Vom harten Leben des Nachtschwärmers

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Gonzo

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"Wer begehrt, aber nicht handelt,
brütet die Pest aus."
- William Blake


Die gelbe Scheibe peitscht uns unaufhaltsam durchs Leben,
ihr Schatten ist ein Vakuum zwischen den Tagen,
ein nichts aussagender Platz, an dem nichts passiert, nichts voran geht, sich nichts verändert,
und in dem seine wenigen Bewohner im Nichts tanzen,
im Exil vor den schmerzenden Hieben des Lebens kauern,
die unter der brühenden Hitze auf der anderen Seite des Planeten ausgeteilt werden.

Die Sonne geht auf. Licht. Die Sonne geht unter. Dunkelheit.
Die Menschen stehen auf. Die Menschen legen sich schlafen.

Es scheint, als ob sich dieser rote Faden seit Jahrtausenden durch sämtliche menschliche Leben gezogen hat. Doch irgendwann nach Edison kam der Bruch.

Der Fernseher läuft. Licht. Die Jalousien bleiben unten. Licht.
Der Bart wächst. Der Bauch wächst.

Die Technik ist nicht mehr dazu da, unser Leben zu vereinfachen,
nein,
sie ist das Joch, das uns vom Leben abhält.

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Hoffentlich ist es nichts Ernstes, denkt er, und saugt den blauen Dunst gierig in seine Lungenflügel. Mit leeren Augen starrt Dirk auf das sich bewegende Bild im Fernseher. Nein, denkt er sich, an so etwas darf man gar nicht erst denken, das bringt einem nichts, man macht sich erst Gedanken, wenn man es vom Arzt klipp und klar gesagt bekommt.
Seine Hände beginnen zu kribbeln und ein plötzlicher Schwindelschub schießt etwas Mageninhalt die Speiseröhre hinauf, wird allerdings kurz vor der Mundhöhle abgebremst.
Dirk steckt sich die Zigarette zwischen seine wulstigen Lippen, hievt seinen korpulenten Körper aus dem Sofa und zieht aufgebracht immer gleiche Bahnen durch das kleine Zimmer. Nicht schon wieder, denkt er sich, dieses Herumsitzen macht mich noch verrückt. Ein kalter Schauer läuft ihm über den Rücken.
Aber was kann man schon machen, denkt er sich, da kann man nichts machen, den Einen erwischt's früher, den Anderen später, das kann man sich nicht aussuchen. Onkel Karl hat vierzig Jahre lang 'ne Schachtel Marlboro am Tag vernichtet und gesoffen wie ein Irrer, wurde 91, und der gute Rob Goris fällt einfach so um, Herzinfarkt, und das mit 30.
Dirk spürt die Adern in seinem Hals pulsieren. Ein unsichtbares Band scheint ihm langsam den Atemweg zuzuschnüren. Kein Herzinfarkt, bloß kein Herzinfarkt, ganz ruhig. Dirk bleibt stehen, saugt seine Lungen voller Luft, und pustet sie langsam in den Raum zurück. Komm schon, komm schon, denkt er, irgendwas muss der Voodoo bei der Therapie doch gebracht haben. Sein Herz trommelt immer stärker gegen den Brustkorb und lässt den Kloß im Hals weiter anschwellen.
Dirk eilt in die Küche, reißt den Kühlschrank auf, beißt den Korken von der Weinflasche und trinkt hastig. Cool bleiben, denkt er, cool bleiben. Am Ende ist's gar nichts, dann hat man sich umsonst verrückt gemacht. Das süße Gift schießt durch seine Venen und fällt langsam wie ein warmer Schleier vor seine Augen.
Und das soll's jetzt gewesen sein, denkt er, das war's? Schon komisch, was man als Kind so für Träume hatte; mit 27 wie Indiana Jones in Ägypten Schätze jagen, rote Cabriolets fahren, und an Omas Geburtstag von den Abenteuern als Weltenbummler erzählen.
Schluck für Schluck verliert sich das Gewitter in seinem Kopf zu einer sanften Brise. Dirk setzt ab und holt tief Luft. Der Kloß scheint weggespült zu sein. Auch der aufgebrachte Paukenschläger in seinem Brustkorb hat sich beruhigt, und begleitet das Geschehen nun mit gemächlicheren Rhythmen. Als Kind hat man schon eine blühende Fantasie, denkt sich Dirk. Er nimmt sich ein Bier und schließt die Tür. Kinder! Dass ich nicht lache, denkt er sich.

