Vogelliebe (Ein satirischer Krimi)
Primo Donzettis große Passion war das Beobachten von Vögeln; vor allem von Singvögeln. Er konnte auf eine Distanz von 50 Metern erkennen, ob es ein Feldsperling oder ein Hausspatz war, der sich auf dem Telefonmast neben seinem Haus niedergelassen hatte, und aus dem größten Vogelkonzert konnte er jede einzelne Stimme heraushören und zuordnen. Nicht nur, dass er die Vögel alle kannte, er wusste auch über ihre Lebensweise genau Bescheid. Da aber sein Hobby bei den Mitbewohnern von Montebrutto belächelt wurde, sprach er schon seit Jahren mit niemandem mehr darüber. Er lebte ohnehin ziemlich zurückgezogen auf seinem kleinen Anwesen südlich des Dorfes. Vor zehn Jahren hatte er seine Stelle als Buchhalter in einem Treuhandbüro in San Geronimo aufgegeben und war nach Montebrutto gezogen. Er hatte ein kleines Vermögen geerbt, das ihm erlaubte, mit bescheidenem Komfort zu leben ohne einer Beschäftigung nachgehen zu müssen. Sein Haus war klein, aber gemütlich und seinen Bedürfnissen optimal angepasst. Er nannte es »La piccola Pace«, der kleine Frieden. Ein hübscher Garten, eine Hofstatt mit den verschiedensten Fruchtbäumen, aus deren Früchten er eine leckere Marmelade zu machen verstand, gehörte dazu. Fast um sein ganzes Grundstück herum wucherte eine wilde, undurchdringliche Hecke aus Schlehdorn, Weißdorn, Brombeeren, Smilaxen, Waldreben, Heckenrosen und vielem anderem stacheligen Gehölz. Eine ideale Brutstätte für Vögel aller Gattungen. Da nisteten Rotbrüstchen, Pirole, Meisen, Drosseln, Buchfinken, Zaunkönige, Amseln, Nachtigallen, aber auch Elstern, Eichelhäher und Kuckucke nisteten hier, die Todfeinde der kleinen Singvögel. Primo ließ natürlich auch sie gewähren, denn sie gehörten dazu, und das Gleichgewicht der Natur lag ihm am Herzen.
Nun geschah etwas, das seinen Frieden empfindlich störte, seine Lebensqualität massiv verschlechterte. Ende August nämlich fuhr ein offener Fiat Ducato Lieferwagen der Gemeinde durch das Sträßchen, an dem er wohnte, und sammelte alle die weißen Blechschilder ein, auf denen stand »Divieto di caccia«, Jagen verboten. Entsetzt eilte er auf die Straße und fragte den Gemeindearbeiter, was das zu bedeuten hätte.
»Im September geht hier die Jagd los, das ganze Gebiet diesseits des Sassorotto ist freigegeben. Es wurden schon 500 junge Fasane ausgesetzt, haben Sie das nicht mitbekommen.«
Primo hatte natürlich bemerkt, dass seit einiger Zeit mehr junge Fasane herumstolzierten als andere Jahre und hatte sich gewundert, dass sie so zahm waren und nicht wegflatterten, wenn er in ihre Nähe kam, aber er hatte sich darüber gefreut und gedacht, dass die lange Zeit, in der hier schon nicht mehr gejagt wurde, die Fasane zutraulich gemacht habe.
Am ersten September, es war zufälligerweise ein Sonntag, wurde er in der Morgendämmerung von mehreren Salven aus dem Schlaf gerissen. »Es scheint, der Krieg ist ausgebrochen«, dachte er, zog die Bettdecke über die Ohren und versuchte noch ein wenig zu schlafen, aber das war unmöglich. Im Sekundentakt knallte es wild um sein Häuschen. Der Lärm ebbte erst ab, als die Sonne über dem Horizont erschien. Jetzt war nur noch etwa alle dreißig Sekunden ein Schuss zu hören. Gerade als Primo vors Haus trat, um seine Hühner aus dem Stall zu lassen, prasselte eine Ladung Schrot auf sein Dach. Er rannte zurück in Deckung. Beim zweiten Anlauf erreichte er den Hühnerhof, ohne angeschossen zu werden. Er ließ das Federvieh ins Freie und ging zurück, um zu frühstücken. Kaum hatte er den letzten Schluck Kaffee getrunken, als ihn ein lauter Knall derart erschreckte, dass er die Kaffeetasse fallen ließ. Er eilte zur Türe. Keine 20 Meter von ihm entfernt stand ein Jäger in voller Montur: Kampfanzug, Patronengurt, Tarn-Baseballmütze mit Schirm nach hinten, Gewehr geschultert. Als er Primo gewahrte, rief er ihm zu: »Äh! Tut mir leid, ich habe irrtümlicherweise ein Huhn von dir erlegt, willst du es haben, ich bezahle es natürlich.«
