Vor dem großen schmiedeeisernen Tor....

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HajoBe

Mitglied
Erste Strahlen der Frühlingssonne fallen durch laublose Bäume.Von einer Bank im Park schaue ich auf das schmiedeeiserne Tor des gegenüber liegenden Zentralfriedhofs. Menschen betreten ihn und verhalten ihre Schritte, andere verlassen den Friedhof und tauchen wieder ein in die Hektik der pulsierenden Großstadt.

Eine ältere Frau tritt auf mich zu. Ihr abgenutzter Mantel hängt von gebeugten Schultern. Die Füße stecken in lehmverschmutzten Fellstiefeln. Sie blickt mich gedankenverloren an. Dennoch meine ich ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu entdecken als sie mich anspricht:
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
"Ja, selbstverständlich."
Sie nimmt in einigem Abstand zu mir Platz und stellt einen mit Zeitungen gefüllten Weidenkorb zwischen sich und mich auf die Bank. Ihre Handschuhe hat sie ausgezogen und in den Manteltaschen verwahrt. Sie lehnt sich zurück mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich als wolle sie mir etwas mitteilen. Da ich zu keinem Gespräch aufgelegt bin wende ich mich halb ab und vertiefe mich in die Lektüre älterer Nachrichten auf meinem Handy.

Sie nimmt den Korb auf ihren Schoß. Beginnt nach irgendetwas darin zu suchen. Die Zeitungen drückt sie dabei sorgsam zur Seite. Schließlich fördert sie eine Schere zutage.
Mir fällt auf, dass es sich um herausgetrennte Zeitungsseiten des Anzeigenteils handelt. Die Menge der Blätter deutet auf mehrere Ausgaben hin.
Anfangs wenig interessiert beobachte ich sie jetzt aufmerksamer. Den Korb hat sie vor sich auf die Erde gestellt, rückt ein wenig von mir ab, wischt mit dem Ärmel über die Sitzfläche der Bank und breitet ein Blatt aus. Darauf Todesanzeigen.
Sie sind unterschiedlich groß. Teils schwarz gerahmt zeigen sie kleine Bilder von Blumen oder Kreuze. Einige nehmen augenfällig die halbe Seite ein, andere zwängen sich bescheiden in einen Winkel des Zeitungsblattes.
"Störe ich Sie?" fragt sie mich.
"Aber nein, keineswegs."
Meine Neugier ist geweckt. Mit der Schere beginnt sie einzelne Todesmitteilungen auszuschneiden, stapelt diese sorgfältig neben sich und beschwert sie mit einem Brillenetui.
Die Zeitungsränder knüllt sie zusammen und wirft sie in den neben der Bank stehenden Papierkorb.
So verfährt sie auch mit den folgenden Zeitungsseiten. Allerdings nicht mit jeder. Sie liest sie aufmerksam bevor sie die Schere ansetzt..Manche wirft sie sofort weg sorgfältig und fast liebevoll zusammengefaltet als empfände sie respektvolle Ehrfurcht vor dem Toten und der letzten ihn betreffenden Nachricht.

Nach einiger Zeit sind die Seiten alle zerteilt, sie legt die Ausschnitte in den Korb und zündet sich eine Zigarette an.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?"
"Nein, ich habe früher auch geraucht...." gebe ich wie zur Erklärung zurück.
Mir liegt auf der Zunge sie zu fragen weswegen sie die Anzeigen ausschneidet. Aber es geht mich eigentlich nichts an.
Sie raucht mit schnellen und hastigen Zügen, drückt schließlich die Kippe an ihrer Schuhsohle aus, tritt noch einmal drauf und lehnt sich mit einem leichten Seufzer zurück.
Dann wendet sie sich mir zu:
"Lesen Sie auch die Todesanzeigen in der Zeitung?"
"Nein, es sei denn ich habe den Toten gekannt" erwidere ich.
"Ich lese sie alle und kenne Niemanden" bedeutet sie mir und greift erneut zur Schere.
Auf dem Zeitungsausschnitt in ihrer Hand lese ich:
<Wir nehmen in tiefer Trauer Abschied von Herrn Prof.Dr.Dr.h.c.Wilhelm Alois Maier........>
Sie bewegt geschickt die Schere auf den Namenszug zu. Dann schneidet sie nacheinander den Professor, den Doktor und schließlich den Doktor h.c. weg. Es verbleibt nur noch der Name. Doch auch der Maier fällt der Schere zum Opfer.
Auf dem winzigen Papierschnitzel steht jetzt nur noch: Wilhelm Alois.

Sie zieht eine kleine Blechschachtel aus dem Korb, legt den Namen hinein und schließt die Dose.
Es folgen weitere Zettel, deren Aufschrift sie alle nach Entfernung akademischer Titel, von Berufsbezeichnungen oder sonstigen Hinweisen auf das irdische Wirken des Verstorbenen auf den Vornamen reduziert.
Einige der Papierfetzchen sind so klein, dass sie sie mit dem Rücken des Scherenblattes von den Fingerkuppen in die Dose streifen muss. Als eines zu Boden fällt, spießt sie es mit der Scherenspitze sorgsam auf ohne den Namen zu verletzen und gesellt es zu den anderen.

Sie muss die Verwunderung in meinem Gesicht gelesen haben. Meinem offensichtlichen Wunsch zu verstehen was sie tut kommt sie unaufgefordert entgegen.
"Wenn wir tot sind haben wir nur noch unseren Namen. Man gab ihn uns als wir in diese Welt getreten sind. Freilich haben viele Menschen den gleichen Namen, aber wir alle sind einzigartige Wesen mit unserer unverwechselbaren Seele. Der Name ist unsere alleinige echte Identifikation und unsere Seele trägt ihn auch.
Schon der Familienname stellt eine Beziehung zu anderen Menschen - beispielsweise unseren Eltern - her. Und sofort werden Vergleiche angestellt: Du siehst aus wie dein Vater oder du sprichst wie deine Mutter. Und dann die Titel - ehrlich erworben oder erschwindelt oder gekauft und tausendfach auf Visitenkarten und Briefköpfe geschrieben...
Gedruckte Spuren hinterlassen? Wozu das alles bei unserer Vergänglichkeit? Das frage ich mich immer wieder."

