Von einem, der Regeln beachtet

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Lars Lang

Mitglied
Von Einem, der Regeln beachtet

Er ging suchend in diesem Irrgarten aus Hochhäusern entlang und studierte die Straßennamen: lauter Von und Zus in unaussprechlichen Kombinationen. Keine Berühmtheit dabei, soweit er feststellen konnte. Eine Mozartstraße gab es hier sicher nicht. Nur eine Wilhelm von Reifenstein und Karoline Sperber-Niederbach Straße. Zweifelhafte Berühmtheiten, von denen sicher niemand hier wusste, warum man eine Straße nach ihnen benannt hatte. Kein Mensch in diesen Häusern konnte sich diese Namen merken - oder sie gar schreiben. Die Leute hier waren dumm. Er sah es an dem Dreck der Häuser und dem Zustand der Grünanlagen, er konnte es in der Luft riechen – zu viel Alkohol und zu wenig Vernunft. Wer hier wohnte, hatte mindestens ein Problem und sicher keinen Job.
Nils Meinel suchte weiter nach der passenden Hausnummer und blickte nun schon zum x-ten Mal genervt auf seine Uhr. Der wohl verdiente Feierabend war schon in Reichweite. Er freute sich wie ein Kind auf seine Freundin, mit der er gleich verabredet war. Wiederholt stöhnte er und zupfte sich seine Krawatte zurecht, die er sich am Liebsten sofort vom Hals gerissen hätte. Ein Kleidungsstück, das unterstrich, dass er hier nicht hergehörte. Aber auch ohne dieses gestreifte Stückchen Stoff fiel er hier aus dem Rahmen, selbst mit dreckigen Fingernägeln wäre er keinem dieser Menschen ähnlich, die hier leben mussten, weil sie keine andere Wahl hatten. Ein Fußball kreuzte seinen Weg, flog über eine magere Hecke und landete krachend an der Beifahrertür eines unvorschriftsmäßig geparkten Fahrzeugs. Nils blickte kurz auf die schmutzigen Abdrücke an der Autotür. Der Ball flog wohl häufiger auf diesem Weg über die Hecke und der Besitzer wählte wohl trotzdem immer wieder diesen Platz im Halteverbot. Wer kannte hier schon die Verkehrsregeln?
Endlich hatte er die richtige Hausnummer gefunden und überflog die zahlreichen Klingelschilder, von denen einige Brandstellen aufwiesen. Kaputte Briefkästen glotzten ihn an, als würden sie merken, dass er ein ungebetener Gast war. Er blickte noch einmal auf sein Formular und verglich den Namen mit den lesbaren Schildern, dann drückte er auf Verdacht auf eine Klingel und stemmte sich mit spitzen Fingern gegen die schmutzig rote Tür. Ein Summer ertönte und er betrat das dunkle, schäbige Treppenhaus, in dem eine flackernde Neonröhre ihre letzten Lichtblitze von sich gab. Zigaretten- und Uringeruch mischten sich und er rümpfte die Nase. Im fünften Stock endlich erreichte der Sozialarbeiter die gesuchte Tür, hinter der Familie Raddler leben sollte. Auffällige Geräusche wurden gemeldet, denen er nachgehen sollte. Wahrscheinlich hörten die Leute hier zu laut ihre Horrorfilme. Eigentlich erstaunlich, dachte er noch, ihr Leben müsste auch ohne diese Filme der reinste Horror sein. Wie zum Beweis seiner Vermutung war der Fernsehton laut und deutlich zu hören. Er räusperte sich und legte sich Sätze zurecht. Hallo Herr Raddler, ich hörte, dass Sie ihr Kind misshandeln. Könnte es wohl sein, dass Sie ihr Kind misshandeln? Klingt alles nicht toll. Er konnte das nicht, wollte zurück an seinen Schreibtisch, fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, die hier nicht hinpasste. Warum hatte er seinem Kollegen diese Bitte nicht abschlagen können? Er würde einfach erst einmal in die Wohnung gehen und sich umsehen, sagen, dass er nur einen Routinebesuch machen würde. Dann würde er sicher etwas sehen, dass ihm bei der Aufklärung dieses Falles helfen würde. Noch ein Blick auf die Uhr – eigentlich hatte er jetzt längst Feierabend. „Na los, bringen wir es hinter uns“, machte der zu gut gekleidete Herr sich selbst Mut und drückte erneut die Klingel.
