Vorsicht, bissig!

MrAshford

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Die Minenstadt Raagh feierte den Jahreswechsel nach althergebrachtem Brauch: Sie brannte nieder. Wie jedes Jahr hatten einige auf alte Traditionen bedachte Anwohner das Sprengstoffdepot angezündet und erfreuten sich an dem Feuerwerk, das, wie es für Raagh üblich war, übergriff und die Wohnhäuser in die ganze Sache hineinzog. Aufs Feiern bedachte Flammen wälzten sich aus dem Depot und arbeiteten sich über ein in der Nähe befindliches Strohlager in das Wohnviertel, welches aufgrund eines alljährlichen Vorfalls aus eilig zusammengeschusterten Holzhäusern bestand.

»Ach, nee, kommt schon! Nicht schon wieder!«, rief eine junge Frau, die bei anderen Bewohnern als Partybremse galt, während sie mit zwei Säuglingen auf dem Arm aus ihrem brennenden Haus floh.
»Pfeh«, kommentierte ein älterer Mann, der die Traditionen von Raagh zu würdigen wusste. Er saß auf seinem Schaukelstuhl, genoss eine Pfeife und brannte lichterloh. »Diese jungen Dinger von heute. Jeder weiß doch, dass ein neues Jahr mit ein paar ordentlichen Verbrennungen dritten Grades beginnt!«
Seine Frau, die zu einem Häufchen Staub zerfallen war und vor sich hin qualmte, hatte dazu nichts zu sagen.

Im Nobelviertel von Raagh wartete die besser gestellte Gesellschaft mit Sektgläsern in der Hand darauf, dass die Flammen die Statue des Stadtgründers* erreichten. Die Damen- und Herrschaften hatten sich in Schale geworfen und vorsorglich die einzige Brücke zerstört, die über den Fluss führte, der das Wohn- und Nobelviertel voneinander trennte.

»10! 9! 8!«, zählte man einheitlich. Die, die nicht tranken, hielten sich an den Händen. Der Anblick brennender Anwohner und in sich zusammenstürzender Gebäude erfüllte viele mit ungekannter Wärme. Ein kreischender Mann brach aus der Flammenwand und eilte auf den Fluss zu, um sich ins Wasser zu werfen. Da die Reichen bereits routiniert in diesen Belangen waren, wussten sie, dass er es nicht schaffen würde. Sie zählten schneller: »7654321!« Der Mann ging neben der Statue zu Boden und entzündete eine dort liegende Lunte. Die Menschen beobachteten, wie sie hinunter brannte und in einem kleinen Loch am Sockel der Statue verschwand.

Angespanntes Schweigen.

Die Statue rumpelte und begann zu vibrieren. Wenige Momente später schoss sie wie eine Rakete in den Nachthimmel und gab dabei ein durchdringendes Pfeifen von sich. Die Reichen sahen ihr nach und brachen im Anschluss in einen ohrenbetäubenden Jubelsturm aus.

Ein neues Jahr hatte begonnen!

*​

Jonathan Voltaire verbrachte den Jahreswechsel in den Baumkronen, durch die er wie ein Kletteraffe turnte. Auf seinem Weg nach Raagh war ihm der Karren eines Händlers aufgefallen, der beim Transport verdächtig klimperte und die in ihm ruhenden Diebesinstinkte geweckt hatte. Für den Besitzer des Karrens, der mit seiner Frau reiste, war es wenig förderlich, dass er sich lautstark über das Gewicht seines Umsatzes, den er in Münzform transportierte, beschwerte.