Sie unterbricht kurz ihre Rede, steckt sich eine neue Zigarette an. Ich denke bei mir: Welch sonderbare Frau!
Sie bläst den Rauch in die mir abgewandte Richtung. Asche fällt auf ihren Schoß. Sie fährt fort:
"Schließlich finden wir Erwähnung - und bei manchen Menschen ist es das erste Mal in ihrem Leben wenn sie gestorben sind - in einer Todesanzeige. Welch ein Widerspruch! Niemand erklärt wie wir gelebt haben. Wir werden erst amtlich und dann in Form einer Zeitungsannonce für tot erklärt."
Sie hält kurz inne um dann fortzufahren:
"Nach der Geburt gab man uns unseren Vornamen und den Menschen Kenntnis von uns. Oft fehlen die Mittel für eine Anzeige. Dann erfahren die meisten Mitmenschen garnichts. Nicht vom Kommen und nicht vom Gehen. Wir huschen unentdeckt durch die Welt und verlassen sie still wieder."
Sie räuspert sich und scheint über das Gesagte nachzudenken.
"Sie müssen wissen: Ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass die Bestattung auf dem Zentralfriedhof stattfindet, dann komme ich hierher und besuche die frischen Gräber.
Da liegen all die verwelkten Blumen und Kränze mit ihren Nachrufen. Zeugen raschen Vergehens. Noch fehlen die wuchtigen Grabsteine aus schlichtem Sandstein bis teurem Marmor mit ihren Aufschriften, in denen sich das in Stein gehauen wiederholt, was schon in den Todesanzeigen stand.....
Aber jetzt kann man es nicht mehr wegschneiden!"

Nach einer kurzen Pause wendet sie sich erneut an mich:
"Ich weiß nicht ob Sie gläubig sind. Ob Sie an ein Leben nach dem Tode glauben. Aber sollte es das geben, dann werden Sie bei der Wiedergeburt nicht darnach gefragt werden wer Sie waren, was Sie gemacht haben und ob das bedeutsam war. Man wird Ihnen lediglich wieder einen Namen geben wollen. Sie aber werden sagen: Ich habe doch schon einen...."

Sie schaut mich eindringlich an und packt die Dose mit den Papierstreifen in ihren Korb.
Ich frage sie:
"Aber was haben die Zettel mit den Namen zu bedeuten?"
Sie erwidert schon im Aufstehen begriffen:
"Die kleinen Zettel lege ich auf die zugehörigen Gräber. Dann spreche ich den Toten an: Hier hast du deinen Namen! Nur er ist wichtig. Er ist wirklich das Einzige was du vielleicht brauchen wirst. Nimm ihn mit! Ich habe ihn dir ausgeschnitten aus der Zeitung. Da stand noch mehr über dich. Musst es nicht wissen. Ist ohne Bedeutung. Deine Seele und ihr Name ist unsterblich."

Sie geht grußlos davon den Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu.
Ich - bleibe ein wenig ratlos zurück.
 

HajoBe

Mitglied
Strahlen der Frühlingssonne fallen durch laublose Bäume. Von einer Bank im Park schaue ich auf das schmiedeeiserne Tor des gegenüber liegenden Zentralfriedhofs.

Eine ältere Frau tritt auf mich zu. Ihr abgenutzter Mantel hängt von gebeugten Schultern. Die Füße stecken in lehmverschmutzten Fellstiefeln. Sie blickt mich gedankenverloren an. Ich meine ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu entdecken als sie mich anspricht:
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
"Ja, selbstverständlich."
Sie nimmt in einigem Abstand zu mir Platz. Stellt einen mit Zeitungen gefüllten Weidenkorb zwischen sich und mich. Ihre Handschuhe hat sie ausgezogen und in den Manteltaschen verwahrt. Sie lehnt sich zurück mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich. Will sie mir etwas mitteilen? Ich bin zu keinem Gespräch aufgelegt, wende ich mich halb ab und vertiefe mich in die Lektüre älterer Nachrichten auf meinem Handy.

Sie nimmt den Korb auf ihren Schoß. Beginnt darin nach etwas zu suchen. Die herausgetrennten Zeitungsseiten - Anzeigenteil - drückt sie zur Seite. Schließlich fördert sie eine Schere zutage.
Beobachte sie jetzt aufmerksamer. Den Korb hat sie vor sich auf die Erde gestellt, rückt ein wenig von mir ab, wischt mit dem Ärmel über die Sitzfläche der Bank und breitet ein Blatt aus. Darauf Todesanzeigen. Unterschiedlich groß, teils schwarz gerahmt zeigen sie Bilder von Blumen oder Kreuze. Einige nehmen augenfällig die halbe Seite ein, andere zwängen sich bescheiden in einen Winkel des Zeitungsblattes.
"Störe ich Sie?" fragt sie mich.
"Aber nein, keineswegs."
Meine Neugier ist geweckt. Mit der Schere schneidet sie die Todesmitteilungen aus. Stapelt sie neben sich.
Die Zeitungsränder knüllt sie zusammen. Wirft sie in den neben der Bank stehenden Papierkorb.
So verfährt sie mit zahlreichen Zeitungsseiten. Sie liest sie aufmerksam bevor sie die Schere ansetzt. Manche wirft sie sofort weg sorgfältig und fast liebevoll zusammengefaltet. Empfindet sie respektvolle Ehrfurcht vor dem Toten und der letzten ihn betreffenden Nachricht?

Die Seiten sind zerteilt. Sie legt die Ausschnitte in den Korb. Zündet sich eine Zigarette an.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?"
"Nein, ich habe früher auch geraucht...." gebe ich zurück.
Mir liegt auf der Zunge zu fragen weswegen sie die Anzeigen ausschneidet. Aber es geht mich nichts an.
Sie raucht mit schnellen und hastigen Zügen, drückt schließlich die Kippe an ihrer Schuhsohle aus, tritt noch einmal drauf und lehnt sich mit einem leichten Seufzer zurück.
Dann wendet sie sich an mich:
"Lesen Sie auch die Todesanzeigen in der Zeitung?"
"Nein, es sei denn ich habe den Toten gekannt" erwidere ich.
"Ich lese sie alle und kenne Niemanden" bedeutet sie mir und greift erneut zur Schere.
Auf dem Zeitungsausschnitt in ihrer Hand lese ich:
<Wir nehmen in tiefer Trauer Abschied von Herrn Prof.Dr.Dr.h.c.Wilhelm Alois Maier........>
Sie bewegt geschickt die Schere auf den Namenszug zu. Schneidet den Professor, den Doktor und schließlich den Doktor h.c. weg. Es bleibt nur noch der Name. Doch auch der Maier fällt der Schere zum Opfer.
Auf dem winzigen Papierschnitzel steht: Wilhelm Alois.