Leichte Schritte kamen durch den Flur, dann fühlte er sich durch den Spion angestarrt. Endlich bewegte sich der Schlüssel im Schloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, wobei sich klappernd eine Kette als Sicherung spannte, und ein Gestank ergoss sich ins Treppenhaus, der Nils sofort den Atem raubte. Ein kleines Mädchen blickte mit großen Augen durch den Türspalt und sah ihn fragend an. „Geht es dir gut?“ fragte er jetzt unsinnigerweise. Sicher gab es Gründe für den blauen Fleck, der ihre linke Gesichtshälfte bedeckte. Kleine Kinder fielen manchmal unglücklich. Der Fernsehton gab aus dem Wohnzimmer wenig jugendfreie Geräusche von sich und das magere Mädchen nickte langsam mit dem Kopf. Ein T-Shirt mit Flecken trug es – Kakao vermutlich – oder trockenes Blut? Während Nils noch dachte, dass es ihr natürlich nicht gut ging und das Mädchen ihn weiter aus seinen großen Augen ansah, grölte eine raue Männerstimme: „Wer ist´n da?“
Nils hatte sich nicht vorgestellt und starrte jetzt auf die Kette, die immer noch die Haustür sicherte. „Ich bin der Herr Meinel“, flüsterte er jetzt seinem Schützling zu, so, als wolle er ihr zeigen, dass dies ein Geheimnis wäre, das er nur mit ihr teilte. Er hätte genauso gut sagen können, dass er der Weihnachtsmann ist. Der nette Mann vom Sozialamt war eine Märchenfigur, die es hier nicht gab. „Bring mir´n Bier“, dröhnte es jetzt durch den zugemüllten Flur, mit einer Stimme, die nach Stoppelbart und Unterhemd klang, nach zu viel Alkohol und zu wenig pädagogischem Fingerspitzengefühl. Für einen Moment wurde der Mann vor der halb versperrten Tür mutig, straffte die Schultern und räusperte sich. Doch das Mädchen sagte nur zaghaft: „Nein, wir kaufen nichts.“ Im selben Moment hatte sie die Tür zugeschoben. Der Sozialarbeiter im Feierabend war abgeblitzt.
Hinter der geschlossenen Tür lachte Herr Raddler schäbig und laut, als könnte er den feinen Herrn sehen, der eine Abfuhr von seiner kleinen Tochter erhalten hatte. Nils´ Finger ging wieder zur Klingel und stoppte kurz vor seinem Ziel, als hätte er Angst, diesen klebrigen Punkt zu berühren. Er wusste, dass das Mädchen noch hinter der Tür stand. Trotzdem dachte er jetzt, dass sie ja nichts gesagt hatte. Er war hier und hatte sie gefragt. Er war doch seiner Pflicht nachgekommen. Vielleicht ging es ihr ja gar nicht so schlecht. Kleine Kinder fallen manchmal unglücklich. Er zog den Finger zurück und schlich langsam die Treppe hinunter. Als er im Erdgeschoss ankam, lief er fast. Er flüchtete aus diesem Haus und er lief seiner Feierabendverabredung entgegen und hoffte, dass er bei ihr diesen Arbeitstag vergessen würde.
Aber er vergaß ihn nicht. Tote Kinder der letzten Jahre verfolgten ihn. Wenn sie stirbt.... dachte er immer wieder und dann arbeitete sein Verstand mit aller Kraft und reproduzierte die Worte, die aus diesem kleinen Mund mit den unnatürlichen Zahnlücken kamen und da gab es kein „Helfen Sie mir, holen sie mich hier raus“, sondern nur ein „wir kaufen nichts.“ Es ist alles gut. Er sprach es wie eine Formel vor sich hin. Wieder und wieder. Gut. Gut. Verdammt, warum durften Menschen einfach so Kinder bekommen und er musste sich mit den Problemen dieser Menschen beschäftigen, wie jemand, der Verkehrssünder zu einer weiteren Führerscheinprüfung einlud. Jemand, der mit den Verkehrsregeln Probleme hatte, erhielt halt ein paar weitere Fahrstunden und dann ging man davon aus, dass er die Regeln verstanden hatte. Aber diese Menschen hier hatten nichts gemacht, außer auf die Verhütung zu verzichten. Alles Weitere musste er nun tun. Herr Raddler wusste vermutlich nichts. Er war an seinem Auto angekommen, legte die Arme auf das heiße Dach und ließ den Kopf hängen.
Wenn er die Augen schloss, konnte er sehen, was im fünften Stock bei Raddler passierte. Es war, als hätte er einen siebten Sinn. Die Bilder waren so realistisch, dass der Sozialarbeiter selbst an seinem Feierabend Dinge sah, die ihm den Magen umdrehten. Außerdem konnte er die Wohnung sehen. Jeden Einrichtungsgegenstand, der für den Gestank verantwortlich war, der immer noch in seiner Kleidung hing, als wollte dieser Mix aus Alkohol, Rauch und Schweiß ihn ermahnen, nicht zu vergessen. Er sah den Gürtel, der im Flur hing und er wusste, warum er dort hing. Er sah die Hand, die nach dem Gürtel griff und....
Nils zwang sich die Augen zu öffnen, weil er dies nicht sehen wollte, nicht allein die schwere Verantwortung tragen wollte. Jeder könnte dies doch sehen. Vielleicht würden die Nachbarn heute Abend, wenn wieder die Geräusche erklangen, einfach einmal selbst nach dem Rechten schauen.