»Die ganzen Münzen!«, rief er. »Hätten die Leute nicht mit Scheinen bezahlen können?«
»Sei still, Hendrik!«, tadelte seine Frau. »Wenn du unbedingt möchtest, dass wir überfallen werden, kannst du auch mit einer Glocke läuten und rufen, dass es hier eine Menge zu holen gibt!«
»Nörgeln, nörgeln, nörgeln«, entgegnete Hendrik. »Manchmal wünsche ich mir, dass die Statue eines bedeutenden Stadtgründers vom Himmel fällt und dich erschlägt!«
»Ich nörgele? Du bist der, der sich die ganze Zeit über alles beschwert. Und hör auf mit diesen abwegigen Todesfantasien. Wir beide wissen, dass nichts in der Art passieren wird.«

Jonathan lauerte auf eine Chance. Irgendwann mussten diese beiden Streithähne der Zankerei müde werden und sich ausruhen. Auf diesen Moment wartete der Dieb. Seit Stunden hatte er den Streitereien der beiden gelauscht und neue Worte gelernt, die er seinem umfangreichen Schimpfwortschatz hinzufügen konnte.

»Halte mal an«, sagte die Frau schließlich und hob die Hand. Jonathan erstarrte und zog die Mundwinkel hoch.
»Was ist denn, Frau, die noch lebt?«, fragte Hendrik.
»Ich höre etwas. Es klingt … wie ein Pfeifen«, sagte die Frau, die noch am Leben war. »Ich sage es dir, Hendrik: Hier passiert gleich etwas. Das schwöre ich bei der Sommerhütte, die wir uns letztes Jahr gekauft haben und die wir nach diesem Winter beziehen wollten, um uns endlich niederzulassen.«
»Ach, du drehst durch. Das liegt wohl daran, dass du vier Tage vor der Pensionierung stehst, verrückte Alte! Wenn etwas passiert, dann nur, weil du dieses geschmacklose rote Hemd angezogen hast.«
»Hendrik! Warum hörst du nicht auf mich? Ich werde mich jetzt hier hinstellen: Auf diese Fläche, die als einzige nicht von den Kronen der Bäume bedeckt wird, damit du mir ins Gesicht schauen kannst. Sieh mich an und sag nochmal, dass ich eine verrückte Alte bin.«

Der junge Dieb lauschte. Die Frau hatte recht. Irgendwas pfiff. »Runter!«, schrie Jonathan aus der Baumkrone.

Doch …

Die Werwolfräuber hatten Hendrik bereits angefallen. Fünf von den Kreaturen rissen den Händler zu Boden und hämmerten mit Streitkolben auf ihn ein. Jonathan hechtete aus seinem Versteck, nahm Hendriks Frau an der Hand und zog sie in den Wald.

»Hendrik! Ich werde entführt!«, rief sie. Hendrik antwortete ihr nicht. Ihr Mann hatte andere Probleme. Jonathan sah ihr das nicht nach. Sie reagierte im Schock.
»Willst du lieber entführt oder von riesigen Wölfen zerfetzt werden?«, puffte er und suchte Deckung in einem Gebüsch.
»Was ist gerade passiert?«, erkundigte sich die Frau, die aus der Nähe wesentlich älter wirkte.
Jonathan zerrieb einige Beeren und schmierte sich die Paste ins Gesicht. Mit einem Kopfnicken deutete er der Frau an, dasselbe zu tun. »Nordwolfräuber. Verständigen sich über Pfeiftöne. Sind euch offenbar bereits eine Weile gefolgt. Das stetige Gewetter Hendriks und das Klimpern des Wagens muss sie angelockt haben. So war es zumindest bei mir.«
Sie nickte. »Warum soll ich mich …?« Die Frau zeigte auf die Beeren.
»Ganz einfach: Wenn sie uns riechen, sind wir tot. Diese Beeren sind für uns völlig geruchlos, aber für die Viecher stinken sie schlimmer als ein verwesender Wal. Wenn wir uns still verhalten und hier ausharren, ziehen sie weiter. In unsere Nähe kommen sie nicht.«

Ein Späher des lupinen Überfallkommandos schwebte über den Schnee und folgte den Spuren, die er sah. Als er sich dem Busch näherte, in dem Jonathan und Hendriks Frau Deckung gesucht hatten, stoppte er plötzlich und hielt sich eine Hand vor die Schnauze. Er machte den Eindruck, als sei er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Der Wolf schüttelte sich und wandte sich mit einer wegwerfenden Geste ab. Alles musste man sich als Wilder auch nicht bieten lassen.

