Vom kleinen, grauen Stein am großen blauen See.

Marla

Mitglied
Vom kleinen, grauen Stein am großen blauen See.


Es war einmal ein kleiner, grauer Stein, der lag seit langer, langer Zeit am Ufer eines großen, blauen Sees. Der Stein war unermeßlich alt und er hatte viel gesehen. Er kannte jede Jahreszeit am See, denn er war seit Urzeiten dabei gewesen, wenn sich im Frühling gewaltige Wassermassen aus den Bergen herabstürzten, den See anschwellen ließen und den kleinen Stein umherwirbelten, bis er schließlich wieder am Ufer zu liegen kam. Er kannte den Sommer am See, wenn die Sonne heiß vom Himmel hinabbrannte und den ganzen, großen See glitzern und blitzen ließ, als sei er mit tausend Diamanten besetzt. Er liebte die hellen Mondnächte, wenn in den Uferwiesen die Grillen ihr Lied sangen, und alles so warm und lebendig war. Dann hörte er all den zahlreichen Tieren zu, er wußte von ihren Sorgen, sah sie kommen und gehen und hatte, obgleich er sich ja niemals vom Fleck rühren konnte, teil an ihrem Leben. Der kleine Stein war`s zufrieden. Er mochte auch den Herbst, wenn all die Bäume so fröhlich bunt wurden und die Blätter lustig im Wind tanzten. Selbst die dunklen Tage liebte er, wenn Sturm und Regen über ihn hinwegtosten, der See aufgewühlt und wild war. Ganz grün schien er dann und in manchen einsamen Nächten tanzten winzige leuchtende Wasserhexen auf den hellen Schaumkronen der Wellen. Der kleine graue Stein sah all diese Dinge und vergaß sie niemals wieder, sondern bewahrte sie ganz tief in seinem steinigen Innern. Wenn dann der Winter ins Land zog, der große, blaue See zufror und der kleine Stein unter einer dicken Schneedecke begraben lag ( nur ab und an drang das hungrige Kreischen der Möwen zu ihm), dann also kramte der kleine Stein seine Erinnerungen hervor und machte daraus Geschichten vom großen, blauen See und seinen Bewohnern. Er sammelte sozusagen Geschichten. Traurige und lustige, schöne und häßliche, aufregende und langweilige, düstere und fröhliche. Für den kleinen, grauen Stein gab es da keinen Unterschied.
Er erzählte von den Pflanzen, die am Ufer wuchsen, er erzählte von den Gestirnen und von Tieren, die am Ufer tranken, von all den Enten, Möwen, den Fischen und den Schwänen.
Und er erzählte von den Menschen. Er sah sie ihre Häuser bauen, sah sie Fische fangen und er lachte mit ihren Kindern, die zum Spielen an den Strand kamen. Er sah nachts den Widerschein ihrer Feuer auf dem See, und oft knirschten ihre Fischerboote über ihn hinweg. So gingen die Jahre ins Land, und der Stein sammelte jahraus, jahrein seine Geschichten. Und allmählich änderte sich das Leben des kleinen Steins. Seine Geschichten machten ihm mit jedem Tag weniger Spaß und es kam nun des öfteren vor, daß er nur grau und tot dalag, ohne die vielen Geschehnisse um ihn herum überhaupt wahrzunehmen. Und das kam davon, daß er seine Geschichten niemandem erzählen konnte. Er war mit sich und seinen Bildern vom großen, blauen See ganz allein, und niemand teilte sie mit ihm. In solchen Momenten wäre er gern ein Tier oder eine Pflanze gewesen, denn die können sich, wenn auch manchmal auf sehr geheimnisvolle Weise, miteinander unterhalten.
An einem ruhigen, warmen Sommertag lag der kleine, graue Stein also wie stets am Ufer des großen, blauen Sees, und lauschte dem Gezwitscher zweier Spatzen. Er war sehr unzufrieden, denn er neidete den Vögeln ihre fröhliche Unterhaltung. Als er sich gerade in seine grau gewordene Steinseele zurückziehen wollte, spürte er eilige Schritte näherkommen. Aus alter Gewohnheit wurde er nun doch ein bißchen neugierig. Direkt vor dem kleinen Stein machten die Schritte halt, und dann ließ sich jemand mit einem tiefen Seufzer auf die sonnenwarmen Kiesel plumpsen. Es war ein kleiner, braungebrannter Junge, eines von den Kindern, die oft zum Spielen an das Ufer des großen Sees kamen. Doch dieser kleine Junge war heute, das spürte der Stein, nicht zum Spielen gekommen, denn er war traurig. Ab und zu schniefte er laut und fuhr sich mit einer schmutzigen kleinen Hand über die Augen. Der kleine Junge lebte mit seiner Sippe in hübschen Holzhütten am Rande des Sees und sie führten ein gutes Leben. Der See gab ihnen genügend Fische und ihre Schafe ließen sie auf den saftigen Uferwiesen grasen. Das wußte der Stein und doch erschien ihm dieser Junge ziemlich verzweifelt.