Sie zieht eine kleine Blechschachtel aus dem Korb, legt den Namen hinein, schließt die Dose.
Es folgen weitere Zettel. Sie entfernt Titel, Berufsbezeichnungen oder sonstige Hinweise auf das irdische Wirken des Verblichenen.
Einige der Papierfetzchen sind so klein, dass sie sie mit dem Rücken des Scherenblattes aus ihrer Hand in die Dose streifen muss. Eines fällt zu Boden. Sie spießt es mit der Scherenspitze auf - sorgsam - ohne den Namen zu verletzen und gesellt es zu den anderen.

Hat sie die Verwunderung in meinem Gesicht gelesen? Meinem offensichtlichen Wunsch zu verstehen was sie tut kommt sie unaufgefordert entgegen.
"Wenn wir tot sind haben wir nur noch unseren Namen. Man gab ihn uns als wir in diese Welt getreten sind. Freilich haben viele Menschen den gleichen Namen, aber wir alle sind einzigartige Wesen mit unserer unverwechselbaren Seele. Der Name ist unsere alleinige Identifikation. Unsere Seele trägt ihn auch.
Schon der Familienname stellt eine Beziehung zu anderen Menschen - beispielsweise unseren Eltern - her. Sogleich werden Vergleiche angestellt: Du siehst aus wie dein Vater oder du sprichst wie deine Mutter. Und dann die Titel - ehrlich erworben, erschwindelt oder gekauft und tausendfach auf Visitenkarten und Briefköpfe geschrieben...
Gedruckt Spuren hinterlassen? Wozu - bei unserer Vergänglichkeit? Das frage ich mich."

Sie unterbricht kurz, steckt sich eine neue Zigarette an. Ich denke bei mir: Welch sonderbare Frau!
Sie bläst den Rauch in die mir abgewandte Richtung. Asche fällt auf ihren Schoß. Sie fährt fort:
"Schließlich finden wir Erwähnung - und manche Menschen das erste Mal in ihrem Leben wenn sie gestorben sind - in einer Todesanzeige. Welch ein Widerspruch! Niemand erklärt wie wir gelebt haben. Wir werden erst amtlich und dann in Form einer Zeitungsannonce für tot erklärt."
Sie hält kurz inne um dann fortzufahren:
"Nach der Geburt gab man uns Vornamen und den Menschen Kenntnis von uns. Oft fehlen die Mittel für eine Anzeige. Dann erfahren die meisten Mitmenschen garnichts. Nicht vom Kommen - nicht vom Gehen. Wir huschen unentdeckt durch die Welt und verlassen sie still wieder."
Sie räuspert sich und scheint über das Gesagte nachzudenken.
"Sie müssen wissen: Ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass die Bestattung auf dem Zentralfriedhof stattfindet, dann komme ich hierher. Besuche die frischen Gräber.
Da liegen die verwelkten Blumen und Kränze mit den Nachrufen. Zeugen raschen Vergehens. Noch fehlen die wuchtigen Grabsteine aus schlichtem Sandstein bis teurem Marmor mit Aufschriften, die in Stein gehauen wiedergeben, was schon in den Todesanzeigen stand.....
Aber jetzt kann man es nicht mehr wegschneiden!"

Nach kurzer Pause wendet sie sich erneut an mich:
"Ich weiß nicht ob Sie gläubig sind. Ob Sie an ein Leben nach dem Tode glauben. Aber sollte es das geben, dann werden Sie bei der Wiedergeburt nicht gefragt wer Sie waren, was Sie gemacht haben und ob das bedeutsam war. Man wird Ihnen lediglich wieder einen Namen geben wollen. Sie aber werden sagen: Ich habe doch schon einen...."

Sie schaut mich eindringlich an und packt die Dose mit den Papierstreifen in ihren Korb.
Ich frage sie:
"Aber was haben die Zettel mit den Namen zu bedeuten?"
Sie erwidert schon im Aufstehen begriffen:
"Die kleinen Zettel lege ich auf die zugehörigen Gräber. Dann spreche ich zum Toten: Hier hast du deinen Namen! Er ist wichtig. Er ist das Einzige was du vielleicht brauchen wirst. Nimm ihn mit! Ich habe ihn dir ausgeschnitten aus der Zeitung. Da stand noch mehr über dich. Musst es nicht wissen. Ist ohne Bedeutung. Deine Seele und ihr Name ist unsterblich."

Sie geht grußlos davon den Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu.
Ich - bleibe ein wenig ratlos zurück.
 

HajoBe

Mitglied
Strahlen der Frühlingssonne fallen durch laublose Bäume. Von einer Bank im Park schaue ich auf das schmiedeeiserne Tor des gegenüber liegenden Zentralfriedhofs. Menschen verhaltenen Schrittes, tragen Blumen.

Eine ältere Frau tritt auf mich zu. Ihr abgenutzter Mantel hängt von gebeugten Schultern. Die Füße stecken in lehmverschmutzten Fellstiefeln. Sie blickt mich gedankenverloren an. Ich meine ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu entdecken als sie mich anspricht:
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
"Ja, selbstverständlich."
Sie nimmt in einigem Abstand zu mir Platz. Stellt einen mit Zeitungen gefüllten Weidenkorb zwischen sich und mich. Ihre Handschuhe hat sie ausgezogen und in den Manteltaschen verwahrt. Sie lehnt sich zurück mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich. Will sie mir etwas mitteilen? Ich bin zu keinem Gespräch aufgelegt, wende ich mich halb ab und vertiefe mich in die Lektüre älterer Nachrichten auf meinem Handy.

Sie nimmt den Korb auf ihren Schoß. Beginnt darin nach etwas zu suchen. Die herausgetrennten Zeitungsseiten - Anzeigenteil - drückt sie zur Seite. Schließlich fördert sie eine Schere zutage.
Beobachte sie jetzt aufmerksamer. Den Korb hat sie vor sich auf die Erde gestellt, rückt ein wenig von mir ab, wischt mit dem Ärmel über die Sitzfläche der Bank und breitet ein Blatt aus. Darauf Todesanzeigen. Unterschiedlich groß, teils schwarz gerahmt zeigen sie Bilder von Blumen oder Kreuze. Einige nehmen augenfällig die halbe Seite ein, andere zwängen sich bescheiden in einen Winkel des Zeitungsblattes.
"Störe ich Sie?" fragt sie mich.
"Aber nein, keineswegs."
Meine Neugier ist geweckt. Mit der Schere schneidet sie die Todesmitteilungen aus. Stapelt sie neben sich.
Die Zeitungsränder knüllt sie zusammen. Wirft sie in den neben der Bank stehenden Papierkorb.
So verfährt sie mit zahlreichen Zeitungsseiten. Sie liest sie aufmerksam bevor sie die Schere ansetzt. Manche wirft sie sofort weg sorgfältig und fast liebevoll zusammengefaltet. Empfindet sie respektvolle Ehrfurcht vor dem Toten und der letzten ihn betreffenden Nachricht?

