Vom Alleinsein und der Einsamkeit des jungen Laurin.

pleistoneun

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Wo waren noch die Notenblätter? Hastig kramte er alles Notenblätterwerk durch und fand dann das gesuchte Stück. Schnell stimmte er ein Lied an, zur Unterhaltung, zur Berieselung der anwesenden Gäste, die wieder wenig applaudierten und wenig Interesse an seiner Kunst zeigten. Sein junges Musikerlos spiegelte sein Lebenslos, das er gezogen hatte. Er wäre lieber arbeitslos gewesen, aber Laurin war hineingeboren in eine Komponisten- und Musikerfamilie und er war ein Sohn, dessen Berufsweg bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt vorgezeichnet war: nämlich das Ebenbild des stolzen, heroischen Chellisten.

In vielen einsamen Stunden quälte sich Laurin mit seinem Chello unter den strengen Augen seines Vaters, der alle Freizeit und Pausierung in der Kindheit nur dem Laster und der Untugend zuschrieb. Keine freie Minute wurde dem kleinen Laurin gewährt. Wundgespielte Kinderfinger tasteten sehnsüchtig die lauwarmen Fensterscheiben an freundlichen Frühlingstagen und zeigten auf spielende Jungen und Mädchen, die nicht eingesperrt in ihren Kammern ihre Talente schärfen mussten. Laurin hatte keine Freunde, die ihm von der Welt da draußen erzählen könnten. Niemand stand ihm tröstend zur Seite, wenn er von dieser schweren Last geknickt in seiner Stube saß und jämmerlich sein Schicksal beweinte. Er war so allein. Er wünschte sich einen Begleiter, der immer an seiner Seite war und ihn verstehen würde. Und nichts schien ihm besser, als sein Chello, denn beide verband dasselbe Leid. Der kleine Laurin begann mit seinem kleinen Chello zu sprechen. Sie erzählten sich erfundene Geschichten über Welten, die bunt waren, in denen Frösche quakten, weißen Wolken, Blumen dufteten und einzig das laute Lachen lebensfroher Menschen von den rauschenden Wasserfällen mit den lustigen Fischen ablenkte. Eine Welt, die auch in Wirklichkeit existierte, die er aber niemals zu sehen bekam.

Als sein herzloser Vater diese "Hirngespinnste" eines Tages bemerkte, wurde Laurin umgehend in ärztliche Betreuung gegeben. Starke Medikamente sollten ihn schnellstens kurieren, damit er auch gleich wieder üben kann. So war es auch. Geschwächt saß er in seinem Kämmerlein auf seinem abgenutzten Stuhl und streichte wieder stundenlang sein Chello. Es kratzte und krächzte, verlor seine Stimme, wurde wieder zu einem gewöhnlichen Instrument, wurde wieder zum Feind, zum verhassten Feind.

Er war wieder allein.

Das Stück spielte er an diesem Abend mäßig, wie immer nur sehr mittel-mäßig. Im Gehen schon begriffen, wandte er sich nochmal um, denn der schlechten Welt kehrt man nicht ohne Stolz den Rücken. Er ging nach Freitod, wo ihn ein prächtiger Chor aus Engel aufs Freundlichste empfing. Das Sterben hielt Laurin, kaum vierzehn Jahre alt, für die schönste Art zu leben, besser als der dumme Musiker zu sein, viel besser als nur ein Gegenstand zu sein, und noch viel viel besser als Vaters Sohn zu sein. Kein Wort verlor Laurin am Tag seines Abschieds, denn er meinte, seine Art das Chello zu spielen hätte dem Zustand seiner grenzenlosen Einsamkeit mehr als genügend Ausdruck verliehen.


"Das Mittel wurde nie zum Zweck für ihn,
einzig nur durchs Volk verlieh´n,
was viele Jahre im Verborg´nen glühte,
und durch Vaters Hand gewollt verblühte.

Mit Freunden lachen können wollt er
doch trug in einer Hand die Folter,
die schicksalhaft ihm jeglich Glück verwehrte,
und ihm letztlich sogar das Sterben lehrte.

Die Einsamkeit, die hier Laurin erlebt,
sich über geist´ge Grenzen weit erhebt,
die grenzenlos uns mag erscheinen,
bringt den Geist dann nur zum Weinen.

Aber wo die Flucht vor Irrsinn und der Welt gelingt,
wo das Quälerische in sich selbst versinkt,
und wo kleines Recht auf Lebewohl besteht,
das ist dort, wo Laurins neues Leben steht."
 



 
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