Der kleine Junge hat nun schon beinahe zehn Sommer erlebt, er gehörte also bald zu den Großen, und doch war er nahezu zwei handbreit kleiner als sein jüngerer Bruder, der doch erst im achten Sommer war! Der kleine Junge konnte lange nicht so schnell laufen wie seine Schwestern, und niemals ging ihm ein Fisch ins Netz. Seine Reusen waren zu grob geflochten und oftmals undicht, und wenn er des nachts am Feuer Wache halten sollte, schlief er stets ein. Außerdem fürchtete er sich im Dunkeln.!
Der kleine Junge ballte seine Hände zornig zu Fäusten und bohrte sie in seine Augenhöhlen. Erst an diesem Morgen hatte ein Wettbewerb stattgefunden, an dem alle Kinder seines Alters Bäume fällen, Bogen schießen, schmale Boote lenken und Fische mit einem Spieß erlegen. Seit Wochen hatte unter den Kindern große Aufregung geherrscht, und alle hatten dem Tag des Wettkampfes entgegengefiebert. Nur dem kleinen Jungen hatte es insgeheim davor gegraut, und nachts war er zitternd wach gelegen und hatte schon jetzt das höhnische Kichern der anderen Kindern zu hören geglaubt, wenn er als letzter ins Ziel liefe. Die Befürchtungen des kleinen Jungen hatten sich erfüllt, ja es war sogar noch schlimmer gekommen. Heute morgen, gleich beim ersten Lauf war er über eine Wurzel gestolpert und der Länge nach in den Dreck gefallen. Alle hatten gelacht und seine Mutter hatte ihn gutmütig lächelnd in die Arme genommen und ihm beruhigend den Kopf getätschelt, genau wie sie es mit den Kleinen immer tat. Nun hielten ihn die Leute auch noch für ein Baby! Beim Bogenschießen war sein erster Pfeil schon weit von dem Ziel kraftlos ins hohe Gras gefallen. Daraufhin hatte der kleine Junge seinen Bogen wütend auf den Boden geworfen, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und war zu seinem Lieblingsplatz am See gelaufen. Dort saß er nun und dachte düster über seine Zukunft nach. Fischer und Jäger, so wie sein Vater konnte er wohl offensichtlich nicht werden. Boote und Häuser konnte er auch nicht bauen. Aber was sollte dann aus ihm werden? Denn etwas anderes taten die Männer in seiner Sippe schließlich nie. Sie saßen nicht wie er stundenlang am See, spielten mit den bunten Kieseln und betrachteten die Fische. Sie lagen nicht am warmen Strand und malten sich aus, wie es wohl früher am See gewesen sein mochte. Manchmal, so dachte der kleine Junge, wäre es wohl das Beste, er stiege in seinen kleinen schiefen Einbaum und ließe sich auf seinen geliebten See hinaus treiben. Vielleicht lebten weit drüben an den anderen Ufern Wesen, die ihn zu verstehen vermochten. So sinnierte der kleine Junge an diesem Tage vor sich hin und betrachtete währenddessen gedankenverloren die glattgeschliffenen runden Kiesel am Ufer des großen blauen Sees. Mit einem Mal fiel ihm ein Stein besonders ins Auge und unterbrach seinen trüben Gedanken. Er war ziemlich klein und ziemlich brau und wirkte auf den ersten Blick vollkommen unscheinbar. Ein achtloserer Beobachter hätte ihn vielleicht wieder weggeworfen, doch der kleine Junge betrachtete den Stein genauer. Er drehte und wendete ihn, hielt ihn in die Sonne, und je länger er ihn ansah, desto mehr schien es ihm, als blitzten unter der grauen Oberfläche alle Farben des Sees hervor, sein blasses Schlammgrau im Frühling, das strahlende Blau des Sommers, das wilde Türkisgrün des Herbstes und das gleißende Strahlen des Eises im Winter.
Nachdem der kleine Junge den Stein lange genug staunend betrachtet hatte, legte er ihn in seine Hand und schloß die Faust um ihn. Der kleine, runde Stein schmiegte sich in seine Handfläche und war angenehm warm und glatt. Es schien dem Jungen gar, als begänne er allmählich zu pulsieren und zu beben, ganz als sei er lebendig. Der kleine Junge kuschelte sich bequemer in die warmen Kiesel und schloß die Augen. Den Stein hielt er fest in seiner Kinderhand.
Und dann begann der kleine graue Stein dem Jungen vom See all seine Geschichten zu erzählen. Er ließ ihn teilhaben an der Entstehung des Sees, und der Junge sah die riesigen Eismassen, die die Mulde für den See schufen. Er lernte all die zahllosen Bewohner des Sees kennen, schwamm mit den Fischen, weinte und lachte mit Schwänen und Enten, flog mit den Möwen und sah seinen Vorfahren dabei zu, wie sie mühevoll die ersten Häuser am Ufer bauten. Er erlebte Überschwemmungen und Hungersnöte, sah Kinder auf die Welt kommen und Alte sterben. Erst als es Abend wurde und die Sonne bereits verschwunden war, öffnete der Junge seine Faust und blickte auf den Stein hinunter. Jetzt war er seltsamerweise nicht mehr traurig. War ihm am Morgen noch alles grau und sinnlos erschienen, so war er nun von unzähligen bunten Geschichten seines Sees erfüllt. Lächelnd strich er mit den Fingern über den Stein und steckte ihn in die Tasche. Dann lief er eilig nach Hause, denn er hatte großen Hunger. Im Dorf hatte man sich schon Sorgen gemacht, da der kleine Junge so lange fortgeblieben war, und so waren eine ganze Menge Leute bei seinen Eltern, als der Junge hereinstürmte.