Die Seiten sind zerteilt. Sie legt die Ausschnitte in den Korb. Zündet sich eine Zigarette an.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?"
"Nein, ich habe früher auch geraucht...." gebe ich zurück.
Mir liegt auf der Zunge zu fragen weswegen sie die Anzeigen ausschneidet. Aber es geht mich nichts an.
Sie raucht mit schnellen und hastigen Zügen, drückt schließlich die Kippe an ihrer Schuhsohle aus, tritt noch einmal drauf und lehnt sich mit einem leichten Seufzer zurück.
Dann wendet sie sich an mich:
"Lesen Sie auch die Todesanzeigen in der Zeitung?"
"Nein, es sei denn ich habe den Toten gekannt" erwidere ich.
"Ich lese sie alle und kenne Niemanden" bedeutet sie mir und greift erneut zur Schere.
Auf dem Zeitungsausschnitt in ihrer Hand lese ich:
<Wir nehmen in tiefer Trauer Abschied von Herrn Prof.Dr.Dr.h.c.Wilhelm Alois Maier........>
Sie bewegt geschickt die Schere auf den Namenszug zu. Schneidet den Professor, den Doktor und schließlich den Doktor h.c. weg. Es bleibt nur noch der Name. Doch auch der Maier fällt der Schere zum Opfer.
Auf dem winzigen Papierschnitzel steht: Wilhelm Alois.

Sie zieht eine kleine Blechschachtel aus dem Korb, legt den Namen hinein, schließt die Dose.
Es folgen weitere Zettel. Sie entfernt Titel, Berufsbezeichnungen oder sonstige Hinweise auf das irdische Wirken des Verblichenen.
Einige der Papierfetzchen sind so klein, dass sie sie mit dem Rücken des Scherenblattes aus ihrer Hand in die Dose streifen muss. Eines fällt zu Boden. Sie spießt es mit der Scherenspitze auf - sorgsam - ohne den Namen zu verletzen und gesellt es zu den anderen.

Hat sie die Verwunderung in meinem Gesicht gelesen? Meinem offensichtlichen Wunsch zu verstehen was sie tut kommt sie unaufgefordert entgegen.
"Wenn wir tot sind haben wir nur noch unseren Namen. Man gab ihn uns als wir in diese Welt getreten sind. Freilich haben viele Menschen den gleichen Namen, aber wir alle sind einzigartige Wesen mit unserer unverwechselbaren Seele. Der Name ist unsere alleinige Identifikation. Unsere Seele trägt ihn auch.
Schon der Familienname stellt eine Beziehung zu anderen Menschen - beispielsweise unseren Eltern - her. Sogleich werden Vergleiche angestellt: Du siehst aus wie dein Vater oder du sprichst wie deine Mutter. Und dann die Titel - ehrlich erworben, erschwindelt oder gekauft und tausendfach auf Visitenkarten und Briefköpfe geschrieben...
Gedruckt Spuren hinterlassen? Wozu - bei unserer Vergänglichkeit? Das frage ich mich."

Sie unterbricht kurz, steckt sich eine neue Zigarette an. Ich denke bei mir: Welch sonderbare Frau!
Sie bläst den Rauch in die mir abgewandte Richtung. Asche fällt auf ihren Schoß. Sie fährt fort:
"Schließlich finden wir Erwähnung - und manche Menschen das erste Mal in ihrem Leben wenn sie gestorben sind - in einer Todesanzeige. Welch ein Widerspruch! Niemand erklärt wie wir gelebt haben. Wir werden erst amtlich und dann in Form einer Zeitungsannonce für tot erklärt."
Sie hält kurz inne um dann fortzufahren:
"Nach der Geburt gab man uns Vornamen und den Menschen Kenntnis von uns. Oft fehlen die Mittel für eine Anzeige. Dann erfahren die meisten Mitmenschen garnichts. Nicht vom Kommen - nicht vom Gehen. Wir huschen unentdeckt durch die Welt und verlassen sie still wieder."
Sie räuspert sich und scheint über das Gesagte nachzudenken.
"Sie müssen wissen: Ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass die Bestattung auf dem Zentralfriedhof stattfindet, dann komme ich hierher. Besuche die frischen Gräber.
Da liegen die verwelkten Blumen und Kränze mit den Nachrufen. Zeugen raschen Vergehens. Noch fehlen die wuchtigen Grabsteine aus schlichtem Sandstein bis teurem Marmor mit Aufschriften, die in Stein gehauen wiedergeben, was schon in den Todesanzeigen stand.....
Aber jetzt kann man es nicht mehr wegschneiden!"

Nach kurzer Pause wendet sie sich erneut an mich:
"Ich weiß nicht ob Sie gläubig sind. Ob Sie an ein Leben nach dem Tode glauben. Aber sollte es das geben, dann werden Sie bei der Wiedergeburt nicht gefragt wer Sie waren, was Sie gemacht haben und ob das bedeutsam war. Man wird Ihnen lediglich wieder einen Namen geben wollen. Sie aber werden sagen: Ich habe doch schon einen...."

Sie schaut mich eindringlich an und packt die Dose mit den Papierstreifen in ihren Korb.
Ich frage sie:
"Aber was haben die Zettel mit den Namen zu bedeuten?"
Sie erwidert schon im Aufstehen begriffen:
"Die kleinen Zettel lege ich auf die zugehörigen Gräber. Dann spreche ich zum Toten: Hier hast du deinen Namen! Er ist wichtig. Er ist das Einzige was du vielleicht brauchen wirst. Nimm ihn mit! Ich habe ihn dir ausgeschnitten aus der Zeitung. Da stand noch mehr über dich. Musst es nicht wissen. Ist ohne Bedeutung. Deine Seele und ihr Name ist unsterblich."

Sie geht grußlos davon den Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu.
Ich - bleibe ein wenig ratlos zurück.
 

HajoBe

Mitglied
Strahlen der Frühlingssonne fallen durch laublose Bäume. Von einer Bank im Park schaue ich auf das schmiedeeiserne Tor des gegenüber liegenden Zentralfriedhofs. Menschen verhaltenen Schrittes, tragen Blumen.

