Von Un und Tat - Lästerstanze

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HerbertH

Mitglied
Von Un und Tat

Die Tat ist öfter Untat als man glaubt,
und auch das Unterlassen kann sehr schmerzen.
Wer nie Regale gründlich abgestaubt
und laut geniest, das Wachs entfernt von Kerzen
am Morgen nach der Feier, noch ertaubt,
der neigt wahrscheinlich niemals nicht zu Scherzen:
Die Pause fehlt ihm stets zum Glück, vermessen
läßt er sie aus - vergisst er gar zu Essen?
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wir betrachten zur Zeit die Stanzenform etwas genauer, deshalb habe ich nach Stanzen in der Leselupe gesucht und dieses sehr schöne Beispiel gefunden.

Es hat die strenge Form, wie sie im "Poetischen Hausschatz des deutschen Volkes" von Oskar Ludwig Bernhard Wolff 1853 beschrieben wird.
Dazu gehören folgende Eigenschaften:

Strenger Wechsel von männlichen und weiblichen Versen (auch umgekehrt) in den ersten 6 Zeilen, Reimschema abababcc, gleichlange Zeilen (wenn man von den Versenden absieht)

Interessanterweise betrachtet der Autor die Stanzenform als in sich thematisch abgeschlossene Strophenform eines längeren Werkes, wir betrachten sie hier auch als in sich abgeschlossene einzelne Strophe.

Ich habe nur Ausschnitte der Abhandlung verwendet, das Buch ist bei Google Books zu finden.

Bei komischen Versen sind Ausnahmen ausdrücklich erlaubt, um die komische Wirkung zu verstärken.

Im vorliegenden Fall werden aber alle Regeln eingehalten, und doch wirkt es - gerade in seiner Strenge - komisch.

Auffällig die Mehrdeutigkeit von Wendungen und die volkstümliche doppelte Verneinung.

Inhaltlich hat es mich - vielleicht gerade wegen der Form - beeindruckt, ich musste beim Lesen schmunzeln.
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Bernd,

das ist es, was mich an den festen Formen (auch) reizt: Ungewöhnliche Inhalte hineingießen.

Du hast zu recht geschmunzelt: Es ist deutlich auf der humorigen Seite angesiedelt.

Liebe Grüße

Herbert
 
F

Fettauge

Gast
Von Un- und Tat - Lästerstanze

Ja, gefällt mir auch ganz gut, Herbert. Aber schreib mal "essen" im letzten Vers klein.

Bernd, Stanzen haben fünf Hebungen bei 11 Silben (bei weiblicher Endung). Wenn du männlich-weiblich wechselst, hat natürlich der Vers mit der männlichen Endung nur 10 Silben. Es geht also nicht um die "Länge" als solche. Gruß, Fettauge
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Die "originalen" Stanzen haben 11 Silben in ihrer Sprache.
Bei der Übertragung ins Deutsche würde das zu "weiblichen" Endungen führen - wenn Jamben geschrieben werden.
Jedoch wurde die Form "aufgeweicht", so dass in deutschen Stanzen sehr oft männliche und weibliche Verse vorkommen.

"Gleiche Länge" ist ein vager Ausdruck, im strengen Sinne kann er nicht verwendet werden, da stimmen wir überein.

Trotzdem wurde er in der Beschreibung von Stanzenversen verwendet.
 

HerbertH

Mitglied
Von Un und Tat

Die Tat ist öfter Untat als man glaubt,
und auch das Unterlassen kann sehr schmerzen.
Wer nie Regale gründlich abgestaubt
und laut geniest, das Wachs entfernt von Kerzen
am Morgen nach der Feier, noch ertaubt,
der neigt wahrscheinlich niemals nicht zu Scherzen:
Die Pause fehlt ihm stets zum Glück, vermessen
läßt er sie aus - vergisst er gar das Essen?
 

HerbertH

Mitglied
Lieber Bernd,

das mit der Zäsur war mir neu, das hat sich wohl beim Schreiben intuitiv so ergeben.

Sachen gibt's :)

Liebe Grüße

Herbert
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Bei mir übrigens auch ...
Vielleicht liegt es an den gelesenen Beispielen.
Es ist ein in alten Stanzen häufiges Formelement, aber unterschiedlich starkin den einzelnen Versen ausgeprägt.

Die Literaturstelle habe ich angegeben. Bei Renate Golpon beispielsweise ist es aber nicht mehr vorhanden - obwohl sie meist die "strengsten" Regeln anwendet.
Andererseits wendet sie es aber weitgehend an ...
 



 
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