»Du kannst es behalten, aber bitte sei doch so gut und halte den vorgeschriebenen Mindestabstand ein, hier um mein Haus herum hast du nicht zu schießen, du verdammtes Arschloch!« Die letzten drei Wörter hauchte er natürlich so leise, dass der Andere sie nicht hören konnte. Als er das Frühstücksgeschirr abwusch, ärgerte er sich aber, dass er diesen Lümmel nicht seine volle Wut hatte spüren lassen. Aber Primo war ein etwas schüchterner Erdenbürger. Natürlich war die Ballerei in den nächsten Tagen nicht ganz so arg, wie am Sonntag bei der Eröffnung der Jagdsaison, aber trotzdem wurde er jeden Morgen von Schüssen geweckt. Er dachte, es würde wohl nach ein paar Tagen oder spätestens Wochen kein einziges jagdbares Tier mehr leben, aber offenbar täuschte er sich gewaltig. Das Jagdfieber blieb bis zum Ende der Saison ungebrochen. Im Gegenteil, die letzte Januarwoche hätte eine glaubwürdige Geräuschkulisse für die Schlacht von Austerlitz gegeben. Das Schlimmste aber an der ganzen Sache war, dass die Jäger vor allem auf Singvögel schossen. Wildschweine, Füchse oder Hasen zu schießen, mochte ja noch angehen, aber Singvögel, das war für Primo unverständlich, unvorstellbar, unerhört und unverzeihlich, schlicht nicht zu akzeptieren. Mehr als einmal hatte er angeschossene Rotbrüstchen oder Amseln auf seinem Grundstück gefunden, die nicht mehr fliegen konnten, und die er schweren Herzens von ihrem Leiden hatte befreien müssen.
Ein paar Wochen nach dem Ende dieser Jagdsaison hatte sich Primo wieder etwas beruhigt. Aber der erste September kam – es war diesmal ein Samstag – und wieder donnerten die Salven von nah und fern und drangen schmerzlich wie giftige Stacheln in sein Ohr.
Primo hatte die Angewohnheit, jeden Donnerstag in der kleinen Trattoria im Dorf zu speisen. Das war eines der wenigen Vergnügen außerhalb des eigenen Grundstücks, das er sich gönnte. An einem dieser Donnerstage, Anfang November, lagen kleine Plakätchen auf den Tischen in der Trattoria, auf denen stand: »Heute frische Rotbrüstchen an Knoblauchsoße.« Primo konnte sich kaum dazu überwinden, sitzen zu bleiben und seine Tortelli Calabresi zu bestellen. Am Nebentisch hatte jemand die Rotbrüstchen bestellt und Primo war dem Weinen nahe, als er das Knacken der Knöchelchen in den Mäulern dieser Barbaren hörte - Vögelchen isst man nämlich mitsamt dem feinen Skelett.
In dieser Nacht hatte unser Held einen seltsamen Traum. Er sah einen riesigen Vogel in Menschengestalt. Kopf und Brust waren die eines Geiers, der übrige Körper hingegen der eines Menschen. Der Vogel ging aufrecht und hatte ein Gewehr mit zehn Läufen in den Händen. Er zielte auf einen Busch und feuerte aus allen Rohren. Hinter dem Busch sanken zwei Jäger tödlich getroffen zu Boden. Staunend gewahrte Primo, wie die toten Jäger immer kleiner und kleiner wurden und schließlich nur noch die Größe von Rotbrüstchen hatten. Mit rasendem Puls und Schweißperlen auf der Stirn erwachte Primo. Wie er über diesen seltsamen Traum nachdachte, kam ihm plötzlich eine Idee. Zuerst musste er darüber lachen, aber irgendwie blieb diese Idee an ihm hängen und er verfolgte sie weiter, vorerst nur so zum Spaß, während er schlaflos im Bett lag. Doch sie ließ ihn nicht mehr los und mit jedem Tag wurde sie greifbarer, konkreter.
Vor Jahren hatte Primo von einem kinderlosen Onkel eine alte, zweiläufige Jagdflinte geerbt. Seine Tante hatte damals gesagt: »Nimm die Flinte, Primo!« und ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, hatte sie sie in sein Auto gelegt. Erst zu Hause hatte er es bemerkt. Neben der Flinte hatte noch eine Schachtel Patronen mit sehr grobem Schrot gelegen, wahrscheinlich für die Jagd auf Wildschweine. Nun lag das Gewehr zuunterst in seinem Kleiderschrank. Primo hatte es seither nie mehr angeschaut. Jetzt aber holte er es hervor, ließ es aus der Hülle gleiten und betastete es beinahe liebevoll. Er knickte die Läufe ab, hielt sie gegen das Licht und äugte hindurch. Beide waren ordentlich gefettet. Das Gewehr schien in tadellosem Zustand zu sein, kein Rostfleckchen war zu sehen. Er spannte die beiden Hähne und drückte ab. Ein sattes »Pong« war zweimal zu hören.
