Von allen verlassen...

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Danilein

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Da stand sie nun: 36 Jahre alt, schlank, lange, braune Haare, smaragdgrüne Augen und unglücklich wie nie zuvor.
Nur diese eine Frage quälte sie: „Warum? Warum ausgerechnet sie?“, aber sie fand keine Antwort. Ihr Leben hatte eine Wendung genommen, von der sie nie gedacht hatte, dass sie eintreffen würde.

Alles begann vor zwei Monaten. Da hatte ihr Mann sie sitzen gelassen. Wegen einer Jüngeren. Einfach so. Noch am Morgen hatten sie gemeinsam gefrühstückt, nichts hatte darauf hin gedeutet, dass ihre Ehe auch nur in geringster Weise gefährdet gewesen wäre. Und dann kam dieser eine, alles entscheidende Satz: „Schatz, ich muss dir etwas gestehen.“. Er war es, der sie aufhorchen ließ. Dieser Satz war es, vor dem sie so große Angst gehabt hatte. Was würde der Mann ihrer Träume, der „Traumprinz“, ihr jetzt wohl beichten? „Ich habe da jemanden kennen gelernt…“. Petra, 21, Mitarbeiterin ihres Mannes. Und ihre beste Freundin. Noch am selben Abend verließ der „Traumprinz“ die gemeinsame Wohnung. Einen Monat später waren sie geschieden. Die Trennung zerfraß und quälte sie regelrecht. War sie schuld? Hatte sie ihm ihre Liebe nicht oft genug gezeigt? Fand er sie plötzlich unattraktiv? Diese Fragen stellten sich ihr jeden Tag und jede Nacht aufs Neue.

Auch in ihrer Arbeit ging es ihr nicht besser. Die Tierhandlung, in der sie arbeitete lief eigentlich recht gut, allerdings nur bis das Geschäft vor einem Monat neu übernommen wurde. Der neue Chef tyrannisierte sie. Beleidigungen und Verspottungen standen an der Tagesordnung. Bis er ihr schließlich kündigte. Sie und eine andere Mitarbeiterin wurden „wegrationalisiert“. Zu viele Mitarbeiter, zu viele Kosten… Immer mehr Zweifel kamen in ihr auf. Warum diese Tyrannei? Hatte sie nicht hart genug gearbeitet? Verdiente sie es? Von selbst gegangen wäre sie nicht, dazu brauchte sie das Geld zu sehr. Warum musste ausgerechnet sie gehen? Warum verlor sie gerade jetzt ihren Job? Jetzt, wo sie doch erst die Scheidung verdauen musste? Warum…

Dem war sie schließlich nicht mehr gewachsen. Sie begann zu trinken. Mit der Zeit immer mehr, oft bis ins Delirium. Sie wusste nicht, was sie da tat, aber der Alkohol ließ sie ihre Welt wenigstens für einen kurzen Augenblick vergessen. Langsam aber sicher brach auch der Kontakt zu Freunden ab. Wer wollte schon mit einer Säuferin zu tun haben? Sie wurde immer depressiver, wodurch sie noch mehr trank. Es war ein Teufelskreis, aus dem sie schließlich keinen Ausweg mehr fand.

Und jetzt stand sie da. Auf dem Fenstersims im 11. Stockwerk am Fenster ihrer Wohnung, die zuletzt immer dreckiger und unansehnlicher geworden war. Die Flaschen häuften sich in der Küche und ein Gestank von Alkohol und Schmutz füllte die Wohnung. Aber das war ihr jetzt egal. Sie sah nur noch einen einzigen Ausweg. Sie wollte nicht mehr. Die Schmerzen, die Qualen… Nein, es sollte vorbei sein. Für immer.
Auf der Straße hatte sich schon eine kleine Gruppe von Passanten versammelt, die entsetzt in die Höhe starrten. Die Polizei und die Feuerwehr waren schon alarmiert, auch ihren Ex-Mann hatte die Nachbarin inzwischen angerufen. Und oben, alleine, weit weg von der Masse war sie nun. Bereit, zu springen. Bereit, frei zu sein von allen Belastungen des Alltags.
Von unten hörte man die Stimmen der mittlerweile eingetroffenen Polizisten, die sie davon abhalten wollten. Die ihr ins Gewissen redeten und sie eindringlich baten, noch einmal über alles nachzudenken. Sie hörte nicht zu. Sie war wie in eine andere Welt versunken. Doch auf einmal, wie aus dem Nichts, hörte sie auch die Stimme ihres Ex-Mannes. Auch er stand dort, inmitten der Menge fassungsloser Menschen, und rief ihr durch das Megaphon zu. Sie solle doch herunterkommen und sie würden über alles reden. Nein, dafür war es jetzt zu spät. Sie spürte einen Hass in ihr aufkommen, den sie noch nie verspürt hatte. Aber nicht nur auf ihn, auch auf ihren ehemaligen Arbeitgeber, auf ihre so genannten „Freunde“, die sie fallen gelassen hatten, in einer Zeit, in der sie Hilfe doch so bitter nötig gehabt hätte. Aber vor allem hasste sie sich selbst und ihr Leben. Ja, sie war sich nun endgültig sicher, was sie tun sollte.
Plötzlich hörte sie im Hintergrund ein Krachen. Es war die Tür, die soeben aufgebrochen wurde. Flehend redeten jetzt auch in ihrer Wohnung Menschen auf sie ein. Gedanken kreisten wild in ihrem Kopf herum. Hass, Verbitterung und auch große Angst. Sie fühlte, wie ihr Tränen über das Gesicht liefen und spürte, dass es Menschen gab, die bei ihr waren.
Entschlossen ließ sie sich fallen – zurück in die Arme der Personen, die bei ihr waren und für einen kurzen Moment fühlte sie sich wieder geliebt…
 

anno nymus

Mitglied
Hey Danilein!

Ich find deine Geschichte wirklich sehr gut gelungen.
Sie ist sehr flüssig zum Lesen, und vor allem das Ende kommt sehr überraschend!
Die Gedanken die sich deine Hauptperson durch den Kopf gehen lässt, wirken auf mich erschreckend realistisch. Hoffe das dir das noch nicht so passiert ist.

Lg anno nymus
 

Karoline

Mitglied
Huch! Das war ja knapp am Ende!
Ich habe beinahe schon geglaubt, sie stürzt sich wirklich aus dem Fenster.

Echt gelungene Geschichte, depressiv, aber gelungen.
Pass' auf, dass du nicht auch einmal in einer Depression endest, wenn du so etwas öfter schreibst und durchlebst!
 

SCHNEPF

Mitglied
von allen verlassen

Hallo Danilein,

für wahr – ich kann mich da den „Vorrednern“ anschließen - , eine Geschichte, die einem anspricht, kurz und bündig und auch noch mit Happyend. Aber auf das Ende kam es mir nicht so an – auch wenn’s so natürlich schön ist. Mir kam es mehr auf die Schilderung des Seelenzustandes der Frau an. Es ist leider dieser Zustand, in dem vor allem Frauen dann die Schuld bei sich suchen. Das kommt gut zum Ausdruck. Dass da einmal wirklich so viel auf einmal kommt, mag selten, aber nicht unmöglich sein.

SCHNEPF
 



 
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