Seufzend taumelt Dirk zurück ins Wohnzimmer, lässt sich ernüchtert in sein Sofa fallen, und zündet sich eine weitere Zigarette an. Zeiten ändern sich, denkt sich Dirk, während er den Raum mit Rauch und Grübeleien füllt.
Schon bald beginnt sich der Vogelgesang von draußen auch in seine Wohnung zu schleichen. Ein neuer Tag bahnt sich an, und Dirk beäugt ihn skeptisch durch die Jalousien seines Fensters. Wie lange das jetzt schon so geht weiß er selbst nicht mehr, er kann die vielen Nächte und anbrechenden Morgen nicht mehr zählen. Der Rausch der Nacht wurde irgendwann zu einer Sucht, ein irreversibel verdrehter Schlaf-Wach-Rhythmus, geködert von der friedlichen Leere, die ihm in jeder Hinsicht lieber als das hektische Treiben der unzähligen Ameisen da unten ist. Was andere zwischen neun und 22 Uhr erledigen, aufstehen, Kochen, Zeitung lesen, putzen, erledigt Dirk eben im Mond- statt Sonnenschein. Der Wecker klingelt, wenn sich die anderen schlafen legen, der Tag endet, wenn die ersten Sonnenstrahlen die restliche Welt wach kitzeln.

Er greift sich das kleine Fetzen Papier vom Couchtisch, auf dem Do, 28.05., 8.00 Uhr gekritzelt steht. Dr. med. Kawalski – Der Dermatologe Ihres Vertrauens. Dass ich nicht lache, denkt sich Dirk. Er nippt ein letztes Mal an seinem Bier, schnürt sich ein Paar Schuhe um die Füße, und taumelt ins Erdgeschoss hinunter.
Wenigstens die Welt da draußen scheint sich ja nicht sonderlich verändert zu haben, denkt er sich, als er zögerlich die Straße abwärts Richtung Innenstadt watschelt und die ungewohnte Umwelt begutachtet. Unter dem gelben Haar der Sonne winken einige Männer in Anzügen nach einem Taxi, und es riecht nach nasser Wiese und überfüllten Mülltonnen.
Nur noch wenige hundert Meter, denkt sich Dirk, bis zum roten Backsteinhaus, der Krähe an der Rezeption, und Doktor zerzaustes Haar, der bestimmt gerade mit der Brille auf der Nasenspitze und Oberlehrerblick die Wahrheit über mein restliches Leben erfährt.

Und was wäre wenn es so ist? Was würde passieren wenn... Die Leute... Dirk ist in die Falle getappt. Verbissen versucht er, seinen entrissenen Gedankenstrom wieder unter Kontrolle zu bringen, doch ein falsches Bild, nur ein falsches Gedankenkörnchen hatte genügt, um einen Schneeball loszutreten, der sich unaufhaltsam zu einer bebenden Lawine heran frisst. Er liegt zwischen den ganzen Leuten am Boden, Herzinfarkt, Hirnschlag, Schwächeanfall, irgendwas, wieso hat er die Anzeichen denn nicht erkannt, würden sich die Menschen um ihn herum fragen. Dirk versucht sich abzulenken, doch die verführerischen Bilder seines Kopfkinos tänzeln unaufhörlich vor ihm herum, wachsen mit jeder Sekunde immer mehr zu einer bebenden Naturgewalt an, die so mächtig und gierig ist, dass sie ihn jeden Augenblick zu verschlingen droht.
Dirk wird speiübel. Er beginnt immer mehr nach Luft zu schnappen, aber die Befriedigung nach Sauerstoff bleibt bei jedem Atemzug aus. Ganz ruhig, denkt er, ich geh' da einfach rein, lass mir sagen dass ich gesund bin, und der ganze Spuk hat ein Ende. Fürchterliche Bilder schießen vor Dirks Augen. Ganz ruhig, denkt er, einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, alles ist gut, das sind bloß die Nerven, redet er sich ein, ohne seinen eigenen Worten Glauben zu schenken.
Dirk lässt sich auf einer nah gelegenen Bank nieder, schließt die Augen, und beginnt um die Herrschaft seines Körpers zu ringen. Ganz ruhig, denkt er, easy. Wenn man den Teufel ganz am Anfang zu packen kriegt, weiß er, dann hat man die besten Chancen; schenkt man seinem paranoiden Geschwätz Glauben, verbringt man den Tag zusammengekauert im Bett. Deswegen cool bleiben, denkt er, cool bleiben.

