Vorlieben

casagrande

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Vorlieben

Beim Neubau der Wiener Veterinärmedizinischen Universität in Kagran wurden die Fertigstellungsarbeiten letztlich ausgesprochen hektisch. Wie bei solchen Großbaustellen die Regel, nützen Zeitplanungen und diesbezügliche Kontrollen nur das Ärgste zu verhindern. Um die anberaumten Abnahmeprüfungen mit dem Auftraggeber, dem Ministerium für Wissenschaft, termingerecht zu schaffen, mussten in den letzten Tagen davor rund um die Uhr gearbeitet werden. Die Maler besserten die Schäden aus, die die Schreiner beim Möbeleinbau verursacht hatten. Die Schreiner wiederum beseitigten die Transportschäden. Die Installateure prüften ihre Leitungen und stemmten die Wände auf, die Maler gipsten die Löcher wieder zu. Ein schier endloses Hin und Her. Ein Ende schien nicht in Sicht. Und immer und überall Dreck. Kaum war die Putzkolonne an einer Stelle fertig hatte irgendein Handwerker an einer endgültig fertigen Stelle einen Defekt entdeckt, repariert und seinen Dreck liegen gelassen. Sinnlos, einen Handwerker dazu zu verpflichten, seinen Mist selbst wegzuräumen. Die Putzer waren das untere Ende der Hierarchie und wurden auch entsprechend behandelt.
Aber selbst in dieser Kaste gab es eine Hackordnung. Die war noch wesentlich strenger und brutaler als zwischen Handwerkern und Hilfsarbeitern. Nun ist der Ton auf Baustellen nicht gerade fein. Ob aus Tradition oder Herkunft der Beteiligten sei dahingestellt. Was jedoch zwischen den Putzarbeitern und deren unmittelbaren Aufsichtspersonen abgeht, ist noch eine Stufe schärfer. Selbst die aus dem Osten stammenden, auf den Wiener Baustellen zunehmend agierenden Arbeiter, waren trotz ihrer mangelhaften Deutschkenntnisse über den Ton in dieser Putzgruppe verwundert. Die Putzfrauen stammten vorwiegend aus der Türkei und dem früheren Jugoslawien. Die Männer waren dem Aussehen und Geruch nach entweder Obdachlose oder Alkoholiker. Die Vorgesetzten gaben sich betont cool, wohl so, wie sie sich einen Mafiosi vorstellten oder einen solchen im Kino gesehen hatten. Sie sprachen das bekannte Kanakendeutsch, bei dem nur Insider erkennen können, ob es Deutsche sind, die diese Sprache nachäffen oder Türken, die für sich untereinander diesen Slang entwickelt haben.
S. war aus dem Kosovo und seit vier Jahren in Wien. Ihr Mann war verschollen im Krieg. Der Sohn gerade fünf Jahre alt. Die Verwandtschaft in alle Winde verstreut, ein Onkel im nahen Krems. Ansonsten war sie auf sich gestellt und wegen der herrschenden Gesetze nicht berechtigt, eine Arbeit anzunehmen. Mit den gewährten behördlichen materiellen Hilfen konnte sie zwar überleben, von Lebensinhalt oder Spaß war aber keine Rede. Sie hatte darum die Gelegenheit genutzt und über eine Bekannte mit deren Personalien diese Stelle bei der Putzkolonne angenommen. Natürlich wusste der Putzgruppenleiter über die Hintergründe Bescheid. Und S. wusste auch über seine Vorlieben. Das hatte ihr ihre Bekannte haarklein verraten. Sie selbst wollte den Job nicht mehr machen. Wegen dieser Vorlieben. Sie war verheiratet und hatte Bedenken, dass ihr Mann dahinter käme und es dann zu Mord und Todschlag käme. Ihr selbst hatten die kurzen „Vorlieben“ nichts ausgemacht. Es brachte auch Vorteile. Zumindest bei der Einteilung zu den Arbeiten. Und die Anderen richteten sich danach.
Eine der Vorlieben war: jung und blond. Die andere war: stete Verfügbarkeit. Und noch eine: keine lange Fummelei. Für S. war es ein Schock zu hören, dass ihre als strenggläubig geltende muslimische Bekannte ihrem muslimischen Gruppenführer zu Willen war, nur um ihre Arbeit nicht zu verlieren. Sie fragte bei anderen Bekannten vorsichtig nach und erfuhr, dass dies keine Ausnahme, nein, dass dies die Regel war. Je schlechter bezahlt die Stelle war, umso mieser die Bedingungen. Eine besser bezahlte Arbeit bekamen nur die, deren Papiere in Ordnung waren, deren sozialer Hintergrund besser war, deren Auftreten besser war, deren….
