Von den drei Kisten des Scham-Ahnen

Von den drei Kisten des Scham-Ahnen

"Die wahre Sichtweise liegt darin,
keine Position einzunehmen"
Dzog-Chen Spruch

"Was will denn euer Sohn mal werden?"
"Der malt so schön - wir dachten an Schildermaler!"
Als wir Lehrlinge damals unsere Ausbildung begannen, bestand eine der Aufgaben, die man uns stellte darin, daß sich jeder angehende Schaufenstergestalter seine eigene Werkzeugkiste bauen mußte. Halt mit dem Zeugs, welches darin anschließend seinen Platz finden würde: Hammer, Zange, Zollstock, Schraubenzieher, diverse Nylonschnüren usw.
Schon damals dachte ich lieber über Worte, wie "Werk-Zeug" nach, als daß ich zeugend ans Werk gegangen wäre. Die Ausdrucksmöglichkeit und das Verstehen von Zusammenhängen durch Be-Griffe erschien mir schon als Kind eines der größten Wunder der Erde zu sein - schließlich waren es zunächst nur Klänge, die den Hörenden be- oder verzaubern konnten. Sie konnten Kriege auslösen und genauso Frieden stiften. I-AH, miau, WAu-Wau, HAMMER, ZANGE, SCHRAUBEN ZIEHEN - ich schmeckte die Wortbedeutungen, wie später die Sonnenstrahlen im Tempranillo, oder das Stillend-Nährende an einem nach warmer Milch duftenden Busen., immer noch das köstlichste ... die Nadel, die Naht und die Nähe ....
Erst nachdem mir mehrere Arbeitsgeräte durch zuviel Schwärmerei abhanden kamen und ein Neuerwerb fast das Budget überstieg, verstand ich die Dringlichkeit des Handelns und kopierte aus Mangel an Kreativität eine der Kisten meiner Vorgänger, die bei Nichtgebrauch auf einem Bord in der Deko-Werkstatt aufgereiht standen. Natürlich übernahm ich die Maße mit leichten Veränderungen, so daß es nicht sofort auffiel. Unsereiner, in allem unsicher, will ja nicht auffallen. Andere wollen gerade wieder das. Aus Angst, zu kurz zu kommen - das meiste geschieht aus Angst. Mit einem für den Schöpfer zeugenden Werk auffallen - ja, das ist was anderes, für Leistung geachtet zu werden.
Erstaunlich, was die Kollegen teilweise so zurechtzimmerten - schmucke Holzwerkchen, kleine Tadsch Mahals, Krypten, Kunstsärge, als wollten sie ihr Verdrängtes darin sanftmöglichst einbetten, mit balsamender Bemalung, wobei die weiblichen ihren männlichen Kollegen in nichts nachstanden. Daß sie nicht alle gleich praktisch waren - ein Bommelchen hier, eine Schnörkelchen dort - nunja,wer möchte das einem "Künstler" nicht nachsehen.
Es waren halt noch andere Zeiten damals ...
Gut, ich hab's dann, artgerecht mit Verspätung, einigermaßen bürgerlich hingekriegt, mit linkisch-zittrigen Fingern, viel Schweiß und Häme durch ältere Lehrlinge (- "Wie sägt der denn? - Bübchen, du musst die Säge gerade halten - komm ich zeig dir mal, wie das geht ... - doch nicht die große Holzplatte, ja spinnst denn du? Nimm die Reste da hinten ..." -) aber eine Meisterleistung wurde es nicht, eher die Vorwegnahme des Tschernobyl-Sarkophags, nur strahlenärmer. Und die Scham, nur eine schlechte Kopie zu haben, nagte lange am Selbstbewußtsein. Aber es war mein erstes Selbstgebautes und ich trug es entsprechend mit Würde durch die fünf Stockwerke des Kaufhauses gegenüber der Frankfurter Hauptwache. Bald schon würde ich mir mit dem Selbstverdienten eine größere Kiste leisten, expandieren - ein Auto, ein SELBST, eine Narrenkiste auf Räder, die Welt wartete auf den, der was werden wollte ...