Er saß am Steuer, ohne dass er wusste, wie er dort hingekommen war. Fahren würde ihm jetzt sicher guttun. Er musste die Augen öffnen und sich auf den Straßenverkehr konzentrieren. Er würde jedes Verkehrsschild genießen. Eine geregelte Welt, in der es keine Grauzone gab und in die er mit seinem Auto eintauchen konnte. Polizisten, die alles regelten, alle Sünden bestraften. Ein Kind am Straßenrand. Er drehte den Kopf zu schnell zur anderen Seite. Sie war genauso alt, hatte aber wohl keine blauen Flecke, keine Zahnlücken, wo diese nicht sein sollten. Nils rieb sich die blauen Augen. „Beachte die Regeln“, sagte er, als würde er mit seinem Auto sprechen. Und wenn sein Kleinwagen hätte antworten können, dann hätte er wohl gesagt: „Beachte selbst die Regeln – sieh hin!“ Aber der blauäugige Sozialarbeiter hatte Glück. Sein Auto sprach nicht.
Dafür spielte sein Radio „Sweet child of mine“ und er schaltete hastig ab. Vergeblich. Der Song lief in seinem Kopf weiter und produzierte wieder ihr misshandeltes Gesicht, obwohl er jedes dieser unscheinbaren Vorfahrtsschilder anstarrte, als ginge es um sein Leben. Aber das half alles nichts. Nils konzentrierte sich auf seine Freundin und ihm fiel ein, dass sie über Kinder gesprochen hatten. Eigene Kinder, die ihm die Möglichkeit geben würden, alle Fehler des Sozialarbeiters Meinel wieder ungeschehen zu machen. Verdammt, er könnte in diesem Ghetto wahrscheinlich hundert Kinder adoptieren. Wieder ein Vorfahrtsschild, das seine Aufmerksamkeit forderte. Hier hatte er Vorfahrt und andere Menschen akzeptierten dies. Warum war es in seinem Leben nicht so einfach? Noch einmal ließ er geräuschvoll die Luft ab, verdrängte die Bilder der letzten Minuten dieses Arbeitstages und fütterte sein Magengeschwür damit.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Lars Lang, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Trauriges Thema, das Du einfühlsam geschildert hast!


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 
Hallo Lars Lang,

ich bin sehr beeindruckt. Du hast den Zwiespalt des Protagonisten gut beschrieben. Wer macht sich schon darüber Gedanken, wie schwierig ein solcher Beruf ist?

LG SilberneDelfine
 

MicM

Mitglied
Hallo Lars Lang,

ich finde, der Text ist gut geschrieben. Ohne Pathos und Ideologie wirfst du einen Blick auf ein schwieriges Thema. Vor allem die „Zerrissenheit“ des Prot, seine Machtlosigkeit, sein schlechtes Gewissen, sein „Vergessen-Wollen“ ist überzeugend dargestellt. Ein guter Text, der nachdenklich macht.

Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, wären ein paar Absätze hilfreich. Der fortlaufende Text „erschlägt“ einen etwas.

Was mir gar nicht gefällt, ist die Überschrift, die ich viel zu programmatisch finde und die im Vergleich zum eigentlichen Text wie ein Holzhammer daherkommt. Besser fände ich bspw. (als erste Idee) „Vor verschlossener Tür“ oder so ähnlich.

Auf bald,
MicM
 

Lars Lang

Mitglied
Von Einem, der Regeln beachtet

Er ging suchend in diesem Irrgarten aus Hochhäusern entlang und studierte die Straßennamen: lauter Von und Zus in unaussprechlichen Kombinationen. Keine Berühmtheit dabei, soweit er feststellen konnte. Eine Mozartstraße gab es hier sicher nicht. Nur eine Wilhelm von Reifenstein und Karoline Sperber-Niederbach Straße. Zweifelhafte Berühmtheiten, von denen sicher niemand hier wusste, warum man eine Straße nach ihnen benannt hatte. Kein Mensch in diesen Häusern konnte sich diese Namen merken - oder sie gar schreiben. Die Leute hier waren dumm. Er sah es an dem Dreck der Häuser und dem Zustand der Grünanlagen, er konnte es in der Luft riechen – zu viel Alkohol und zu wenig Vernunft. Wer hier wohnte, hatte mindestens ein Problem und sicher keinen Job.

Nils Meinel suchte weiter nach der passenden Hausnummer und blickte nun schon zum x-ten Mal genervt auf seine Uhr. Der wohl verdiente Feierabend war schon in Reichweite. Er freute sich wie ein Kind auf seine Freundin, mit der er gleich verabredet war. Wiederholt stöhnte er und zupfte sich seine Krawatte zurecht, die er sich am Liebsten sofort vom Hals gerissen hätte. Ein Kleidungsstück, das unterstrich, dass er hier nicht hergehörte. Aber auch ohne dieses gestreifte Stückchen Stoff fiel er hier aus dem Rahmen, selbst mit dreckigen Fingernägeln wäre er keinem dieser Menschen ähnlich, die hier leben mussten, weil sie keine andere Wahl hatten. Ein Fußball kreuzte seinen Weg, flog über eine magere Hecke und landete krachend an der Beifahrertür eines unvorschriftsmäßig geparkten Fahrzeugs. Nils blickte kurz auf die schmutzigen Abdrücke an der Autotür. Der Ball flog wohl häufiger auf diesem Weg über die Hecke und der Besitzer wählte wohl trotzdem immer wieder diesen Platz im Halteverbot. Wer kannte hier schon die Verkehrsregeln?

Endlich hatte er die richtige Hausnummer gefunden und überflog die zahlreichen Klingelschilder, von denen einige Brandstellen aufwiesen. Kaputte Briefkästen glotzten ihn an, als würden sie merken, dass er ein ungebetener Gast war. Er blickte noch einmal auf sein Formular und verglich den Namen mit den lesbaren Schildern, dann drückte er auf Verdacht auf eine Klingel und stemmte sich mit spitzen Fingern gegen die schmutzig rote Tür. Ein Summer ertönte und er betrat das dunkle, schäbige Treppenhaus, in dem eine flackernde Neonröhre ihre letzten Lichtblitze von sich gab. Zigaretten- und Uringeruch mischten sich und er rümpfte die Nase. Im fünften Stock endlich erreichte der Sozialarbeiter die gesuchte Tür, hinter der Familie Raddler leben sollte. Auffällige Geräusche wurden gemeldet, denen er nachgehen sollte. Wahrscheinlich hörten die Leute hier zu laut ihre Horrorfilme. Eigentlich erstaunlich, dachte er noch, ihr Leben müsste auch ohne diese Filme der reinste Horror sein. Wie zum Beweis seiner Vermutung war der Fernsehton laut und deutlich zu hören. Er räusperte sich und legte sich Sätze zurecht. Hallo Herr Raddler, ich hörte, dass Sie ihr Kind misshandeln. Könnte es wohl sein, dass Sie ihr Kind misshandeln? Klingt alles nicht toll. Er konnte das nicht, wollte zurück an seinen Schreibtisch, fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, die hier nicht hinpasste. Warum hatte er seinem Kollegen diese Bitte nicht abschlagen können? Er würde einfach erst einmal in die Wohnung gehen und sich umsehen, sagen, dass er nur einen Routinebesuch machen würde. Dann würde er sicher etwas sehen, dass ihm bei der Aufklärung dieses Falles helfen würde. Noch ein Blick auf die Uhr – eigentlich hatte er jetzt längst Feierabend. „Na los, bringen wir es hinter uns“, machte der zu gut gekleidete Herr sich selbst Mut und drückte erneut die Klingel.

