Volker Kindermörder

Die ganze Schwere seines ungewöhnlichen Familiennamens fühlte er zum ersten Mal während seiner Einschulung, als er zwecks Erhalts der Zuckertüte vor alle Anwesenden hintreten musste.
Die künftige Klassenlehrerin rief - nicht ohne gewisse Scheu – den Jungen Volker Kindermörder
zu sich. Mit zitternden Händen reichte sie ihm die Tüte. Das Stimmengewirr ringsum verstummte sofort. Jeder schaute gebannt auf den Jungen, dessen Nachname nichts Gutes verhieß. Er sah zwar ganz normal aus, ein wenig hübsch sogar, vielleicht aber verbarg diese schöne Maske die Fratze eines angehenden Mordbuben. In ihm schlummerten vielleicht Gene des Vaters.
Die Blicke der Mütter und Väter glitten zu den Eltern des Jungen. Beim ersten flüchtigen Hinsehen konstatierten sie: Leute wie du und ich. Aber … - dieses Aber ließ Vermutungen schlimmster Art zu. Hatten die Kindermörder eine reine Weste? Sie waren erst kürzlich in diesen Ort gezogen. Vielleicht hierher geflohen? War ihnen die Polizei auf den Fersen? Verängstigt guckten sie nicht. Könnte gespielt sein. Wer lässt schon erkennen, dass er einen Kindermord begangen hat. In diesem Falle wäre es wohl angebracht, das eigene Kind von diesem Volker Kindermörder fern zu halten. Doch wie? Noch hatte sie das erste Schuljahr zu gemeinsamem Lernen nicht vereint.
Der kleine Volker, als er die Zuckertüte empfangen hatte, wunderte sich, dass die Hände der Lehrerin zitterten.
„Frierst du?“, fragte er sie. In diesem Alter duzen Kinder die Erwachsenen.
„Nein, nein“, erhielt er als stotternde Antwort, „es ist nur …“, - sie suchte nach einer glaubhaften Fortsetzung.
„… deine Freude, dass du mich schlau machen darfst“, ergänzte er.
Sie sah ihn dankbar an. Ihre zitternden Hände beruhigten sich etwas. Ein kluges Bürschchen, der Volker … - Sie würde ihn immer nur mit seinem Vornamen ansprechen. Bei anderen Schülern setzte sie manchmal den Familiennamen hinzu, um einer Forderung strengen Nachdruck zu verleihen.
Sie strich Volker übers Haar und bat ihn, sich zu den anderen Schulanfängern zu stellen. Da ihm ihre Freundlichkeit gefiel, sagte er: „Weil du so nett bist, schenke ich dir ein Bonbon aus meiner Zuckertüte.“
Er zog die Schleife derselben auf, griff in die Tüte und bekam eine Tafel Schokolade zu fassen. Die reichte er der Lehrerin mit den Worten: „Ich kille lieber etwas anderes als Schokolade.“
Das freundliche Lächeln der Lehrerin gefror. Er kille lieber etwas anderes, hatte er gesagt. Ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Sie wies die Schokoladentafel zurück und rief rasch als nächsten Zuckertütenempfänger Benito Eisenfraß zu sich. Kaum stand der pummelige Dreikäsehoch neben ihr, um eine übergroße Zuckertüte in Empfang zu nehmen, da meinte Volker Kindermörder, der noch neben ihr stand: „Der hat aber einen hässlichen Namen. Und vollgefressen ist er auch. Den könnte man wie ein fettes Schwein abstechen.“
Die Lehrerin glaubte, am Nordpol zu stehen, so kalt war ihr plötzlich. Ihr in Jahrzehnten erworbenes pädagogisches Geschick und Feingefühl verließ sie schlagartig. Sie wirkte hilflos.
Der dicke Benito revanchierte sich mit der Gegenbeleidigung: „Und dich müssten sie aufhängen, du Kindermörder.“
Der diesen Dialog mithörende Vater des dicken Benito, der hinzugetreten war, um die schwere Zuckertüte seines Sohnes zu tragen, raunte Volker zu: „Halt die Schnauze, du kleines Scheusal! Solltest du nur ein einziges Mal meinem Sohn ein Leid zufügen, bist du des Todes!“
„Dann bis du ein Kindermörder“, brach es aus Volker so laut hervor, dass es alle Anwesenden hörten.
Einige Mütter schlossen sofort daraus, nicht Herr Kindermörder sei der Vater des Kindes Kindermörder, sondern Herr Eisenfraß, der durch den unehelichen Sohn nun bloßgestellt war. Diese Vermutung ging rasch von Mund zu Mund und erreichte schließlich Herrn und Frau Kindermörder. Er stellte daraufhin in Zweifel, ob er der wahre Vater seines Sohnes sei. Seine Gattin schwor hoch und heilig, dass es kein anderer sei.
Als Herr Eisenfraß, der von diesen Verdächtigungen nichts mitbekommen hatte, den Knaben Kindermörder laut schalt, so etwas nicht noch einmal zu sagen, es könnte gehört werden, da wurde es allen, besonders Herrn Kindermörder, zur Gewissheit, dass Eisenfraß der Erzeuger Volkers ist.
Das Geschehen auf dem Schulhof wuchs sich daraufhin zu einem Riesenspektakel aus, in das die Polizei schlichtend eingriff, die auseinanderbrechende Ehe der Kindermörders und der Eisenfraßes aber nicht retten konnte.
 

Zeder

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