Eine ältere Frau tritt auf mich zu. Ihr abgenutzter Mantel hängt von gebeugten Schultern. Die Füße stecken in lehmverschmutzten Fellstiefeln. Sie blickt mich gedankenverloren an. Ich meine ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu entdecken als sie mich anspricht:
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
"Ja, selbstverständlich."
Sie nimmt in einigem Abstand zu mir Platz. Stellt einen mit Zeitungen gefüllten Weidenkorb zwischen sich und mich. Ihre Handschuhe hat sie ausgezogen und in den Manteltaschen verwahrt. Sie lehnt sich zurück mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich. Will sie mir etwas mitteilen? Ich bin zu keinem Gespräch aufgelegt, wende ich mich halb ab und vertiefe mich in die Lektüre älterer Nachrichten auf meinem Handy.

Sie nimmt den Korb auf ihren Schoß. Beginnt darin nach etwas zu suchen. Die herausgetrennten Zeitungsseiten - Anzeigenteil - drückt sie zur Seite. Schließlich fördert sie eine Schere zutage.
Beobachte sie jetzt aufmerksamer. Den Korb hat sie vor sich auf die Erde gestellt, rückt ein wenig von mir ab, wischt mit dem Ärmel über die Sitzfläche der Bank und breitet ein Blatt aus. Darauf Todesanzeigen. Unterschiedlich groß, teils schwarz gerahmt zeigen sie Bilder von Blumen oder Kreuze. Einige nehmen augenfällig die halbe Seite ein, andere zwängen sich bescheiden in einen Winkel des Zeitungsblattes.
"Störe ich Sie?" fragt sie mich.
"Aber nein, keineswegs."
Meine Neugier ist geweckt. Mit der Schere schneidet sie die Todesmitteilungen aus. Stapelt sie neben sich.
Die Zeitungsränder knüllt sie zusammen. Wirft sie in den neben der Bank stehenden Papierkorb.
So verfährt sie mit zahlreichen Zeitungsseiten. Sie liest sie aufmerksam bevor sie die Schere ansetzt. Manche wirft sie sofort weg sorgfältig und fast liebevoll zusammengefaltet. Empfindet sie respektvolle Ehrfurcht vor dem Toten und der letzten ihn betreffenden Nachricht?

Die Seiten sind zerteilt. Sie legt die Ausschnitte in den Korb. Zündet sich eine Zigarette an.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?"
"Nein, ich habe früher auch geraucht...." gebe ich zurück.
Mir liegt auf der Zunge zu fragen weswegen sie die Anzeigen ausschneidet. Aber es geht mich nichts an.
Sie raucht mit schnellen und hastigen Zügen, drückt schließlich die Kippe an ihrer Schuhsohle aus, tritt noch einmal drauf und lehnt sich mit einem leichten Seufzer zurück.
Dann wendet sie sich an mich:
"Lesen Sie auch die Todesanzeigen in der Zeitung?"
"Nein, es sei denn ich habe den Toten gekannt" erwidere ich.
"Ich lese sie alle und kenne Niemanden" bedeutet sie mir und greift erneut zur Schere.
Auf dem Zeitungsausschnitt in ihrer Hand lese ich:
<Wir nehmen in tiefer Trauer Abschied von Herrn Prof.Dr.Dr.h.c.Wilhelm Alois Maier........>
Sie bewegt geschickt die Schere auf den Namenszug zu. Schneidet den Professor, den Doktor und schließlich den Doktor h.c. weg. Es bleibt nur noch der Name. Doch auch der Maier fällt der Schere zum Opfer.
Auf dem winzigen Papierschnitzel steht: Wilhelm Alois.

Sie zieht eine kleine Blechschachtel aus dem Korb, legt den Namen hinein, schließt die Dose.
Es folgen weitere Zettel. Sie entfernt Titel, Berufsbezeichnungen oder sonstige Hinweise auf das irdische Wirken des Verblichenen.
Einige der Papierfetzchen sind so klein, dass sie sie mit dem Rücken des Scherenblattes aus ihrer Hand in die Dose streifen muss. Eines fällt zu Boden. Sie spießt es mit der Scherenspitze auf - sorgsam - ohne den Namen zu verletzen und gesellt es zu den anderen.

Hat sie die Verwunderung in meinem Gesicht gelesen? Meinem offensichtlichen Wunsch zu verstehen was sie tut kommt sie unaufgefordert entgegen.
"Wenn wir tot sind haben wir nur noch unseren Namen. Man gab ihn uns als wir in diese Welt getreten sind. Freilich haben viele Menschen den gleichen Namen, aber wir alle sind einzigartige Wesen mit unserer unverwechselbaren Seele. Der Name ist unsere alleinige Identifikation. Unsere Seele trägt ihn auch.
Schon der Familienname stellt eine Beziehung zu anderen Menschen - beispielsweise unseren Eltern - her. Sogleich werden Vergleiche angestellt: Du siehst aus wie dein Vater oder du sprichst wie deine Mutter. Oder denken Sie an den vormaligen heiratsbedingten Namensverlust der Frau, wenn sie "in neuen Besitz überging". Und dann die Titel - ehrlich erworben, erschwindelt oder gekauft und tausendfach auf Visitenkarten und Briefköpfe geschrieben...
Gedruckt Spuren hinterlassen? Wozu - bei unserer Vergänglichkeit? Das frage ich mich."

Sie unterbricht kurz, steckt sich eine neue Zigarette an. Ich denke bei mir: Welch sonderbare Frau!
Sie bläst den Rauch in die mir abgewandte Richtung. Asche fällt auf ihren Schoß. Sie fährt fort:
"Schließlich finden wir Erwähnung - und manche Menschen das erste Mal in ihrem Leben wenn sie gestorben sind - in einer Todesanzeige. Welch ein Widerspruch! Niemand erklärt wie wir gelebt haben. Wir werden erst amtlich und dann in Form einer Zeitungsannonce für tot erklärt."
Sie hält kurz inne um dann fortzufahren:
"Nach der Geburt gab man uns Vornamen und den Menschen Kenntnis von uns. Oft fehlen die Mittel für eine Anzeige. Dann erfahren die meisten Mitmenschen garnichts. Nicht vom Kommen - nicht vom Gehen. Wir huschen unentdeckt durch die Welt und verlassen sie still wieder."
Sie räuspert sich und scheint über das Gesagte nachzudenken.
"Sie müssen wissen: Ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass die Bestattung auf dem Zentralfriedhof stattfindet, dann komme ich hierher. Besuche die frischen Gräber.
Da liegen die verwelkten Blumen und Kränze mit den Nachrufen. Zeugen raschen Vergehens. Noch fehlen die wuchtigen Grabsteine aus schlichtem Sandstein bis teurem Marmor mit Aufschriften, die in Stein gehauen wiedergeben, was schon in den Todesanzeigen stand.....
Aber jetzt kann man es nicht mehr wegschneiden!"