S. war 34 Jahre alt. Sie fand sich immer noch hübsch, früher galt sie als Schönheit in ihrem Dorf. Aber was nützte ihr diese Schönheit, wenn sie damit nichts anfing. Sie überlegte, ob irgendjemand aus ihrem frühren Bekanntenkreis oder einer ihrer Verwandten von einem lasterhaften Betragen etwas erfahren könnten. Es war doch nicht Prostitution, wenn sie die Arbeit annahm und im Zuge dann möglicherweise dem Leiter zu Willen sein musste. Sie redete sich die Situation gut. Und nahm die Putzstelle.
Die Vetrinärmedizinische war ihre erste Putzstelle. Jede Nacht von sechs Uhr Abend bis zum nächsten Tag um Sechs. Die Nachtschicht wurde besser bezahlt. In den ersten vier Nächten war die Hektik allgemein und darum kam es auch zu keiner „Vorliebe“. Jeder schimpfte mit dem Anderen. Sobald der Bauleiter den Polier anfuhr, weil etwas nicht stimmte, etwas nicht gemacht war, etwas dringend zu tun war oder auch nur, weil einfach die Nerven blank lagen, dann ging der Druck von oben nach unten durch. Dann war abzusehen, dass die Schreierei mit Drohungen der Entlassung bei der Putzkolonne enden würde. S. war von diesen Drohungen ausgenommen. Sie fühlte die zunehmende Anspannung, wann sie ihre Rechnung zu bezahlen hätte.
Diplomingenieur Gold war verantwortlich für die Virologie, dem Komplex, in dem die Labors und Versuchsräume für die Virenforschung untergebracht waren. Duschschleusen, Unterdruckräume zur Verhinderung von Kontamination der Umgebung, Sterilausrüstung von Wand und Boden und was deren technische Vorkehrungen noch eingebaut worden waren, um die Bevölkerung der Umgebung in Sicherheit zu wägen. Nur ausgesuchten Personen war es erlaubt, diese Räume nach der vorläufigen Fertigstellung zu betreten. Er, Gold, hatte natürlich den Generalschlüssel. Und der Leiter der Putzkolonne. Der aber nur für diese Nacht und für einige Räume. Als Gold seine Runde machte um nach dem Rechten zu sehen, die Arbeiten zu kontrollieren und die anstehende Abnahme durch den Ministeriumsvertreter vorzubereiten, kam er in einen dieser erwähnten Reinräume. Die vier Personen der Putzkolonne waren bei der Endreinigung mit Desinfektionslösung. Gold sah durch die Luken der Duschschleuse, wie der Kolonnenführer aus dem Nebenraum hereinkam, kurz in die Runde schaute und der jungen Blonden mit dem Finger lässig ein Zeichen gab. Sie ließ ihren Wischer fallen und ging mit ihm in den Nebenraum. Gold sauste zur Unterdruckschleuse, von wo aus ein Einblick in den Nebenraum möglich war. Er musste erst zwei Türen aufsperren um dorthin zu gelangen. Durch die Doppelverglasung der Türe der Schleuse konnte er nur einen Teil des Raumes einsehen. Er sah nur noch, wie sich der Mann durchs Haar fuhr, die Blonde rückte ihren Rock zurecht.
Gold war unschlüssig, was er tun solle. Er entschied, sich nicht einzumischen. Die Blonde hätte Nachteile, sie hatte bestimmt keine Arbeitsgenehmigung. Der Macho würde auf eine andere Baustelle kommen, aber Nachteile hatte er deswegen nicht. Die Reinigungsfirma hatte bisher ihre Arbeit gut gemacht, ein Wechsel würde nur mehr Geld kosten und möglicherweise den Termin gefährden. Die Situation ärgerte ihn aber er war sich sicher, dass ein Eingreifen diese nicht verbessern würde.
Als S. aus dem Nebenraum zurück kam putzte sie weiter, als wäre nichts passiert. Auch die anderen taten so. Und sie überlegte, was war passiert. Vier oder fünf Minuten der Überwindung. Dafür hatte sie ihre Arbeit und irgendwann würde eine andere Blonde kommen und sie wäre von diesem Stress erlöst. Bevor man sie kündigte, würden sicher die anderen Dackel hinausgeworfen werden. Diese Überlegung beruhigte sie.
 



 
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