Vollmondnacht

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CoConut

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Es war dunkel im Zimmer. Der Mond die einzige Lichtquelle. Ich wollte es nicht sehen. Nicht die Sammlung von Stofftieren, fast vergessen in einer Ecke, auch nicht die Schwimmpokale auf dem Regal, die Ihm gehörten. Wie weit lag das zurück? Leise und gleichmäßig hörte ich Ihn atmen. Ein...aus....ein...aus. Wir berührten uns nicht, doch Er war nah genug, dass ich Seine Wärme spürte. Nah genug, dass ich mich mit Ihm verbunden fühlte. War es richtig, dass gerade ich es war, die in diesem Moment bei Ihm sein konnte? Genau so gut hätte es Mutter sein können. Noch vor einiger Zeit war sie hier gewesen, hatte Ihm aus dem Buch mit den Geschichten vorgelesen, die Er so liebte. Das gleiche jede Nacht. Er wollte auf die höchsten Berge steigen, in den Tiefsten Meeren tauchen, der Held sein, der die Welt rettet und den Feind austrickst. Jede Nacht. Ob Er in diesem Moment von einer dieser Geschichten träumen mochte? Ich war mir sicher, dass es Seine Absicht gewesen war. Niemand aus der Familie verstand, warum Er in dieser Zeit seine Leidenschaft für das Immergleiche entdeckte, warum Er sich nicht aufmachte, die Welt zu erkunden, warum Er jeden Morgen Haferbrei aß, und nicht Vanilleeis zum Frühstück, für Seine Prüfungen nach den Ferien lernte und still um die Häuser zog. Warum Er allein schlafen wollte, in Seinem Zimmer, in Seinem Bett. Jede Nacht. Jede Nacht, bis auf diese, in der Er mir nur mit den Augen die Erlaubnis gab, ich nur mit den Augen einwilligte. In dieser Nacht berührten wir uns nicht mehr. Mein Name war das einzige, was über Seine Lippen kam. Fragend, forschend. Als wollte Er wissen, ob ich noch neben Ihm Läge, auf der Blauen Matratze, ob ich nicht etwa gegangen war. Gehen? Ich? Nein, mich hielt Er fest wie alles andere, dass Er schon so lange festhielt. Von diesem war ich ein Teil und es war ein Teil von mir. Ja, ich brauchte Ihn, und Er brauchte mich. Mein Verlangen, Ihn anzusehen, wurde übermächtig. Nein, ich durfte ihm nicht nachgeben, musste mich mit der Vorstellung zufriedengeben. Sein feines blondes Haar, dass immer, sicher auch jetzt, ein wenig zerzaust war. Das rundliche, dennoch kleine Gesicht. Klein war alles an Ihm, kaum hatten die neun Jahre Seines Lebens Spuren an ihm hinterlassen. Nicht innen, nicht außen. Noch war Seine Haut zart wie die eines Kleinkindes. Seine Haut, die ich jetzt nicht mehr berühren würde. Nicht heute, dachte ich, doch es fühlte fehlerhaft an, wie ein Puzzleteil, dem Ecken und Kanten fehlten. In Gedanken fuhr ich mit meinen Fingern Sein zartes Profil entlang, zuerst Seine Stirn, dann über Seine leicht nach innen gewölbte Nase, bis hinunter zum Kinn. Eine Geste, die uns beide so lange begleitet hatte, dass ich nicht mehr wusste, was ihr Ursprung gewesen war. Er war mir entfallen. Würde mir irgendwann auch das Lächeln entfallen, mit denen Er meine Berührungen, meine Worte, meinen Trost erwiderte? Seine Stimme in meinen Ohren? Seine Hand an meiner? Noch wusste ich keine Antwort. Ein...aus... ein...aus. Die Augen konnte ich nicht öffnen. Zu schwer und zu ruhig fühlte sich mein Körper an, wie aus Blei. Ich konzentrierte mich auf meinen eigenen Atem, versuchte, mit Ihm zu atmen, aber schon bald gab ich dieses Spiel auf. Fast hatte ich vergessen, dass ich hier war, um zu schlafen, natürlich nicht schlafen durfte, nein. Das Wachbleiben fiel mir trotz der Müdigkeit, die sich von den letzten Wochen in mir gesammelt hatte, nicht schwer. Diese war keine dieser quälenden schlaflosen Nächte, nein, sie war ein Geschenk, wie es jeder Moment an Seiner Seite für mich geworden war. Doch auch diese Nacht würde bald hinter uns liegen. Wie spät mochte es sein? Drei Uhr, vier Uhr? Seltsam, wie man in manchen Momenten jedes Zeitgefühl verliert. Doch das war mir gleich. Stunden, Minuten, Sekunden hatten unsere Welt längst verlassen, Augenblicke blieben. Vielleicht, weil wir wussten, dass Zeit nicht mehr existierte. Nein, Zeit spielte keine Rolle mehr. Es war zu still. Das atmen hatte aufgehört. Unspektakulär, und doch erbarmungslos. Meine Ohren hörten es, wenn sie es denn hören konnten: die Stille. Ich verbot ihnen, sie meinem Verstand zuzutragen, sie zu realisieren, schaltete mein Denken ab. Denken wollte ich noch nicht, denn Nichts hatte sich geändert, und nichts würde sich ändern, solange wir so lagen, ich neben Ihm, Er neben mir, auf der blauen Matratze. Wenn der Sonnenaufgang nahte, wenn Mutter und Vater langsam aufstanden, wenn ich die Augen öffnen musste, das wusste ich, würde ein neues Leben für mich beginnen. Doch jetzt würde ich noch bei Ihm bleiben, Seine Wärme spüren, mein Inneres verschließen und den Schlüssel in tiefe Meere sinken lassen, viel tiefer als die Meere, in denen Er in seinen Träumen tauchte. An nichts denken, nicht an morgen, nicht an übermorgen. Jetzt. Jetzt war es dunkel im Zimmer. Der Mond die einzige Lichtquelle. Vollmond.
 



 
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