Tags darauf verließ er schon früh sein Haus und fuhr in die Gamuzzoberge hinauf. Er parkte auf einem Waldweg und wartete eine Viertelstunde. Nichts rührte sich. Dann stieg er aus dem Wagen, stellte einen mit Wasser gefüllten Plastikkanister auf einen Baumstrunk und holte seine Flinte aus dem Kofferraum. Er schob eine Patrone in den einen Lauf, stellte sich etwa dreißig Schritte vor seinem Ziel auf, hob das Gewehr in den Anschlag, zielte über Visier und Korn und feuerte. Die Kugeln zerfetzten den Kanister in kleinste Teile. Überrascht von der Gewalt des Schusses, suchte er die weit verstreuten Plastikteile zusammen, verstaute die Flinte im Kofferraum und machte sich auf den Heimweg.
Am nächsten Sonntagmorgen regnete es in Strömen und ein scharfer, böiger Wind blies durch das Tal. Wahrlich kein Wetter zum Jagen! Primo hörte an diesem Morgen nur zwei oder drei vereinzelte Schüsse. Irgendein unersättlicher Schießwütiger war also doch unterwegs. Im Laufe des Tages verzogen sich die Wolken und die Nacht auf Montag war sternenklar. Primo hatte den Wecker auf sechs Uhr gestellt. Noch etwas schlaftrunken kroch er aus dem Bett, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, braute sich einen starken Kaffee und holte die Flinte aus dem Kleiderschrank. Um halb sieben verließ er sein Haus und schlich den Weg hinauf bis zur Abzweigung, die zum Podere Alba führte. Es war noch fast dunkel, und der untergehende Vollmond warf schwache Schatten von Bäumen auf den Weg. Im Osten begann sich der Himmel rötlich-gelb zu färben.
Primo versteckte sich an der Weggabelung hinter einem Mäuerchen aus Bruchsteinen, lud sein Gewehr mit zwei Patronen und wartete. Punkt sieben, die Dämmerung hatte eben eingesetzt, hörte er das Geräusch eines sich nahenden Autos. Vorsichtig reckte er den Kopf und beobachtete, wie der Wagen kurz vor seinem Versteck anhielt und der alte Zanutti in seinem Tarnanzug ausstieg. Er öffnete die Heckklappe, ließ einen kleinen weiß-braun gefleckten Jagdhund rausspringen und griff nach seinem Schießeisen. Primo kannte Zanutti und wusste, dass er jeden Morgen hier seinen Wagen parkte und sich kaum ein paar Meter davon entfernte, um auf alles, was in der Luft flatterte zu schießen. So war es auch an diesem Morgen. Der Alte lud seine Flinte - ein Dreiläufer - und gab einen Schuss in die Luft. Aufgeschreckt flatterten einige Vögel davon. Jetzt zielte er und feuerte die beiden andern Läufe kurz hintereinander ab. Tatsächlich trudelten zwei oder drei Rotbrüstchen und eine Nachtigall zu Boden. Der Hund rannte los, um die Beute einzusammeln. Jetzt war der Moment für Primo gekommen. Er spannte den Hahn und schob den Lauf seines Gewehrs langsam über einen flachen Stein der Mauer, hinter der er kauerte. Er holte tief Luft, hielt den Atem an, zielte und schoss. Zanutti sackte in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Primo wartete einen Augenblick, dann ging er auf den Alten zu. Kein Zweifel, der war mausetot! Primo machte sich auf den Heimweg. Um sicher zu sein, dass ihn niemand sah, eilte er quer durch den Wald zurück zu seinem Haus. Zanutti würde sicher bald gefunden werden, darüber brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Er fettete den Lauf seines Gewehrs und versteckte es wieder im Kleiderschrank. Darauf bereitete er sich das Frühstück zu. Zwar fehlte ihm an diesem Morgen der Appetit, aber er bereute seine Tat keineswegs.
Wie zu erwarten war, geriet das ganze Dorf in Aufruhr. Der Metzger Sanini hatte den alten Zanutti gegen neun Uhr gefunden und sofort die Carabinieri alarmiert. Die Leute glaubten natürlich an einen Jagdunfall. Es wäre nicht der Erste gewesen im Dorf. Vor fünf Jahren hatte ein Jäger ein Auge verloren, weil er dummerweise in der Schusslinie eines Kollegen gestanden hatte, und im Jahr zuvor hatte einer eine Kugel in den Allerwertesten gekriegt. Aber bald hörte man auch einige Stimmen hinter vorgehaltener Hand von Mord sprechen. Ja - der alte Zanutti hatte wohl ein paar Feinde im Dorf, er war nicht sehr beliebt gewesen. Am Dienstagvormittag ging Primo einkaufen. Natürlich sprach das ganze Dorf nur von einem: dem Mord. Alle möglichen Theorien und Spekulationen wurden geäußert, aber niemand wagte es, jemanden konkret zu verdächtigen. Primo war sehr froh darüber.
