So etwas kann man sich nicht gefallen lassen“, zischte Herr Sanders und wühlte, weil seine Nase schon wieder juckte, in der Hosentasche nach einem Taschentuch. Dabei fiel ein orangenes Reclambüchlein heraus.
Die Fußgängerampel sprang auf grün, der Verkehr stoppte und Herr Sanders marschierte los.


Wenig später beugte sich eine junge Autorin über das Büchlein. Ihr an und für sich hübsches Gesicht war überzogen von kleinen Pusteln und Pickeln, die sie immer dann bekam, wenn ihr die kreativen Ideen fehlten. Sie las den Umschlag „Seneca – Epistulae Morales“ stand dort geschrieben. Als sie in dem Büchlein blätterte, stachen ihr drei gelbmarkierte Worte ins Auge.
 

Lio

Mitglied
Vivere militare est (Leben heißt Kämpfen)


Herr Becker lag zusammengerollt auf dem Fussbodenteppich und stöhnte leise. Es war der Bandscheibenvorfall, der ihm zu schaffen machte; das schrille Läuten des Telefonapparats ignorierte er. Aber: es läutete…über Herrn Becker hinweg gegen das Gemälde von Karl Marx, läutete den Flur entlang, wo die Doktorurkunde des Sohnes hing, läutete um das schlichte Eisenbett im Schlafzimmer herum, läutete, läutete, die ganze Wohnung läutete. Herr Becker brachte seinen massigen Körper in Bewegung, versuchte sich aufzurichten, wobei ihm ein lautes „Aahhh“ entfuhr. Wieder dieser entsetzliche Schmerz in der Hüfte. Friedrich, der Sohn, hätte ihm vielleicht helfen können…
Schritt für Schritt näherte Herr Becker sich dem Telefonapparat, sein Gesicht glich nun einem Bündel schmerzverzerter Falten. Umständlich hob er mit seiner Pranke den Hörer ab und verdrehte ihn dabei, so dass die Ohrmuschel vor seinem Mund landete.
„Ja?“ sagte er mit krächzender Stimme, der man anhörte, dass sie kaum mehr gebraucht wird.
„Hallo? Tom? Haaaallo?“ kam aus der Ohrmuschel in Herrn Beckers Mund geflossen. Herr Becker riss seine, durch aufgeplatzte Äderchen blutrotgefärbten Augen auf, versuchte etwas zu verstehen, aber er hielt ja den Hörer verkehrt herum, ohnehin waren seine Ohren müde und mit Ohrenschmalz verstopft. „Friedrich?“, murmelte er. Aber es war nicht der Sohn, der da nach einem Tom verlangte.


„Verdammt noch mal!“, Julia hämmert den Hörer auf den Apparat und schaut sich mit funkelnden Augen um. Sie hätte jetzt gerne irgendetwas gegen die Wand geschmissen oder jemanden angeschrien, am besten Tom selbst. Warum ging er nicht ans Telefon? Warum zog er sich immer zurück, mit seinem Ventilator im Zimmer. „Blödmann!“, rief Julia jetzt und horchte, nichts in der WG rührte sich. Ausgerechnet diese Prüfung, bei Bohnert, bei jedem anderen, gut, das wäre zu verkraften gewesen, aber Bohnert dieser Korinthenkacker… Jetzt musste sie die Prüfung noch einmal wiederholen, das bedeutete ein halbes Jahr lang warten, ein halbes Jahr lang blöde Kommentare von Papa anhören, ein halbes Jahr lang herumlungern, während die Kommilitoninnen sich längst auf Bewerbungsgespräche vorbereiteten.
„Scheiß Tom!“, brüllte Julia. Sie ging zum Schreibtisch, ließ sich auf den Stuhl fallen und vergrub das Gesicht zwischen ihren Fäusten. Zwei Monate lang hatte sie wie eine Blöde gelernt und nichts gewonnen. NICHTS; Nada, Niente. Und jetzt musste sie diesem notgeilen Bohnert noch einmal vor die Augen treten. Sie HASSTE ihn. Wie er sie immer anglotzte mit seinen wässrigen Augen. Was der sich wohl dabei vorstellte? Warum konnte Tom nie für sie da sein, wenn sie ihn brauchte? Warum zog er sich immer zurück? Julia trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und griff nach einem Stückchen Papier, das sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Kügelchen zusammen rollte. Dann warf sie es hoch in die Luft und schnippte es aus dem Fenster.


Das Kügelchen beschrieb einen schönen Bogen und landete in der Hutkrempe von Studienrat Sanders. Dieser hatte davon nichts bemerkt, er war auf dem Weg in Richtung Gesamtschule Hohenheide, die Mathematikklausuren hielt er fest unter den Oberarm geklemmt. Sicher würden die üblichen Kandidaten wieder ihre Schwierigkeiten haben, „aber tut nichts!“, dachte Herr Sanders, „mir geht´s auch dreckig!“ Claudia Sanders, seine Ehefrau, hatte er vor zwei Wochen in der Turnhalle erwischt. Nicht bei Gymnastikübungen, nein, nein, bei kreisenden Hüften und lautem Stöhnen, das fettige blonde Haar im Gesicht hatte sie den jungen Sportlehrer unter sich bearbeitet. „So etwas kann man sich nicht gefallen lassen“, zischte Herr Sanders und wühlte, weil seine Nase schon wieder juckte, in der Hosentasche nach einem Taschentuch. Dabei fiel ein orangenes Reclambüchlein heraus.
Die Fußgängerampel sprang auf grün, der Verkehr stoppte und Herr Sanders marschierte los.


Wenig später beugte sich eine junge Autorin über das Büchlein. Ihr an und für sich hübsches Gesicht war überzogen von kleinen Pusteln und Pickeln, die sie immer dann bekam, wenn ihr die kreativen Ideen fehlten. Sie las den Umschlag: „Seneca – Epistulae Morales“ stand dort geschrieben. Als sie das Büchlein aufschlug, stachen ihr drei gelbmarkierte Worte ins Auge.
 



 
Oben Unten