Leichte Schritte kamen durch den Flur, dann fühlte er sich durch den Spion angestarrt. Endlich bewegte sich der Schlüssel im Schloss. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, wobei sich klappernd eine Kette als Sicherung spannte, und ein Gestank ergoss sich ins Treppenhaus, der Nils sofort den Atem raubte. Ein kleines Mädchen blickte mit großen Augen durch den Türspalt und sah ihn fragend an. „Geht es dir gut?“ fragte er jetzt unsinnigerweise. Sicher gab es Gründe für den blauen Fleck, der ihre linke Gesichtshälfte bedeckte. Kleine Kinder fielen manchmal unglücklich. Der Fernsehton gab aus dem Wohnzimmer wenig jugendfreie Geräusche von sich und das magere Mädchen nickte langsam mit dem Kopf. Ein T-Shirt mit Flecken trug es – Kakao vermutlich – oder trockenes Blut? Während Nils noch dachte, dass es ihr natürlich nicht gut ging und das Mädchen ihn weiter aus seinen großen Augen ansah, grölte eine raue Männerstimme: „Wer ist´n da?“

Nils hatte sich nicht vorgestellt und starrte jetzt auf die Kette, die immer noch die Haustür sicherte. „Ich bin der Herr Meinel“, flüsterte er jetzt seinem Schützling zu, so, als wolle er ihr zeigen, dass dies ein Geheimnis wäre, das er nur mit ihr teilte. Er hätte genauso gut sagen können, dass er der Weihnachtsmann ist. Der nette Mann vom Sozialamt war eine Märchenfigur, die es hier nicht gab. „Bring mir´n Bier“, dröhnte es jetzt durch den zugemüllten Flur, mit einer Stimme, die nach Stoppelbart und Unterhemd klang, nach zu viel Alkohol und zu wenig pädagogischem Fingerspitzengefühl. Für einen Moment wurde der Mann vor der halb versperrten Tür mutig, straffte die Schultern und räusperte sich. Doch das Mädchen sagte nur zaghaft: „Nein, wir kaufen nichts.“ Im selben Moment hatte sie die Tür zugeschoben. Der Sozialarbeiter im Feierabend war abgeblitzt.
Hinter der geschlossenen Tür lachte Herr Raddler schäbig und laut, als könnte er den feinen Herrn sehen, der eine Abfuhr von seiner kleinen Tochter erhalten hatte. Nils´ Finger ging wieder zur Klingel und stoppte kurz vor seinem Ziel, als hätte er Angst, diesen klebrigen Punkt zu berühren. Er wusste, dass das Mädchen noch hinter der Tür stand. Trotzdem dachte er jetzt, dass sie ja nichts gesagt hatte. Er war hier und hatte sie gefragt. Er war doch seiner Pflicht nachgekommen. Vielleicht ging es ihr ja gar nicht so schlecht. Kleine Kinder fallen manchmal unglücklich. Er zog den Finger zurück und schlich langsam die Treppe hinunter. Als er im Erdgeschoss ankam, lief er fast. Er flüchtete aus diesem Haus und er lief seiner Feierabendverabredung entgegen und hoffte, dass er bei ihr diesen Arbeitstag vergessen würde.