»Er ist weg. Können wir jetzt raus?«, erkundigte sich die Frau. Jonathan legte ihr umgehend eine Hand auf den Mund und hob einen Finger vor seinen. Er schüttelte vorsichtig mit dem Kopf und beobachtete den Weg, den der Wolf genommen hatte.

Einige Minuten unangenehmen Schweigens schlossen sich an, in denen Hendriks Frau, an dieser Stelle soll ihr der Name Norah gegeben werden, genug Zeit hatte, um über die Geschehnisse nachzudenken. Allmählich begriff sie, was passiert war. Der Angriff der Kreaturen lief vor ihren Augen ab. Hendriks Dahinscheiden wurde zur Realität und warf den Umhang eines bösen Traumes ab.

»Ich bin nicht einmal traurig«, sagte sie schließlich und überraschte sich damit selbst. Dreißig Jahre der Ehe hatten ein übereiltes und tragisches Ende gefunden und sie schien es nicht zu stören.
Jonathan sah sie aus den Augenwinkeln an und richtete seinen Blick wieder nach vorn. »Das kommt schon noch«, versicherte er ihr. »Gerade schießt eine solche Menge Adrenalin durch deinen Körper, dass du dich darüber überhaupt nicht wundern musst. Du bist kein Monster, das kann ich dir versichern. Ich habe gesehen, wie du dich mit deinem Mann unterhalten hast. Ihr habt euch geliebt, mh?«
»Natürlich haben wir das. Wir haben zwar geschimpft wie die Kesselflicker, aber wir hätten dem anderen nie gewünscht, dass ihm etwas von den Dingen passiert, die wir uns gegenseitig an den Kopf geworfen haben. Hendrik war ein Großmaul, ja. Aber er war ein gutmütiges Großmaul.« Norah spürte, dass die Trauer, die sie vermisst hatte, einsetzte. »Wir können ihn nicht dort liegen lassen.«
Jonathan seufzte. »Ich habe geahnt, dass du etwas in dieser Richtung sagen würdest.«
»Werden sie ihn fressen?«, wollte Norah wissen.
»Unwahrscheinlich. Nordwölfe rauben und plündern, aber sie fressen keine Menschen. Ich vermute viel mehr, dass sie sich dort breit machen, damit die Bergung der Leiche unnötig kompliziert wird.«
Und er behielt recht. Aus der Ferne hörten die zwei den Alpha rufen: »Wir schlagen hier unser Nachtlager auf, damit potenzielle Leichenbergungen unnötig kompliziert werden!«
Der junge Dieb fuhr sich mit einer Hand über den Nasenrücken. »Ich habs gewusst. Muss das wirklich sein? In Raagh gibt es einen verdammt guten Bäcker, der dir einen Lebkuchenmann backen kann, mit dem du dann anstellen kannst, was du möchtest. Setz ihn in einen Sessel oder verbuddel ihn. Das würde uns einiges ersparen.«
Ein Blick zur Seite verriet, dass Norah diese Idee nicht gut fand. Ihr liefen Tränen über die Wangen und ihre Wortlosigkeit machte Jonathan ratlos. Schlimmer: Als er sie weinen sah, schluchzte er selbst.
»Ist ja gut! Ist ja gut!«, wimmerte er und blickte in den Schnee. »Ich lass mir was einfallen. Bitte hör auf mit … Na … du weißt schon ...« Er brach ab und jammerte los.

Es war ironisch, dass die Frau, die um ihren Mann trauerte, den Jungen trösten musste, der überhaupt nichts verloren und mit der Sache nichts zu tun hatte.