Nach kurzer Pause wendet sie sich erneut an mich:
"Ich weiß nicht ob Sie gläubig sind. Ob Sie an ein Leben nach dem Tode glauben. Aber sollte es das geben, dann werden Sie bei der Wiedergeburt nicht gefragt wer Sie waren, was Sie gemacht haben und ob das bedeutsam war. Man wird Ihnen lediglich wieder einen Namen geben wollen. Sie aber werden sagen: Ich habe doch schon einen...."

Sie schaut mich eindringlich an und packt die Dose mit den Papierstreifen in ihren Korb.
Ich frage sie:
"Aber was haben die Zettel mit den Namen zu bedeuten?"
Sie erwidert schon im Aufstehen begriffen:
"Die kleinen Zettel lege ich auf die zugehörigen Gräber. Dann spreche ich zum Toten: Hier hast du deinen Namen! Er ist wichtig. Er ist das Einzige was du vielleicht brauchen wirst. Nimm ihn mit! Ich habe ihn dir ausgeschnitten aus der Zeitung. Da stand noch mehr über dich. Musst es nicht wissen. Ist ohne Bedeutung. Deine Seele und ihr Name ist unsterblich."

Sie geht grußlos davon den Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu.
Ich - bleibe ein wenig ratlos zurück.
 

HajoBe

Mitglied
Strahlen der Frühlingssonne fallen durch laublose Bäume. Von einer Bank im Park schaue ich auf das schmiedeeiserne Tor des gegenüber liegenden Zentralfriedhofs. Menschen verhaltenen Schrittes, tragen Blumen.

Eine ältere Frau tritt auf mich zu. Ihr abgenutzter Mantel hängt von gebeugten Schultern. Die Füße stecken in lehmverschmutzten Fellstiefeln. Sie blickt mich gedankenverloren an. Ich meine ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu entdecken als sie mich anspricht:
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
"Ja, selbstverständlich."
Sie nimmt in einigem Abstand zu mir Platz. Stellt einen mit Zeitungen gefüllten Weidenkorb zwischen sich und mich. Ihre Handschuhe hat sie ausgezogen und in den Manteltaschen verwahrt. Sie lehnt sich zurück mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich. Will sie mir etwas mitteilen? Ich bin zu keinem Gespräch aufgelegt, wende ich mich halb ab und vertiefe mich in die Lektüre älterer Nachrichten auf meinem Handy.

Sie nimmt den Korb auf ihren Schoß. Beginnt darin nach etwas zu suchen. Die herausgetrennten Zeitungsseiten - Anzeigenteil - drückt sie zur Seite. Schließlich fördert sie eine Schere zutage.
Beobachte sie jetzt aufmerksamer. Den Korb hat sie vor sich auf die Erde gestellt, rückt ein wenig von mir ab, wischt mit dem Ärmel über die Sitzfläche der Bank und breitet ein Blatt aus. Darauf Todesanzeigen. Unterschiedlich groß, teils schwarz gerahmt zeigen sie Bilder von Blumen oder Kreuze. Einige nehmen augenfällig die halbe Seite ein, andere zwängen sich bescheiden in einen Winkel des Zeitungsblattes.
"Störe ich Sie?" fragt sie mich.
"Aber nein, keineswegs."
Meine Neugier ist geweckt. Mit der Schere schneidet sie die Todesmitteilungen aus. Stapelt sie neben sich.
Die Zeitungsränder knüllt sie zusammen. Wirft sie in den neben der Bank stehenden Papierkorb.
So verfährt sie mit zahlreichen Zeitungsseiten. Sie liest sie aufmerksam bevor sie die Schere ansetzt. Manche wirft sie sofort weg sorgfältig und fast liebevoll zusammengefaltet. Empfindet sie respektvolle Ehrfurcht vor dem Toten und der letzten ihn betreffenden Nachricht?

Die Seiten sind zerteilt. Sie legt die Ausschnitte in den Korb. Zündet sich eine Zigarette an.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?"
"Nein, ich habe früher auch geraucht...." gebe ich zurück.
Mir liegt auf der Zunge zu fragen weswegen sie die Anzeigen ausschneidet. Aber es geht mich nichts an.
Sie raucht mit schnellen und hastigen Zügen, drückt schließlich die Kippe an ihrer Schuhsohle aus, tritt noch einmal drauf und lehnt sich mit einem leichten Seufzer zurück.
Dann wendet sie sich an mich:
"Lesen Sie auch die Todesanzeigen in der Zeitung?"
"Nein, es sei denn ich habe den Toten gekannt" erwidere ich.
"Ich lese sie alle und kenne Niemanden" bedeutet sie mir und greift erneut zur Schere.
Auf dem Zeitungsausschnitt in ihrer Hand lese ich:
<Wir nehmen in tiefer Trauer Abschied von Herrn Prof.Dr.Dr.h.c.Wilhelm Alois Maier........>
Sie bewegt geschickt die Schere auf den Namenszug zu. Schneidet den Professor, den Doktor und schließlich den Doktor h.c. weg. Es bleibt nur noch der Name. Doch auch der Maier fällt der Schere zum Opfer.
Auf dem winzigen Papierschnitzel steht: Wilhelm Alois.

Sie zieht eine kleine Blechschachtel aus dem Korb, legt den Namen hinein, schließt die Dose.
Es folgen weitere Zettel. Sie entfernt Titel, Berufsbezeichnungen oder sonstige Hinweise auf das irdische Wirken des Verblichenen.
Einige der Papierfetzchen sind so klein, dass sie sie mit dem Rücken des Scherenblattes aus ihrer Hand in die Dose streifen muss. Eines fällt zu Boden. Sie spießt es mit der Scherenspitze auf - sorgsam - ohne den Namen zu verletzen und gesellt es zu den anderen.