Am darauffolgenden Donnerstag stellte er wieder seinen Wecker auf sechs Uhr. Er brauchte etwas mehr Zeit, da er seinem zweiten Opfer auf der anderen Seite des Flüsschens Ciucco aufzulauern gedachte. Im Schutze der Dunkelheit schritt er den Weg hinauf bis zum Wasserreservoir, dann eilte er durch die Macchia hinunter zum Bach, der jetzt nur wenig Wasser führte, überquerte diesen mit einem kühnen Sprung und kletterte die bewaldete Böschung hinauf bis zu einer kleinen Lichtung. Kurz nach sieben hauchte Carlo Manetti, ein angesehener Bürger mittleren Alters, sein Jägerdasein aus. Primo eilte sofort auf dem gleichen Weg nach Hause zurück. Gegen elf Uhr stieg er in seinen Wagen und fuhr nach San Geronimo. An der Tankstelle am Ausgang des Dorfes, tankte er für fünfzig Euro, wie er das immer zu tun pflegte.
»Hast du es schon vernommen?« schrie ihm der Tankwart zu, kaum hatte er die Wagentür geöffnet.
»Was denn?«, fragte er neugierig.
»Carlo Manetti ist erschossen worden! Jetzt ist alles klar, das kann kein Unfall mehr sein ‒ ein Mörder ist unter uns!«
»Schrecklich, – wo hat man ihn denn gefunden?«, fragte Primo erstaunt.
»Auf der andern Seite des Ciucco, oben bei der Lichtung, wo die großen Felsbrocken liegen«, antwortete der Tankwart und fügte kopfschüttelnd hinzu: »Es ist nicht zu glauben, in unserem Dorf geschehen zwei Morde in einer Woche ‒ das ist ja wie in Palermo!« Primo bestätigte: »Wirklich! Wie in Palermo! Man traut sich kaum mehr aus dem Haus!«, dann streckte er dem Tankwart die 50 Euro hin, setzte sich in den Wagen und fuhr los.
Der Chef der örtlichen Carabinieri, Maresciallo Parotti forderte Verstärkung in San Geronimo an. Commissario Santucelli reiste noch am selben Abend mit einem Assistenten an und logierte im Albergo da Ferrucio, dem Einzigen im Dorf. Bereits am nächsten Morgen begannen die Verhöre. Da man vorerst davon ausging, dass der Mörder ein Jäger, oder zumindest Besitzer einer Jagdflinte war, begann man mit den Einvernahmen bei den Jägern. Es gab deren viele, fast jeder zweite erwachsene Mann in Montebrutto war ein Jäger. Die Verhöre fanden im Büro des Maresciallo statt und dauerten jeweils etwa eine halbe Stunde. Natürlich kam nichts dabei heraus.
Ab diesem Donnerstag – so stellte Primo erfreut fest – waren wesentlich weniger Jäger auf der Pirsch als vorher. Offenbar hatte sich bei diesen Helden im Kampfanzug doch so etwas wie Angst breitgemacht. Nur einzelne ganz Unerschrockene ließen sich nicht beirren. Aber als am Dienstag darauf das dritte Opfer gefunden wurde, wagte sich keiner mehr auf die Jagd. Man war sich nämlich einig geworden, dass die Anschläge den Jägern im Allgemeinen galten und somit konnte jeder das nächste Opfer sein. Die Frau, die den Blumenladen führte, machte den Vorschlag, man solle die ganze Gegend unverzüglich wieder mit Jagdverbot belegen, dann würden die Morde aufhören. Die Jäger könnten ja, wenn es unbedingt sein musste, in einer andern Gemeinde ihrem mannhaften Sport frönen. Der Vorschlag schien einleuchtend und fand allgemein Zuspruch. Eigentlich erstaunlich, dass diese Idee ausgerechnet von der Blumenfrau kam, war es doch sie, die an Beerdigungen gut verdiente. Ihr war eben ein edler Charakter in die Wiege gelegt worden, was man wahrlich nicht von allen Bewohnern des Dorfes behaupten konnte. Noch am selben Nachmittag ratterte der alte Fiat Ducato das Sträßchen neben Primos Haus hinunter, hielt alle hundert Meter an, und Sandro, der Straßenkehrer, nagelte die alten, verbeulten Schilder mit der Aufschrift: ›Divieto di Caccia‹ wieder an die Bäume.
In der Abenddämmerung setzte sich eine Amsel auf den höchsten Wipfel der Steineiche, die vor Primos Schlafzimmer stand, schüttelte ihr schwarzglänzendes Gefieder, streckte den Hals und begann aus voller Brust zu tirilieren. Im Januar hatte noch nie jemand eine Amsel singen hören, aber Primo erstaunte es nicht. Er war überzeugt, dass die Amsel dieses Liedchen einzig und allein ihm zu Ehren pfiff, und ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht.
Am nächsten Donnerstag ging Primo wieder in die Trattoria zum Essen. Er konnte später nicht mehr sagen, was für eine zynische Regung ihn dazu bewogen hatte zu fragen, ob heute frische Rotbrüstchen zu haben wären. Natürlich schlug der Wirt die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Nein! Wo denkst du hin, Primo, es geht doch keiner mehr auf die Jagd!«
Primo hatte nicht bemerkt, dass der scharfsinnige Commissario aus San Geronimo in einer Ecke sass, ihn scharf fixierte und sich nachdenklich über den Schnurrbart strich.
