Vollmond

Akaras

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Vollmond


Mit ohrenbetäubendem Brausen erschienen die beiden teuren Rennwagen direkt vor meiner Nase. „Verflixt! Schon wieder verloren!“.
„Tja, um mich zu schlagen, musst du noch ein paar Jährchen trainieren“, meinte mein Freund Dieter.
„Wer braucht schon Training, um dich Flasche schlagen zu können? Wart’s ab, schon Morgen werde ich gewinnen. Du hattest nur einen kleinen Vorteil, weil du jede freie Minute vor deiner neuen Konsole verbringst.“
„Wenigstens kann ich mir eine leisten“, grinste Dieter provozierend.
Mein Blick glitt durch das große Zimmer meines Freundes und blieb wie von selbst an der nagelneuen Playstation 3 haften. Tss, er hatte so ein Glück, dass seine Eltern reich waren. Um mir solch ein Gerät leisten zu können, müsste ich wie jeder andere normale Mensch auch, erst stundenlang mein Geld selber verdienen. Wahrscheinlich wusste Dieter nicht einmal, wie gut er es hatte. Da! Schon wieder sah er mich so herausfordernd an. Warte nur ab. Am morgigen Tag würden wir ja sehen, ob man mit Geld auch spielerisches Geschick kaufen kann!
„Na, Lust auf einer Revanche?“, fragte Dieter spöttisch.
„Ich denke nicht, dass uns dafür noch die Zeit reicht“, entgegnete ich. „Wie spät ist es eigentlich?“
Mit einer kurzen Handbewegung entblößte Dieter seine teure Uhr. „In genau 20 Minuten ist Mitternacht.“
Was? So spät schon? „Sorry, aber ich muss jetzt schleunigst gehen. Um 11 Uhr hätte ich daheim sein sollen.“
„Wie du meinst“. Schulter zuckend wies Dieter mir den Weg zur Tür. „Beeil dich aber auf dem Weg.“ Dann fügte er noch mit einer verstellten Stimme hinzu, die anscheinend Angst einjagen sollte: „Nicht, dass dich sonst noch die Geister mitten auf der Straße holen kommen.“
Mit hochgezogener Augenbraue wandte ich mich zu meinen Freund. „Ja, und wenn ich sie dann treffe, beschreibe ich denen gerne wo du wohnst und dann sollen sie dich holen kommen!“
„Natürlich“, erwiderte er mit einem theatralischen Nicken.
Dieser Dieter! Wie kein anderer besaß er die lästige Gabe, mich jedes Mal in den Wahnsinn zu treiben! Aber über meinen teuren Freund konnte ich auch noch morgen meine Gedanken verlieren.
Hastig griff ich nach meiner Jacke, wandte mich um und öffnete die Tür. Ich wusste, dass meine Eltern sowieso schon stocksauer auf mich sein würden, doch ich wollte mir erst nicht ausmalen, wie sie erst reagieren würden, wenn ich mir noch auf dem Weg nach Hause Zeit ließe.
Sogleich stürmte ich aus dem großen Haus und rannte die Straße entlang. Nach einigen Metern drehte ich mich noch schnell um und rief dem noch an der Tür stehenden Dieter zu: „Denk ja nicht, ich hätte die Abreibung vergessen, die ich dir morgen verpassen werde“
Dieter setzte schon zu einer passenden Antwort an, doch anscheinend war ich zu weit weg von ihn und er wollte seine wertvollen Stimmbänder nicht belasten, um laut in der Gegend herumzubrüllen. So etwas wäre wohl unter seiner Würde. Deshalb nickte er mir wieder einmal nur zu und schloss anschließend die Tür hinter sich.