Hat sie die Verwunderung in meinem Gesicht gelesen? Meinem offensichtlichen Wunsch zu verstehen was sie tut kommt sie unaufgefordert entgegen.
"Wenn wir tot sind haben wir nur noch unseren Namen. Man gab ihn uns als wir in diese Welt getreten sind. Freilich haben viele Menschen den gleichen Namen, aber wir alle sind einzigartige Wesen mit unserer unverwechselbaren Seele. Der Name ist unsere alleinige Identifikation. Unsere Seele trägt ihn auch.
Schon der Familienname stellt eine Beziehung zu anderen Menschen - beispielsweise unseren Eltern - her. Sogleich werden Vergleiche angestellt: Du siehst aus wie dein Vater oder du sprichst wie deine Mutter. Oder denken Sie an den vormaligen heiratsbedingten Namensverlust der Frau, wenn sie "in neuen Besitz überging". Und dann die Titel - ehrlich erworben, erschwindelt oder gekauft und tausendfach auf Visitenkarten und Briefköpfe geschrieben...
Gedruckt Spuren hinterlassen? Wozu - bei unserer Vergänglichkeit? Das frage ich mich."

Sie unterbricht kurz, steckt sich eine neue Zigarette an. Ich denke bei mir: Welch sonderbare Frau!
Sie bläst den Rauch in die mir abgewandte Richtung. Asche fällt auf ihren Schoß. Sie fährt fort:
"Schließlich finden wir Erwähnung - und manche Menschen das erste Mal in ihrem Leben wenn sie gestorben sind - in einer Todesanzeige. Welch ein Widerspruch! Niemand erklärt wie wir gelebt haben. Wir werden erst amtlich und dann in Form einer Zeitungsannonce für tot erklärt."
Sie hält kurz inne um dann fortzufahren:
"Nach der Geburt gab man uns Vornamen und den Menschen Kenntnis von uns. Oft fehlen die Mittel für eine Anzeige. Dann erfahren die meisten Mitmenschen garnichts. Nicht vom Kommen - nicht vom Gehen. Wir huschen unentdeckt durch die Welt und verlassen sie still wieder."
Sie räuspert sich und scheint über das Gesagte nachzudenken.
"Sie müssen wissen: Ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass die Bestattung auf dem Zentralfriedhof stattfindet, dann komme ich hierher. Besuche die frischen Gräber.
Da liegen die verwelkten Blumen und Kränze mit den Nachrufen. Zeugen raschen Vergehens. Noch fehlen die wuchtigen Grabsteine aus schlichtem Sandstein bis teurem Marmor mit Aufschriften, die in Stein gehauen wiedergeben, was schon in den Todesanzeigen stand.....
Aber jetzt kann man es nicht mehr wegschneiden!"

Nach kurzer Pause wendet sie sich erneut an mich:
"Ich weiß nicht ob Sie gläubig sind. Ob Sie an ein Leben nach dem Tode glauben. Aber sollte es das geben, dann werden Sie bei der Wiedergeburt nicht gefragt wer Sie waren, was Sie gemacht haben und ob das bedeutsam war. Man wird Ihnen lediglich wieder einen Namen geben wollen. Sie aber werden sagen: Ich habe doch schon einen...."

Sie schaut mich eindringlich an und packt die Dose mit den Papierstreifen in ihren Korb.
Ich frage sie:
"Aber was haben die Zettel mit den Namen zu bedeuten?"
Sie erwidert schon im Aufstehen begriffen:
"Die kleinen Zettel lege ich auf die zugehörigen Gräber. Dann spreche ich zum Toten: Hier hast du deinen Namen! Er ist wichtig. Er ist das Einzige was du vielleicht brauchen wirst. Nimm ihn mit! Ich habe ihn dir ausgeschnitten aus der Zeitung. Da stand noch mehr über dich. Musst es nicht wissen. Ist ohne Bedeutung. Deine Seele und dein Name allein sind unsterblich."

Sie geht grußlos davon den Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu.
Ich - bleibe ein wenig ratlos zurück.
 
U

USch

Gast
Hallo HaJoBe,
eine sehr schön geschriebene skurrile Geschichte. Im Folgenden fehlende Kommatas und der Vorschlag ein [red]mich [/red]zu streichen:

Unterschiedlich groß, teils schwarz [blue]gerahmt, zeigen [/blue]sie Bilder von Blumen oder Kreuze.

"Störe ich [blue]Sie?", fragt[/blue] sie [strike]mich[/strike].

Manche wirft sie sofort [blue]weg, sorgfältig[/blue] und fast liebevoll zusammengefaltet.

"Ich lese sie alle und kenne [blue]Niemanden", bedeutet[/blue] sie mir und greift erneut zur Schere.

Sie geht grußlos [blue]davon, den[/blue] Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu

LG USch
 

HajoBe

Mitglied
Strahlen der Frühlingssonne fallen durch laublose Bäume. Von einer Bank im Park schaue ich auf das schmiedeeiserne Tor des gegenüber liegenden Zentralfriedhofs. Menschen verhaltenen Schrittes, tragen Blumen.

Eine ältere Frau tritt auf mich zu. Ihr abgenutzter Mantel hängt von gebeugten Schultern. Die Füße stecken in lehmverschmutzten Fellstiefeln. Sie blickt mich gedankenverloren an. Ich meine ein Lächeln um ihre Mundwinkel zu entdecken als sie mich anspricht:
"Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
"Ja, selbstverständlich."
Sie nimmt in einigem Abstand zu mir Platz. Stellt einen mit Zeitungen gefüllten Weidenkorb zwischen sich und mich. Ihre Handschuhe hat sie ausgezogen und in den Manteltaschen verwahrt. Sie lehnt sich zurück mit einem flüchtigen Seitenblick auf mich. Will sie mir etwas mitteilen? Ich bin zu keinem Gespräch aufgelegt, wende ich mich halb ab und vertiefe mich in die Lektüre älterer Nachrichten auf meinem Handy.

Sie nimmt den Korb auf ihren Schoß. Beginnt darin nach etwas zu suchen. Die herausgetrennten Zeitungsseiten - Anzeigenteil - drückt sie zur Seite. Schließlich fördert sie eine Schere zutage.
Beobachte sie jetzt aufmerksamer. Den Korb hat sie vor sich auf die Erde gestellt, rückt ein wenig von mir ab, wischt mit dem Ärmel über die Sitzfläche der Bank und breitet ein Blatt aus. Darauf Todesanzeigen. Unterschiedlich groß, teils schwarz gerahmt, zeigen sie Bilder von Blumen oder Kreuze. Einige nehmen augenfällig die halbe Seite ein, andere zwängen sich bescheiden in einen Winkel des Zeitungsblattes.
"Störe ich Sie?" fragt sie.
"Aber nein, keineswegs."
Meine Neugier ist geweckt. Mit der Schere schneidet sie die Todesmitteilungen aus. Stapelt sie neben sich.
Die Zeitungsränder knüllt sie zusammen. Wirft sie in den neben der Bank stehenden Papierkorb.
So verfährt sie mit zahlreichen Zeitungsseiten. Sie liest sie aufmerksam bevor sie die Schere ansetzt. Manche wirft sie sofort weg, sorgfältig und fast liebevoll zusammengefaltet. Empfindet sie respektvolle Ehrfurcht vor dem Toten und der letzten ihn betreffenden Nachricht?