Primo Donzettis große Passion war das Beobachten von Vögeln; vor allem von Singvögeln. Er konnte auf eine Distanz von 50 Metern erkennen, ob es ein Feldsperling oder ein Hausspatz war, der sich auf dem Telefonmast neben seinem Haus niedergelassen hatte, und aus dem größten Vogelkonzert konnte er jede einzelne Stimme heraushören und zuordnen. Nicht nur, dass er die Vögel alle kannte, er wusste auch über ihre Lebensweise genau Bescheid. Da aber sein Hobby bei den Mitbewohnern von Montebrutto belächelt wurde, sprach er schon seit Jahren mit niemandem mehr darüber. Er lebte ohnehin ziemlich zurückgezogen auf seinem kleinen Anwesen südlich des Dorfes. Vor zehn Jahren hatte er seine Stelle als Buchhalter in einem Treuhandbüro in San Geronimo aufgegeben und war nach Montebrutto gezogen. Er hatte ein kleines Vermögen geerbt, das ihm erlaubte, mit bescheidenem Komfort zu leben ohne einer Beschäftigung nachgehen zu müssen. Sein Haus war klein, aber gemütlich und seinen Bedürfnissen optimal angepasst. Er nannte es »La piccola Pace«, der kleine Frieden. Ein hübscher Garten, eine Hofstatt mit den verschiedensten Fruchtbäumen, aus deren Früchten er eine leckere Marmelade zu machen verstand, gehörte dazu. Fast um sein ganzes Grundstück herum wucherte eine wilde, undurchdringliche Hecke aus Schlehdorn, Weißdorn, Brombeeren, Smilaxen, Waldreben, Heckenrosen und vielem anderem stacheligen Gehölz. Eine ideale Brutstätte für Vögel aller Gattungen. Da nisteten Rotbrüstchen, Pirole, Meisen, Drosseln, Buchfinken, Zaunkönige, Amseln, Nachtigallen, aber auch Elstern, Eichelhäher und Kuckucke nisteten hier, die Todfeinde der kleinen Singvögel. Primo ließ natürlich auch sie gewähren, denn sie gehörten dazu, und das Gleichgewicht der Natur lag ihm am Herzen.
Nun geschah etwas, das seinen Frieden empfindlich störte, seine Lebensqualität massiv verschlechterte. Ende August nämlich fuhr ein offener Fiat Ducato Lieferwagen der Gemeinde durch das Sträßchen, an dem er wohnte, und sammelte alle die weißen Blechschilder ein, auf denen stand »Divieto di caccia«, Jagen verboten. Entsetzt eilte er auf die Straße und fragte den Gemeindearbeiter, was das zu bedeuten hätte.
»Im September geht hier die Jagd los, das ganze Gebiet diesseits des Sassorotto ist freigegeben. Es wurden schon 500 junge Fasane ausgesetzt, haben Sie das nicht mitbekommen.«
Primo hatte natürlich bemerkt, dass seit einiger Zeit mehr junge Fasane herumstolzierten als andere Jahre und hatte sich gewundert, dass sie so zahm waren und nicht wegflatterten, wenn er in ihre Nähe kam, aber er hatte sich darüber gefreut und gedacht, dass die lange Zeit, in der hier schon nicht mehr gejagt wurde, die Fasane zutraulich gemacht habe.
Am ersten September, es war zufälligerweise ein Sonntag, wurde er in der Morgendämmerung von mehreren Salven aus dem Schlaf gerissen. »Es scheint, der Krieg ist ausgebrochen«, dachte er, zog die Bettdecke über die Ohren und versuchte noch ein wenig zu schlafen, aber das war unmöglich. Im Sekundentakt knallte es wild um sein Häuschen. Der Lärm ebbte erst ab, als die Sonne über dem Horizont erschien. Jetzt war nur noch etwa alle dreißig Sekunden ein Schuss zu hören. Gerade als Primo vors Haus trat, um seine Hühner aus dem Stall zu lassen, prasselte eine Ladung Schrot auf sein Dach. Er rannte zurück in Deckung. Beim zweiten Anlauf erreichte er den Hühnerhof, ohne angeschossen zu werden. Er ließ das Federvieh ins Freie und ging zurück, um zu frühstücken. Kaum hatte er den letzten Schluck Kaffee getrunken, als ihn ein lauter Knall derart erschreckte, dass er die Kaffeetasse fallen ließ. Er eilte zur Türe. Keine 20 Meter von ihm entfernt stand ein Jäger in voller Montur: Kampfanzug, Patronengurt, Tarn-Baseballmütze mit Schirm nach hinten, Gewehr geschultert. Als er Primo gewahrte, rief er ihm zu: »Äh! Tut mir leid, ich habe irrtümlicherweise ein Huhn von dir erlegt, willst du es haben, ich bezahle es natürlich.«
»Du kannst es behalten, aber bitte sei doch so gut und halte den vorgeschriebenen Mindestabstand ein, hier um mein Haus herum hast du nicht zu schießen, du verdammtes Arschloch!« Die letzten drei Wörter hauchte er natürlich so leise, dass der Andere sie nicht hören konnte. Als er das Frühstücksgeschirr abwusch, ärgerte er sich aber, dass er diesen Lümmel nicht seine volle Wut hatte spüren lassen. Aber Primo war ein etwas schüchterner Erdenbürger. Natürlich war die Ballerei in den nächsten Tagen nicht ganz so arg, wie am Sonntag bei der Eröffnung der Jagdsaison, aber trotzdem wurde er jeden Morgen von Schüssen geweckt. Er dachte, es würde wohl nach ein paar Tagen oder spätestens Wochen kein einziges jagdbares Tier mehr leben, aber offenbar täuschte er sich gewaltig. Das Jagdfieber blieb bis zum Ende der Saison ungebrochen. Im Gegenteil, die letzte Januarwoche hätte eine glaubwürdige Geräuschkulisse für die Schlacht von Austerlitz gegeben. Das Schlimmste aber an der ganzen Sache war, dass die Jäger vor allem auf Singvögel schossen. Wildschweine, Füchse oder Hasen zu schießen, mochte ja noch angehen, aber Singvögel, das war für Primo unverständlich, unvorstellbar, unerhört und unverzeihlich, schlicht nicht zu akzeptieren. Mehr als einmal hatte er angeschossene Rotbrüstchen oder Amseln auf seinem Grundstück gefunden, die nicht mehr fliegen konnten, und die er schweren Herzens von ihrem Leiden hatte befreien müssen.