Ein schrilles Pfeifen reißt ihn aus seinem Film. Vor dem La Musica auf der anderen Straßenseite steht ein Mann in Jeansoutfit und fuchtelt aufgebracht mit seinen Armen umher.
"Dirk, Dirk!" Es ist Dirks alter Kumpane Kurt. Okay, jetzt bloß nichts anmerken lassen, denkt sich Dirk, steht auf, und taumelt auf die andere Straßenseite.
"Ach Gott Dirk, altes Haus!"
"Hi Kurt."
Kurt scheint äußerst gut gelaunt zu sein, er saugt hastig an einer Zigarette, und auf seiner Elvisfrisur glänzt die Morgensonne.
"Ich wusste es! Ich wusste es!" Aufgebracht deutet er auf Dirks Gesicht.
"Hä... was wusstest du?"
"Na dass du's bist. Hab' dich ja schon ewig nicht mehr gesehen! Hab' gedacht du hast dich umgebracht! Aber das warst nicht du, oder?"
"Ne, das war ich nicht."
"Ja stimmt das war... Dennis oder so. Dennis aus Wummerstedt. Der von der Yellow Bird Power, glaube ich."
"Keine Ahnung, nichts davon gehört."
"Mmmhh..."
Eine peinliche Stille schleicht sich zwischen die beiden.
Kurt nimmt einen letzten tiefen Zug, und schnippst die Kippe gekonnt auf die Straße. "Was hast'e denn da für 'n riesiges Pflaster am Hals?" Neugierig beugt sich Kurt etwas nach vorne, und beäugt den Fremdkörper.
"Ach das, das ist nichts. Nur 'ne kleine Schnittwunde."
"Ach so. Hey, kommst'e mit auf'n Kaffee, ich zeig dir mal meine Abteilung, und so!"
"Mhh, ich habe eigentlich noch was vor, weißt du..." Dirk wippt zögerlich auf dem Gehsteig und sucht verzweifelt nach einer Ausrede, will den Arzt aber nicht ins Spiel bringen. "Egal. Klar."
Das Grinsen kehrt in Kurts Gesicht zurück, und er stolziert vor Dirk durch die Pforten der La Musica.
Die beiden sitzen auf Hockern, schlürfen Kaffee, und blicken auf die unzähligen Gitarren, die an den Wänden hängen.
"... und dann sind wir, ha ha, so schnell wie's ging aus dem Schuppen abgehauen, sind in den Bus gesprungen, und die Straße weiter nach Lyon gefahren, immer mit der Angst im Nacken, der Veranstalter kriegt uns, und reißt uns den Arsch auf, ha ha!"
Dirk hört Kurts Geschichten über das Leben auf Tour nur halbherzig zu. Und das soll's gewesen sein, denkt er sich, das war's? Wer weiß ob ich nächstes Jahr, nächste Woche noch leben werde? Ob das mein letzter Sommer ist? Wer weiß, was der Arzt mir sagen wird? Hautkrebs? Bösartig? Metastasen? Wie lange werde ich dann noch haben? Ein halbes Jahr? Eins? Und jetzt hocke ich hier 'rum, denkt sich Dirk, mit diesem Affen, und höre mir Geschichten aus einem anderen Leben an, das müssten eigentlich meine Geschichten sein, aber was habe ich zu erzählen, gar nichts, ich war seit Monaten nicht mehr draußen, mein Bruder bringt mir einmal die Woche die Einkäufe, ich stehe um 22 Uhr auf und gehe um sechs Uhr schlafen, und den letzten Sex hatte ich vor drei Jahren.
Sein Gesicht glüht, und der aufgebrachte Herzschlag scheint alles zum Vibrieren zu bringen. Dirks ganzer Körper beginnt zu beben, seine Hände zittern und er wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich diesen stickigen Raum zu verlassen.
"Dirk? Alles klar?" Dirk zuckt zusammen, und die Traumblase zerplatzt.
"Ja. Klar. Sorry."
"Also was hältst du von ihr?" Kurt hält Dirk eine rote Gitarre entgegen und lächelt erwartungsvoll.
"Öhm, ja, das ist ja echt nett gemeint Kurt, aber ich sollte jetzt gehen."
"Mhm. Ok." Kurt blickt enttäuscht auf die Gitarre hinunter und spielt ein paar traurige Töne.
Die beiden stehen auf und geben sich die Hand.
"Hat mich echt gefreut, Dirk. Meld' dich mal wieder, dann lassen wir die alten Zeiten wieder aufleben!"
"Mache ich. Danke für den Kaffee."