Die Seiten sind zerteilt. Sie legt die Ausschnitte in den Korb. Zündet sich eine Zigarette an.
"Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?"
"Nein, ich habe früher auch geraucht...." gebe ich zurück.
Mir liegt auf der Zunge zu fragen weswegen sie die Anzeigen ausschneidet. Aber es geht mich nichts an.
Sie raucht mit schnellen und hastigen Zügen, drückt schließlich die Kippe an ihrer Schuhsohle aus, tritt noch einmal drauf und lehnt sich mit einem leichten Seufzer zurück.
Dann wendet sie sich an mich:
"Lesen Sie auch die Todesanzeigen in der Zeitung?"
"Nein, es sei denn ich habe den Toten gekannt" erwidere ich.
"Ich lese sie alle und kenne Niemanden", bedeutet sie mir und greift erneut zur Schere.
Auf dem Zeitungsausschnitt in ihrer Hand lese ich:
<Wir nehmen in tiefer Trauer Abschied von Herrn Prof.Dr.Dr.h.c.Wilhelm Alois Maier........>
Sie bewegt geschickt die Schere auf den Namenszug zu. Schneidet den Professor, den Doktor und schließlich den Doktor h.c. weg. Es bleibt nur noch der Name. Doch auch der Maier fällt der Schere zum Opfer.
Auf dem winzigen Papierschnitzel steht: Wilhelm Alois.

Sie zieht eine kleine Blechschachtel aus dem Korb, legt den Namen hinein, schließt die Dose.
Es folgen weitere Zettel. Sie entfernt Titel, Berufsbezeichnungen oder sonstige Hinweise auf das irdische Wirken des Verblichenen.
Einige der Papierfetzchen sind so klein, dass sie sie mit dem Rücken des Scherenblattes aus ihrer Hand in die Dose streifen muss. Eines fällt zu Boden. Sie spießt es mit der Scherenspitze auf - sorgsam - ohne den Namen zu verletzen und gesellt es zu den anderen.

Hat sie die Verwunderung in meinem Gesicht gelesen? Meinem offensichtlichen Wunsch zu verstehen was sie tut kommt sie unaufgefordert entgegen.
"Wenn wir tot sind haben wir nur noch unseren Namen. Man gab ihn uns als wir in diese Welt getreten sind. Freilich haben viele Menschen den gleichen Namen, aber wir alle sind einzigartige Wesen mit unserer unverwechselbaren Seele. Der Name ist unsere alleinige Identifikation. Unsere Seele trägt ihn auch.
Schon der Familienname stellt eine Beziehung zu anderen Menschen - beispielsweise unseren Eltern - her. Sogleich werden Vergleiche angestellt: Du siehst aus wie dein Vater oder du sprichst wie deine Mutter. Oder denken Sie an den vormaligen heiratsbedingten Namensverlust der Frau, wenn sie "in neuen Besitz überging". Und dann die Titel - ehrlich erworben, erschwindelt oder gekauft und tausendfach auf Visitenkarten und Briefköpfe geschrieben...
Gedruckt Spuren hinterlassen? Wozu - bei unserer Vergänglichkeit? Das frage ich mich."

Sie unterbricht kurz, steckt sich eine neue Zigarette an. Ich denke bei mir: Welch sonderbare Frau!
Sie bläst den Rauch in die mir abgewandte Richtung. Asche fällt auf ihren Schoß. Sie fährt fort:
"Schließlich finden wir Erwähnung - und manche Menschen das erste Mal in ihrem Leben wenn sie gestorben sind - in einer Todesanzeige. Welch ein Widerspruch! Niemand erklärt wie wir gelebt haben. Wir werden erst amtlich und dann in Form einer Zeitungsannonce für tot erklärt."
Sie hält kurz inne um dann fortzufahren:
"Nach der Geburt gab man uns Vornamen und den Menschen Kenntnis von uns. Oft fehlen die Mittel für eine Anzeige. Dann erfahren die meisten Mitmenschen garnichts. Nicht vom Kommen - nicht vom Gehen. Wir huschen unentdeckt durch die Welt und verlassen sie still wieder."
Sie räuspert sich und scheint über das Gesagte nachzudenken.
"Sie müssen wissen: Ich bin Rentnerin und habe Zeit. Und wenn ich in der Zeitung lese, dass die Bestattung auf dem Zentralfriedhof stattfindet, dann komme ich hierher. Besuche die frischen Gräber.
Da liegen die verwelkten Blumen und Kränze mit den Nachrufen. Zeugen raschen Vergehens. Noch fehlen die wuchtigen Grabsteine aus schlichtem Sandstein bis teurem Marmor mit Aufschriften, die in Stein gehauen wiedergeben, was schon in den Todesanzeigen stand.....
Aber jetzt kann man es nicht mehr wegschneiden!"

Nach kurzer Pause wendet sie sich erneut an mich:
"Ich weiß nicht ob Sie gläubig sind. Ob Sie an ein Leben nach dem Tode glauben. Aber sollte es das geben, dann werden Sie bei der Wiedergeburt nicht gefragt wer Sie waren, was Sie gemacht haben und ob das bedeutsam war. Man wird Ihnen lediglich wieder einen Namen geben wollen. Sie aber werden sagen: Ich habe doch schon einen...."

Sie schaut mich eindringlich an und packt die Dose mit den Papierstreifen in ihren Korb.
Ich frage sie:
"Aber was haben die Zettel mit den Namen zu bedeuten?"
Sie erwidert schon im Aufstehen begriffen:
"Die kleinen Zettel lege ich auf die zugehörigen Gräber. Dann spreche ich zum Toten: Hier hast du deinen Namen! Er ist wichtig. Er ist das Einzige was du vielleicht brauchen wirst. Nimm ihn mit! Ich habe ihn dir ausgeschnitten aus der Zeitung. Da stand noch mehr über dich. Musst es nicht wissen. Ist ohne Bedeutung. Deine Seele und dein Name allein sind unsterblich."

Sie geht grußlos davon, den Weidenkorb am Arm auf das schmiedeeiserne Tor zu.
Ich - bleibe ein wenig ratlos zurück.
 



 
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