Ein paar Wochen nach dem Ende dieser Jagdsaison hatte sich Primo wieder etwas beruhigt. Aber der erste September kam – es war diesmal ein Samstag – und wieder donnerten die Salven von nah und fern und drangen schmerzlich wie giftige Stacheln in sein Ohr.
Primo hatte die Angewohnheit, jeden Donnerstag in der kleinen Trattoria im Dorf zu speisen. Das war eines der wenigen Vergnügen außerhalb des eigenen Grundstücks, das er sich gönnte. An einem dieser Donnerstage, Anfang November, lagen kleine Plakätchen auf den Tischen in der Trattoria, auf denen stand: »Heute frische Rotbrüstchen an Knoblauchsoße.« Primo konnte sich kaum dazu überwinden, sitzen zu bleiben und seine Tortelli Calabresi zu bestellen. Am Nebentisch hatte jemand die Rotbrüstchen bestellt und Primo war dem Weinen nahe, als er das Knacken der Knöchelchen in den Mäulern dieser Barbaren hörte - Vögelchen isst man nämlich mitsamt dem feinen Skelett.
In dieser Nacht hatte unser Held einen seltsamen Traum. Er sah einen riesigen Vogel in Menschengestalt. Kopf und Brust waren die eines Geiers, der übrige Körper hingegen der eines Menschen. Der Vogel ging aufrecht und hatte ein Gewehr mit zehn Läufen in den Händen. Er zielte auf einen Busch und feuerte aus allen Rohren. Hinter dem Busch sanken zwei Jäger tödlich getroffen zu Boden. Staunend gewahrte Primo, wie die toten Jäger immer kleiner und kleiner wurden und schließlich nur noch die Größe von Rotbrüstchen hatten. Mit rasendem Puls und Schweißperlen auf der Stirn erwachte Primo. Wie er über diesen seltsamen Traum nachdachte, kam ihm plötzlich eine Idee. Zuerst musste er darüber lachen, aber irgendwie blieb diese Idee an ihm hängen und er verfolgte sie weiter, vorerst nur so zum Spaß, während er schlaflos im Bett lag. Doch sie ließ ihn nicht mehr los und mit jedem Tag wurde sie greifbarer, konkreter.
Vor Jahren hatte Primo von einem kinderlosen Onkel eine alte, zweiläufige Jagdflinte geerbt. Seine Tante hatte damals gesagt: »Nimm die Flinte, Primo!« und ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, hatte sie sie in sein Auto gelegt. Erst zu Hause hatte er es bemerkt. Neben der Flinte hatte noch eine Schachtel Patronen mit sehr grobem Schrot gelegen, wahrscheinlich für die Jagd auf Wildschweine. Nun lag das Gewehr zuunterst in seinem Kleiderschrank. Primo hatte es seither nie mehr angeschaut. Jetzt aber holte er es hervor, ließ es aus der Hülle gleiten und betastete es beinahe liebevoll. Er knickte die Läufe ab, hielt sie gegen das Licht und äugte hindurch. Beide waren ordentlich gefettet. Das Gewehr schien in tadellosem Zustand zu sein, kein Rostfleckchen war zu sehen. Er spannte die beiden Hähne und drückte ab. Ein sattes »Pong« war zweimal zu hören.