Aber er vergaß ihn nicht. Tote Kinder der letzten Jahre verfolgten ihn. Wenn sie stirbt.... dachte er immer wieder und dann arbeitete sein Verstand mit aller Kraft und reproduzierte die Worte, die aus diesem kleinen Mund mit den unnatürlichen Zahnlücken kamen und da gab es kein „Helfen Sie mir, holen sie mich hier raus“, sondern nur ein „wir kaufen nichts.“ Es ist alles gut. Er sprach es wie eine Formel vor sich hin. Wieder und wieder. Gut. Gut. Verdammt, warum durften Menschen einfach so Kinder bekommen und er musste sich mit den Problemen dieser Menschen beschäftigen, wie jemand, der Verkehrssünder zu einer weiteren Führerscheinprüfung einlud. Jemand, der mit den Verkehrsregeln Probleme hatte, erhielt halt ein paar weitere Fahrstunden und dann ging man davon aus, dass er die Regeln verstanden hatte. Aber diese Menschen hier hatten nichts gemacht, außer auf die Verhütung zu verzichten. Alles Weitere musste er nun tun. Herr Raddler wusste vermutlich nichts. Er war an seinem Auto angekommen, legte die Arme auf das heiße Dach und ließ den Kopf hängen.

Wenn er die Augen schloss, konnte er sehen, was im fünften Stock bei Raddler passierte. Es war, als hätte er einen siebten Sinn. Die Bilder waren so realistisch, dass der Sozialarbeiter selbst an seinem Feierabend Dinge sah, die ihm den Magen umdrehten. Außerdem konnte er die Wohnung sehen. Jeden Einrichtungsgegenstand, der für den Gestank verantwortlich war, der immer noch in seiner Kleidung hing, als wollte dieser Mix aus Alkohol, Rauch und Schweiß ihn ermahnen, nicht zu vergessen. Er sah den Gürtel, der im Flur hing und er wusste, warum er dort hing. Er sah die Hand, die nach dem Gürtel griff und....
Nils zwang sich die Augen zu öffnen, weil er dies nicht sehen wollte, nicht allein die schwere Verantwortung tragen wollte. Jeder könnte dies doch sehen. Vielleicht würden die Nachbarn heute Abend, wenn wieder die Geräusche erklangen, einfach einmal selbst nach dem Rechten schauen.

Er saß am Steuer, ohne dass er wusste, wie er dort hingekommen war. Fahren würde ihm jetzt sicher guttun. Er musste die Augen öffnen und sich auf den Straßenverkehr konzentrieren. Er würde jedes Verkehrsschild genießen. Eine geregelte Welt, in der es keine Grauzone gab und in die er mit seinem Auto eintauchen konnte. Polizisten, die alles regelten, alle Sünden bestraften. Ein Kind am Straßenrand. Er drehte den Kopf zu schnell zur anderen Seite. Sie war genauso alt, hatte aber wohl keine blauen Flecke, keine Zahnlücken, wo diese nicht sein sollten. Nils rieb sich die blauen Augen. „Beachte die Regeln“, sagte er, als würde er mit seinem Auto sprechen. Und wenn sein Kleinwagen hätte antworten können, dann hätte er wohl gesagt: „Beachte selbst die Regeln – sieh hin!“ Aber der blauäugige Sozialarbeiter hatte Glück. Sein Auto sprach nicht.

Dafür spielte sein Radio „Sweet child of mine“ und er schaltete hastig ab. Vergeblich. Der Song lief in seinem Kopf weiter und produzierte wieder ihr misshandeltes Gesicht, obwohl er jedes dieser unscheinbaren Vorfahrtsschilder anstarrte, als ginge es um sein Leben. Aber das half alles nichts. Nils konzentrierte sich auf seine Freundin und ihm fiel ein, dass sie über Kinder gesprochen hatten. Eigene Kinder, die ihm die Möglichkeit geben würden, alle Fehler des Sozialarbeiters Meinel wieder ungeschehen zu machen. Verdammt, er könnte in diesem Ghetto wahrscheinlich hundert Kinder adoptieren. Wieder ein Vorfahrtsschild, das seine Aufmerksamkeit forderte. Hier hatte er Vorfahrt und andere Menschen akzeptierten dies. Warum war es in seinem Leben nicht so einfach? Noch einmal ließ er geräuschvoll die Luft ab, verdrängte die Bilder der letzten Minuten dieses Arbeitstages und fütterte sein Magengeschwür damit.
 



 
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