Kurt verschwindet pfeifend im Hinterzimmer. Dirk verlässt das Geschäft. Die plötzliche Helligkeit lässt ihn kurz erblinden. Er reibt sich die Augen und bleibt stehen.
Und das soll's jetzt gewesen sein, denkt er sich, gleich erfahre ich dass ich bald Tod sein werde, und ich verkrieche mich jetzt wieder hinter den Jalousien, und warte darauf, dass ich verrecke? Das war's? Und Kurt, Dennis, alle, die können mal am Sterbebett aufzählen was sie erlebt haben, die hatten ein Leben, und ich? Ich war einmal in irgend einer C-Klasse Band, das war's, mehr ist da nicht, ich wurde geboren und bin gestorben. Ende. Das soll's gewesen sein?
Adrenalin schießt durch Dirks Venen, pumpt Tränen in seine Augen, und der Stein in seinem Hals schreit danach, ausgeheult zu werden. Scheiße nein, denkt er sich, nein!, so war das niemals geplant, so wollte ich es nie haben! Wie ist es eigentlich so weit gekommen? Irgendwie ist doch alles schief gelaufen, denkt sich Dirk, aber sei's drum, egal, die Hauptsache ist doch, dass ich lebe! Dann sterbe ich eben morgen, denkt er sich, irgendwann müssen wir wohl alle sterben! Dirk spürt den Puls in seinen Armen pochen und ein plötzlicher Schwindelschub lässt die Welt um ihn herum aussehen, als wäre er gerade aus einem Karussell gestiegen.
Er taumelt zurück ins La Musica, sucht nach der roten Gitarre, trägt sie keuchend zur Kasse, und bezahlt mit Kreditkarte.
Er geht nach draußen, bleibt stehen, schließt die Augen, und spürt die heiße Sonne auf seiner Haut brennen, hört den Trommler in seiner Brust verzweifelt gegen die Wand hämmern, hört die leisen Stimmen in seinem Kopf vom kommenden Untergang flüstern, sieht wie Lichtkleckse vor seinen Augen umher tanzen, atmet tief ein - Sommer, Blumen, Asphalt - und lässt die Luft langsam zwischen seinen Lippen entweichen. Ein breites Grinsen schleicht sich in Dirks Gesicht. So muss sich das Leben anfühlen, denkt er sich.
Mit der Gitarre auf dem Rücken geht Dirk einige Meter, bis er den neuen Bücherladen auf der anderen Straßenseite bemerkt. Seine pompöse Glasfassade zieht ihn magisch an.
Beflügelt steuert Dirk den Eingang an. Lesen, denkt er sich, das wollte ich schon immer mal machen, ich meine so richtig lesen, alles lesen was man mal gelesen haben muss, Sartre, Kafka, Goethe, alles, denkt er sich. Er läuft durch die Regale und greift sich alle Bücher, die ihn irgendwie ansprechen, taumelt völlig überladen zur Kasse und zahlt den Berg mit Kreditkarte. Mit drei großen Taschen und der Gitarre auf dem Rücken strahlt Dirk aus dem Laden. Er kichert vor sich her, und einige Leute werfen ihm schiefe Blicke zu.
Schweißperlen laufen ihm über das Gesicht und saugen sich nach langer Reise in den Kragen seines T-Shirts. Ja, denkt er sich, so muss sich das Leben anfühlen!
Dirk schwankt weiter durch die Straßen der Innenstadt. Aus dem anfänglichen Kichern entwickelt sich immer mehr ein lautstarkes Lachen. Dirks Kopf hat einen ungesunden Rotton angenommen, sämtliche Adern quillen unter der verschwitzten Haut hervor, und in seinen gläsernen Augen sammeln sich immer mehr Tränen an, ehe sie sich ihren Weg über das Gesicht bahnen. Dirk stolpert, gerät ins Taumeln, einige Bücher kullern aus seinen Taschen, Leute deuten entsetzt auf ihn. Dirk schwankt ein paar Meter weiter, und knallt schließlich gegen den Boden. Flüssigkeit schießt aus seinem Mund heraus, und einige der umher liegenden Bücher sind in der direkten Schusslinie. Aufgebrachte Menschen kommen zu Dirk geeilt, und versammeln sich um ihn herum. Es wird schwarz vor seinen Augen. Ja, denkt er sich, so muss sich das Leben anfühlen.
 



 
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