„Aufgeblasener Geldsack!“, murmelte ich leise vor mir hin. Dann nahm ich die Beine wieder in die Hand und machte mich eiligst auf dem Weg nach Hause, das etwa 30 Minuten zu Fuß von meinen Freund Dieter entfernt war. Wenn ich aber mein Joggingtempo beibehielt, dürfte ich schon nach kurzer Zeit auf meiner Couch liegen und mir Chips in den Rachen schiebend, Fernsehen kucken. Der Gedanke an die warmen vier Wände ließ mich leise aufseufzen. Diese verdammte Kälte! Wie Nadelstiche bohrte sich der eiskalte Wind in mein Gesicht und meine nackten Händen. Mich schüttelte es. Verflucht kalter Herbst dieses Jahr. Selbst der helle Vollmond, der die Straßen in silbernem Licht aufleuchten ließ, konnte meinen Körper nicht wärmen. „Der Vollmond und meinen Körper wärmen!“, dachte ich kopfschüttelnd. „Muss wohl die Kälte sein.“
Eigentlich dürfte ich trotzdem dem Mond dankbar sein. Ohne ihn würde ich wahrscheinlich wie ein Maulwurf durch die Gegend torkeln, denn um diese Uhrzeit waren alle Lichter erloschen und die Straßenlaternen haben schon seit langer Zeit den Geist aufgegeben. Geist. Warum musste ich jetzt auf einmal an so etwas denken? Das machte ich doch sonst auch nie. Wieder gab ich der Kälte und meinen Freund Dieter die Schuld. Solang ich aber daran dachte, umso unheimlicher wurde es um mich herum. Da! Hat sich dort drüben nicht etwas bewegt? Wahrscheinlich war das nur eine umherstreunende Katze oder ein im Wind segelnder Ast eines Baumes. Jetzt ertönte auch noch ein leises Knacken. Etwas Panik ergriff mich. Diese Äste und Katzen trieben mich noch in den Wahnsinn! Um sicher zu gehen beschleunigte ich ein wenig mein Tempo. Die Hälfte meines Weges hatte ich schon erreicht. Der Rest sollte auch ein Kinderspiel sein.
Nun ging es etwas steiler die Straße hinauf. Diesmal war es Vogelgezwitscher, das mich laut aufatmen ließ. Ein Stechen machte sich in meiner Lunge breit. „Mist, ich hätte das Lauftraining in der Schule ernster nehmen sollen“, dachte ich. Schwer atmend lehnte ich mich gegen eine der der kaputten Laternen. Müde musste ich lächeln. „Na ja, wenigstens ist es mir jetzt nicht mehr kalt. Mein Haus ist auch nicht mehr weit weg. Schon bald würde mir angenehme Wärme entgegenströmen und falls das nicht reicht um mich aufzutauen, dann stell ich einfach die Heizung ...“ Ein grässlicher Schrei schreckte mich aus meinen Gedanken. Ängstlich drehte ich mich um. Etwa 100 Meter von mir entfernt, konnte ich eine graue Gestalt erkennen. Sie war nicht mehr als ein bloßer Schatten aus dieser Entfernung. „Wenn doch nur diese dämlichen Lichter gehen würden!“, fluchte ich. Erneut ertönte dieses grässliche Geräusch. Wie das Jaulen eines Hundes, dachte ich. Beim Klang dieser Töne lief mir eiskalt ein Schauer über dem Rücken. Auf einmal verstummte das Geheul. Es sah so aus, als würde diese Gestalt seinen Kopf nach oben drehen, um nach etwas zu wittern. Mein Herz setzte kurz aus. Es sah in meine Richtung! Noch einmal stieß diese Gestalt einen fürchterlichen Laut aus. Plötzlich stürmte es auf mich zu. „Verdammt!“ All mein Seitenstechen vergessend spurtete ich los. Ich wollte mir nicht ausmalen, was diese Kreatur mit mir anstellen würde, wenn sie mich eingeholt hat. Schneller! Nun sprintete ich in meinem höchsten Tempo. Eilig warf ich einen Blick nach hinten und durch die Nähe dieser Kreatur wurden nun all meine Befürchtungen bestätigt. Ein Werwolf verfolgte mich! Auf allen vieren raste es auch mich zu. Grässliche Schnaufgeräusche erklangen aus seinem großen Maul. Seine spitzen langen Zähne schimmerten abscheulich hell im Licht des Vollmonds. Die schwarzen Krallen an den Pfoten waren so scharf, dass er beim Rennen leichte Spuren am Boden hinterließ. Schon bald würde er mich erreicht haben. Dort drüben ging es nach rechts! Fieberhaft bog ich ab. Ein kleiner, rot brauner Kamin ließ neue Hoffnungen in mir wecken. Nur noch weniger als 20 Meter von mir entfernt, an der rechten Seite der Straße, stand mein Haus. Ich wagte es nicht nach hinten zu Blicken. 