Wie kam ich Narr jetzt, nach über fünfundvierzig Jahren darauf? - Der Begriff "Werkzeug" kommt mir ja öfters, doch stets im Zusammenhang mit etwas anderem. Etwas Gelesenes von Karl-Heinz Franzen war es, fällt mir gerade ein: "Der Starke setzt auf die Natur, der Schwache auf die Bibel." - sowie mein Kommentar dazu: "Es setzen sich nur Körper - der Geist (-seine vibrierende Energie-) braucht keinen Sitzplatz, er gestaltet ihn höchstens."
Die Reaktion daraufhin zeigte mir allerdings, daß meine an Aristoteles' Kausalitäten angelehnte Denkweise nicht wirklich verstanden wurde und das war für mich schon seit je her der Ausgangspunkt weiteren Durchdenkens, um den Gegenstand der Rede doch noch verdeutlichen zu können, im Zweifelsfall mir selbst bzw im Falle eines Irrens das Irrende sichtbar zu machen, um Folgeirrtümer zu vermeiden. Vielleicht auch aus Faulheitsgründen, ich weiß es nicht so genau ...
Körper ist in gewisser Weise analog zur Werkzeugkiste und der Geist deren Erbauer. Doch für den Bau bedarf es der Werkzeuge, sowie des Baumaterials. Ohne die Komplettierung der Vier läßt sich keine Kiste herstellen, man bräuchte allerdings dann auch keine:

1. Die Idee
2. Das Material (lat. mater - die Mutter)
3. Die Durchführung (abhängig von Idee und Material = zwischen Geist und Körper)
4. Das Erwirkte

Werken kommt sprachlich von Wirken, Erwirktes (Abschluß, Frucht etc.), die Wirklichkeit - und Zeugen bezeugt die fruchtbare "An-Wesenheit" jenes Wirkenden - deshalb der "Zeuge". Wer nicht zeugt, ist ortlos, erwirkt auch nichts. Ein Werkzeug, dessen Idee auch erst einmal durch Erfahrung eines Mangels aus dem Geist herausgehoben, also gefunden und hergestellt werden muß, verbindet Idee mit dem zu bearbeitenden Stoff, indem es diesen gestaltet. Das Endprodukt ist das Erwirkte.
Solches Denken, solches "Hineinhören" ins Innenleben von Wurzel-Begriffen war es, das mir die Karriere als "Schmücker" frühzeitig unmöglich machte, denn ich fand und finde es tausendmal spannender, Mutter Sprache beim Denken und auch Danken für geordnetes Begreifen durch die vier Kausalitäten zu begleiten, spannender jedenfalls, als Damenblusen oder Herrensakkos werbewirksam zu dekorieren.
Daß Arbeitgeber und Erzieher diese Sichtweise nicht teilen, liegt in der Natur der Sache. Daß die Zeitgenossen insgesamt ... aber gut ... Gleichzeitig blieben mir Denken und Danken in Unabhängigkeit von jener akademisch geschaffenen Vorstellungskiste, in denen das Abendland so schwer, so dramatisch "über-zeugt" die erdrückenden Gewichte der universalen Welt hin- und herträgt (- sie setzen grundsätzlich auf Naturgesetze)
Freier sind Ahnungen und Wortbilder ohne Schulmeinung. Ihre verborgenen Pfade wittern, sie in ihrer Ursprünglichkeit gelassen bis zum Erwirkten wirken lassen, als auch zuletzt - unverletzt ... seinlassen - das ist mir bis heute Obsession. - Auf was ließe sich da setzen?
Wie Heidegger es in "Sein und Zeit" formulierte: "Sein besteht im Sein lassen." - Narren brauchen jedoch erst die Hochschulbildung, um über späteres Zusammenbrechen Älteres wieder zu ahnen.
Was ist stark, was schwach? - Fernöstliche Traditionen lehren seit ewigen Zeiten, daß auch der vermeintlich Schwache bei entsprechendem Verhalten stark ist und sie führen das Beispiel des Grashalms an, der sich im Sturm einfach flach legt, während starke, unbeugsame Bäume entwurzelt werden. Ist der Sturm vorüber, steht der Grashalm wieder auf.
Und so lernt dieser Scham-Ahne hier, jene andere Art Werkzeugkiste bauen, aus Achtsamkeit, Bildschau, Mantra und Studium der ewigen Himmelsordnung, sowie deren Erscheinung im Stoff, ihren wiederkehrenden Rhythmen, auf die Niemand setzt. ...
Ein Niemand werden, frei von Eigendünkel, frei von gewichtesetzender Wichtigkeit, frei wie der Raum - fliegen mit Fliegenden, spielen mit Spielenden, tanzen, dichten und singen mit Entsprechenden, das will ich erwirken mit diesem schmucklosen Kistchen hier ... obwohl, ... ich hab' es längst - jeder hats von Anfang an. Und wie wenige erkennen es!
Ja!- So soll auf meinem letzten Kistchen stehen: "Jeder hat es, keiner kennt's."


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