Vom Elend des Interpretierens

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Odilo Plank

Mitglied
Im Traum hörte ich eine mir völlig unbekannte Bach-Arie. Die Sopranistin gestaltete in immer neuen wunderbaren Figuren die Worte „O Jesu Christe, schönes Licht“.
Das Kontinuo hielt Abstand im tiefsten Cembalobass, die Notenwerte strikt beachtend, so dass ein die perlende Stimme verhöhnendes schnarrendes Geklapper ertönte.
Das Publikum zischelte empört, und ich rang um eine Erklärung, die ich den Leuten mitteilen wollte.
Im Traum jedoch brachte ich nur ein schreckliches Lispeln hervor. Die wunderbare Arie wird mir bald verklungen sein.
Das „schöne“ Licht sollte gepriesen werden. Die Musik verfolgte eine Spur, die sich aufzulösen drohte.
Gehört zum Jubel der Stimme die klappernde Angst? Gewiss, es klingt schön, was ich zu singen habe; aber passt auf, es ist noch nicht meine Wahrheit; es ist vielleicht ihre Spur?
Und ich bringe, vielfach behindert, den vergehenden Traum zu Papier.
 
S

suzah

Gast
hallo odilo plank,
ein interessanter text.

"Das Kontinuo hielt Abstand im tiefsten Cembalobass, die Notenwerte strikt beachtend, so dass ein die perlende Stimme verhöhnendes schnarrendes Geklapper ertönte."

ich verstehe nicht ganz, warum "schnarrendes geklapper".so klingt eigentlich kein cembalo, es sei denn, das instrument ist nicht mehr voll funktionsfähig. es ist natürlich schwer, den kontrast zu der perlenden stimme zu beschreiben - und im traum ist alles möglich.

liebe grüße suzah
 

Ternessa

Mitglied
Ein sehr schön gelungener Text und eine auch sehr gelungene Metapher zum Thema Interpretieren.

Und so ist die Wirklichkeit.
 

Odilo Plank

Mitglied
@ suzah,
@ Ternessa, @ nachts,
danke für die Beachtung! Der Ursprung des Textes war tatsächlich ein Traum. Gerade weil ich das Cembalo so liebe, sauste ich mal wieder nachts an den Schreibtisch; aber Traumdeutungen schreibe ich nie.
Herzliche Grüße! Odilo
 



 
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