10 Meter. Ich war nun so schnell, dass ich schon beinahe über meinen Beinen gestolpert wäre. 5 Meter. Nur noch ein bisschen! 2 Meter. Geschafft! Wie wahnsinnig drückte ich auf die Klingel und hämmerte gleichzeitig mit der anderen Hand auf die Tür ein. Wieso dauerte es so lange? Dann überkam es mich. Wie kann man nur so dumm sein! Mit meiner flachen Hand schlug ich mir auf den Kopf. Meine Eltern waren heute gar nicht zu Hause! Sie sind fort gegangen zu irgend so einer Party von einem Freund. „Was mache ich jetzt nur!“ Verzweifelt kramte ich in meinen Hosentaschen nach dem Schlüssen. „Bitte lass ihn da sein.“ Doch da war er nicht. „Mist, Mist, MIST!“ Hektisch schaute ich unter dem Teppich. Auch nichts. Die Vase! Mit einem schnellen Tritt stieß ich eine bunte Vase, die vor der Tür stand um und griff nach dem Schlüsseln, der nun unter den Scherben lag. Mit zittrigen Fingern stieß ich ihn in das Schlüsselloch und drehte ihn um. Verdammt, falsche Richtung! Und nun klemmte er auch noch! Moment mal! Müsste dieses Biest mich nicht schon längst eingeholt haben? Bebend blickte ich nach rechts auf die Straße und... atmete rasch wieder aus. Da war niemand. Ich musste ihn wohl abgehängt haben. Wie von selbst drehte mein Kopf sich nun nach link. Zwei eiskalte braune Tieraugen starrten in meine. Meine Nase wurde durch einen ekelerregenden Geruch verstopft. Eine riesige graue Mähne verspähte mir jegliche Sicht. Vor mir stand der Werwolf.
Mit einem verzweifelten Schrei drehte ich mit einem Ruck den Schlüssel herum, stieß die Tür auf und schlug sie wild hinter mich zu. Eilig spurtete ich zu jedem Fenster und ließ sie mit einem lauten Knallen schließen. Völlig verausgabt brach ich in Knien zusammen. Ich konnte es nicht glauben. Ich lebte! So schwach wie ich war zwang ich mich in mein Zimmer und ließ mich todmüde auf mein Bett fallen. Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf. War das wirklich ein richtiger Werwolf? Wieso musste gerade mir so etwas geschehen? Was hätte es mit mir angestellt, wenn ich nur einen Augenblick länger gezögert hätte? Ein Schaudern durchlief meinen Körper. Mit dem Versuch an etwas anderem zu denken, wandte ich meinen Blick auf dem Kalender... und mit einem Schlag stimmte ich in brüllendes Gelächter ein. Wie blind ich doch nur war! Es war der 31.10! „Heute ist Halloween!“
Mit einem trägen Lächeln im Gesichte knipste ich das Licht aus. Wahrscheinlich war das wieder dieser Dieter gewesen unter dem Kostüm und wollte mir Angst einjagen. Sähe diesem reichen Wichtigtuer nur ähnlich.
Nun konnte ich beruhigt schlafen. Werwolf. Pah! Schon nach wenigen Sekunden fielen mir die Augen zu.


Schweiß gebadet wachte ich auf. Ein letzter Gedanke schwebte in meinem Kopf, der mich schon die ganze Zeit, seit dem Eintreten in das Haus plagte.
„Wie hat er nur das mit den Krallen gemacht?"
 



 
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