Seine Mutter bemerkte die Veränderung zuerst. Ihr kleiner Sohn schien gewachsen zu sein, er hielt sich kerzengerade (bisher hatte sie vergeblich versucht ihm das beizubringen), und seine Augen blitzten wie die Sonnenstrahlen auf dem See.
An diesem Abend erzählte der kleine Junge seine erste Geschichte. Das ganze Dorf hatte sich eingefunden und sie hörten ihm mit vor Staunen offenen Mündern zu. So etwas hatte es noch nie gegeben, wo solle denn das hinführen, raunten einige, und doch mußte er immer wieder und wieder neue Geschichten erzählen. Bald hatten sie die Erzählkünste des kleinen Jungen überall herumgesprochen und die Menschen kamen von weit her um ihm zuzuhören. Zum Dank brachten sie frisches Brot, Felle und Schafe mit und sie bauten dem Jungen das schönste Haus, das man je gesehen hatte, und dazu mitten auf dem Dorfplatz. So kam es, daß der Junge niemals Hunger leiden mußte und keiner mehr über ihn lachte, obwohl er nicht fischen, jagen, zimmern und klettern konnte.
So vergingen die Jahre und die ganze Zeit über pflegte der Junge den Stein in einem weichen Lederbeutel um den Hals zu tragen. Nur wenn er etwas erzählte, hielt er ihn fest in der Hand. Die Dorfbewohner waren sich inzwischen einig, daß das Leben viel fröhlicher geworden sei, seit es einen Geschichtenerzähler gab. Bald könnte sich kaum einer mehr daran erinnern, wie es früher gewesen war…
Die Jahre gingen ins Land und aus dem kleinen Jungen war nun ein alter Mann geworden, dessen schlohweißer Bart ihm bis zu den Kniekehlen reichte. Er hatte eine große Familie mit mehr Enkeln als es Bäume am Ufer gab, und er war sehr zufrieden.
Eines schönen Sommermorgens spürte der alte Mann, daß seine Zeit am großen, blauen See dem Ende nahte. So wanderte er ein letztes Mal gemächlich an den See und ließ sich, wie an jenem fernen Sommertag auf die warmen Kiesel am Strand nieder. Er schloß seine faltige, zittrige Hand um den kleinen, grauen Stein und machte die Augen zu. Und dieses Mal erzählte der Stein ihm seine eigene Geschichte. Der alte Mann lauschte ganz genau in den Stein hinein und als es Abend wurde öffnete er die Augen und blickte auf den stillen See hinaus. So saß er noch eine ganze Weile und dachte nach. Es war eine gute, schöne Geschichte gewesen, befand er schließlich, und dies war ein gutes Ende. Der alte Mann sah seinen Stein noch einmal liebevoll an und legte ihn dann zu den anderen Kieseln am Ufer des großen, blauen Sees zurück. Er erhob sich ächzend und ging langsam ins Dorf zurück, um sich von seiner Familie und seinen Freunden zu verabschieden.
In dieser Nacht starb der alte Mann. Nachdem das ganze Dorf lange genug geweint hatte und auch die Klageweiber endlich schwiegen, beschloß man, den Leichnam des alten Mannes im See zu versenken. Es war ein feierlicher Abschied, an dem alle teilnahmen.
Die Alten erzählen sich noch heute, daß der See in jener Nacht wie grünes Feuer geleuchtet habe, und so lange der Mond am Himmel stand, sei ein eigentümliches, helles Singen zu hören gewesen. Einige behaupten sogar, sie hätten einen kleinen, braungebrannten Jungen gesehen, der mit den winzigen Meerhexen auf den hellen Schaumkronen der Wellen tanzte…
Der kleine, graue Stein aber lag an seinem alten Platz und er war`s zufrieden. Er sammelte neue Geschichten vom Leben am großen, blauen See und er war sich ganz sicher, irgendwann würde sie wieder jemand mit ihm teilen…
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh!

zu erst einmal herzlich willkommen auf der lupe. für dieses wunderschöne werk gibt es gleich 10 punkte von mir. es kommt in meine sammlung. ganz lieb grüßt
 
L

loona

Gast
Hallo Marla,

eine wunderschöne Sage, fließend erzählt, einfühlsam und so still und leise, daß es tief berührt und lange nachhallt.

Ich werde mich jetzt ausloggen und den See, den Kiesel und die Geschichte des kleinen, braungebrannten Jungen mit in den Tag nehmen.

Danke.

loona
 



 
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