Tags darauf verließ er schon früh sein Haus und fuhr in die Gamuzzoberge hinauf. Er parkte auf einem Waldweg und wartete eine Viertelstunde. Nichts rührte sich. Dann stieg er aus dem Wagen, stellte einen mit Wasser gefüllten Plastikkanister auf einen Baumstrunk und holte seine Flinte aus dem Kofferraum. Er schob eine Patrone in den einen Lauf, stellte sich etwa dreißig Schritte vor seinem Ziel auf, hob das Gewehr in den Anschlag, zielte über Visier und Korn und feuerte. Die Kugeln zerfetzten den Kanister in kleinste Teile. Überrascht von der Gewalt des Schusses, suchte er die weit verstreuten Plastikteile zusammen, verstaute die Flinte im Kofferraum und machte sich auf den Heimweg.
Am nächsten Sonntagmorgen regnete es in Strömen und ein scharfer, böiger Wind blies durch das Tal. Wahrlich kein Wetter zum Jagen! Primo hörte an diesem Morgen nur zwei oder drei vereinzelte Schüsse. Irgendein unersättlicher Schießwütiger war also doch unterwegs. Im Laufe des Tages verzogen sich die Wolken und die Nacht auf Montag war sternenklar. Primo hatte den Wecker auf sechs Uhr gestellt. Noch etwas schlaftrunken kroch er aus dem Bett, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser, braute sich einen starken Kaffee und holte die Flinte aus dem Kleiderschrank. Um halb sieben verließ er sein Haus und schlich den Weg hinauf bis zur Abzweigung, die zum Podere Alba führte. Es war noch fast dunkel, und der untergehende Vollmond warf schwache Schatten von Bäumen auf den Weg. Im Osten begann sich der Himmel rötlich-gelb zu färben.
Primo versteckte sich an der Weggabelung hinter einem Mäuerchen aus Bruchsteinen, lud sein Gewehr mit zwei Patronen und wartete. Punkt sieben, die Dämmerung hatte eben eingesetzt, hörte er das Geräusch eines sich nahenden Autos. Vorsichtig reckte er den Kopf und beobachtete, wie der Wagen kurz vor seinem Versteck anhielt und der alte Zanutti in seinem Tarnanzug ausstieg. Er öffnete die Heckklappe, ließ einen kleinen weiß-braun gefleckten Jagdhund rausspringen und griff nach seinem Schießeisen. Primo kannte Zanutti und wusste, dass er jeden Morgen hier seinen Wagen parkte und sich kaum ein paar Meter davon entfernte, um auf alles, was in der Luft flatterte zu schießen. So war es auch an diesem Morgen. Der Alte lud seine Flinte - ein Dreiläufer - und gab einen Schuss in die Luft. Aufgeschreckt flatterten einige Vögel davon. Jetzt zielte er und feuerte die beiden andern Läufe kurz hintereinander ab. Tatsächlich trudelten zwei oder drei Rotbrüstchen und eine Nachtigall zu Boden. Der Hund rannte los, um die Beute einzusammeln. Jetzt war der Moment für Primo gekommen. Er spannte den Hahn und schob den Lauf seines Gewehrs langsam über einen flachen Stein der Mauer, hinter der er kauerte. Er holte tief Luft, hielt den Atem an, zielte und schoss. Zanutti sackte in sich zusammen und blieb regungslos liegen. Primo wartete einen Augenblick, dann ging er auf den Alten zu. Kein Zweifel, der war mausetot! Primo machte sich auf den Heimweg. Um sicher zu sein, dass ihn niemand sah, eilte er quer durch den Wald zurück zu seinem Haus. Zanutti würde sicher bald gefunden werden, darüber brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Er fettete den Lauf seines Gewehrs und versteckte es wieder im Kleiderschrank. Darauf bereitete er sich das Frühstück zu. Zwar fehlte ihm an diesem Morgen der Appetit, aber er bereute seine Tat keineswegs.
Wie zu erwarten war, geriet das ganze Dorf in Aufruhr. Der Metzger Sanini hatte den alten Zanutti gegen neun Uhr gefunden und sofort die Carabinieri alarmiert. Die Leute glaubten natürlich an einen Jagdunfall. Es wäre nicht der Erste gewesen im Dorf. Vor fünf Jahren hatte ein Jäger ein Auge verloren, weil er dummerweise in der Schusslinie eines Kollegen gestanden hatte, und im Jahr zuvor hatte einer eine Kugel in den Allerwertesten gekriegt. Aber bald hörte man auch einige Stimmen hinter vorgehaltener Hand von Mord sprechen. Ja - der alte Zanutti hatte wohl ein paar Feinde im Dorf, er war nicht sehr beliebt gewesen. Am Dienstagvormittag ging Primo einkaufen. Natürlich sprach das ganze Dorf nur von einem: dem Mord. Alle möglichen Theorien und Spekulationen wurden geäußert, aber niemand wagte es, jemanden konkret zu verdächtigen. Primo war sehr froh darüber.
Am darauffolgenden Donnerstag stellte er wieder seinen Wecker auf sechs Uhr. Er brauchte etwas mehr Zeit, da er seinem zweiten Opfer auf der anderen Seite des Flüsschens Ciucco aufzulauern gedachte. Im Schutze der Dunkelheit schritt er den Weg hinauf bis zum Wasserreservoir, dann eilte er durch die Macchia hinunter zum Bach, der jetzt nur wenig Wasser führte, überquerte diesen mit einem kühnen Sprung und kletterte die bewaldete Böschung hinauf bis zu einer kleinen Lichtung. Kurz nach sieben hauchte Carlo Manetti, ein angesehener Bürger mittleren Alters, sein Jägerdasein aus. Primo eilte sofort auf dem gleichen Weg nach Hause zurück. Gegen elf Uhr stieg er in seinen Wagen und fuhr nach San Geronimo. An der Tankstelle am Ausgang des Dorfes, tankte er für fünfzig Euro, wie er das immer zu tun pflegte.
»Hast du es schon vernommen?« schrie ihm der Tankwart zu, kaum hatte er die Wagentür geöffnet.
»Was denn?«, fragte er neugierig.
»Carlo Manetti ist erschossen worden! Jetzt ist alles klar, das kann kein Unfall mehr sein ‒ ein Mörder ist unter uns!«
»Schrecklich, – wo hat man ihn denn gefunden?«, fragte Primo erstaunt.
»Auf der andern Seite des Ciucco, oben bei der Lichtung, wo die großen Felsbrocken liegen«, antwortete der Tankwart und fügte kopfschüttelnd hinzu: »Es ist nicht zu glauben, in unserem Dorf geschehen zwei Morde in einer Woche ‒ das ist ja wie in Palermo!« Primo bestätigte: »Wirklich! Wie in Palermo! Man traut sich kaum mehr aus dem Haus!«, dann streckte er dem Tankwart die 50 Euro hin, setzte sich in den Wagen und fuhr los.
Der Chef der örtlichen Carabinieri, Maresciallo Parotti forderte Verstärkung in San Geronimo an. Commissario Santucelli reiste noch am selben Abend mit einem Assistenten an und logierte im Albergo da Ferrucio, dem Einzigen im Dorf. Bereits am nächsten Morgen begannen die Verhöre. Da man vorerst davon ausging, dass der Mörder ein Jäger, oder zumindest Besitzer einer Jagdflinte war, begann man mit den Einvernahmen bei den Jägern. Es gab deren viele, fast jeder zweite erwachsene Mann in Montebrutto war ein Jäger. Die Verhöre fanden im Büro des Maresciallo statt und dauerten jeweils etwa eine halbe Stunde. Natürlich kam nichts dabei heraus.
Ab diesem Donnerstag – so stellte Primo erfreut fest – waren wesentlich weniger Jäger auf der Pirsch als vorher. Offenbar hatte sich bei diesen Helden im Kampfanzug doch so etwas wie Angst breitgemacht. Nur einzelne ganz Unerschrockene ließen sich nicht beirren. Aber als am Dienstag darauf das dritte Opfer gefunden wurde, wagte sich keiner mehr auf die Jagd. Man war sich nämlich einig geworden, dass die Anschläge den Jägern im Allgemeinen galten und somit konnte jeder das nächste Opfer sein. Die Frau, die den Blumenladen führte, machte den Vorschlag, man solle die ganze Gegend unverzüglich wieder mit Jagdverbot belegen, dann würden die Morde aufhören. Die Jäger könnten ja, wenn es unbedingt sein musste, in einer andern Gemeinde ihrem mannhaften Sport frönen. Der Vorschlag schien einleuchtend und fand allgemein Zuspruch. Eigentlich erstaunlich, dass diese Idee ausgerechnet von der Blumenfrau kam, war es doch sie, die an Beerdigungen gut verdiente. Ihr war eben ein edler Charakter in die Wiege gelegt worden, was man wahrlich nicht von allen Bewohnern des Dorfes behaupten konnte. Noch am selben Nachmittag ratterte der alte Fiat Ducato das Sträßchen neben Primos Haus hinunter, hielt alle hundert Meter an, und Sandro, der Straßenkehrer, nagelte die alten, verbeulten Schilder mit der Aufschrift: ›Divieto di Caccia‹ wieder an die Bäume.
In der Abenddämmerung setzte sich eine Amsel auf den höchsten Wipfel der Steineiche, die vor Primos Schlafzimmer stand, schüttelte ihr schwarzglänzendes Gefieder, streckte den Hals und begann aus voller Brust zu tirilieren. Im Januar hatte noch nie jemand eine Amsel singen hören, aber Primo erstaunte es nicht. Er war überzeugt, dass die Amsel dieses Liedchen einzig und allein ihm zu Ehren pfiff, und ein sanftes Lächeln glitt über sein Gesicht.
Am nächsten Donnerstag ging Primo wieder in die Trattoria zum Essen. Er konnte später nicht mehr sagen, was für eine zynische Regung ihn dazu bewogen hatte zu fragen, ob heute frische Rotbrüstchen zu haben wären. Natürlich schlug der Wirt die Hände über dem Kopf zusammen und rief: »Nein! Wo denkst du hin, Primo, es geht doch keiner mehr auf die Jagd!«
Primo hatte nicht bemerkt, dass der scharfsinnige Commissario aus San Geronimo in einer Ecke sass, ihn scharf fixierte und sich nachdenklich über den Schnurrbart strich.