*​

Jonathan hielt einen Abstand zum Lager ein, der trotz allem Wohlwollens, das der Autor für diesen Charakter hat, als feige zu bezeichnen war. Von seinem Standpunkt aus sah man Folgendes: Einige Ameisen, die sich kleine Felle übergezogen hatten, wuselten zwischen anderen Ameisen herum, die bei einem Fingerhut saßen, der zum besseren Verständnis für den Leser als Hendriks Karren identifiziert werden soll. In einem Anflug von Selbstbewusstsein hatte Jonathan Norah nahegelegt, im Versteck zu bleiben. Momentan wusste er selbst nicht, wem er damit imponieren wollte und er war versucht, nach Hilfe zu rufen. Dies hätte allerdings zur Folge gehabt, dass die Wölfe, die sich momentan recht ruhig verhielten, auf ihn aufmerksam geworden wären.

»Ich bin verdammt«, stellte er fest. Egal, wie sehr er sich mit einem Plan befasste, es gab einen wichtigen Punkt, den er nicht bedacht hatte, als er zur heldenhaften Rettung einer Leiche aufgebrochen war: Er war kein Kämpfer. Jonathan wusste, dass man die spitze Seite eines Schwerts in das Weiche schieben musste, aber: Erstens, ihm fehlte die nötige Kraft dazu. Zweitens, er besaß kein Schwert. Drittens, er war nicht einmal einen Meter siebzig groß und die Viecher da vorne überragten ihn wie Sonnenblumen, die sich um ein Gänseblümchen versammelt hatten.**
»Warum bin ich so ein Sensibelchen?«, fragte er sich selbst und wagte sich ein paar Zentimeter nach vorne. »Ich hätte warten sollen, bis die Wölfe beide niedergeknüppelt, sich bedient und verpisst haben. Nein, stattdessen höre ich auf meine menschlichen Gefühle. Seit wann mache ich so einen Unsinn? Na ja. Dann sterbe ich eben. Obwohl ich das auch nicht möchte. Ich glaube, ich laufe einfach weg.«

Als Jonathan auf der Hacke kehrt machen und in die entgegengesetzte Richtung laufen wollte, prallte seine Nase an einen unverschämt straffen wie haarigen Bauch. Dem Nordwolfspäher von zuvor war es gelungen, sich an den brabbelnden Dieb heranzuschleichen. Die Beeren rochen doch nicht so lange, wie der Dieb gehofft hatte.
»Soso«, meinte Jonathan. Er machte kehrt und rannte los.

Wie eine Maus, die im Freien nach einer Mauer suchte, an der sie entlang rennen konnte, wirbelte Jonathan durch das Nordwolflager und schreckte alle darin befindlichen Wölfe auf. Andere Diebe hätten dieses Vorgehen als fahrlässig bezeichnet, Jonathan hielt das Chaos, in dem er sich befand, für eine entfernt kontrollierte Situation.

Die Monster wussten nicht, in welche Richtung sie zuerst laufen sollten. Die meisten Fluchtwege waren zugestellt, der Eindringling konnte also nirgends hin; trotzdem hielt er nicht still. Um sich ein ungefähres Bild der Lage zu machen, möge man sich einen Flummi vorstellen, der in einem Raum umherspringt und unablässig beschleunigt.
»Was ist mit ihm los?«, fragte einer der Wölfe in die Runde. Die meisten Kreaturen zuckten ratlos mit den Schultern.
»Ich glaube ja, dass es sich dabei um einen Verteidigungsmechanismus der Hautlinge handelt«, stellte ein Schwarzfell zur Diskussion.
»Das? Er rennt nur herum.«
»Ja. Wir unterhalten uns darüber. Es ist ganz klar, was hier vor sich geht: Er versucht uns zu verwirren. Wenn wir im Streit aufeinander losgehen, tötet er uns alle.«
»Hinterhältig. Echt hinterhältig.«

In diesem Moment rannten in Jonathans Kopf alle Gedanken durcheinander und stritten. Auf der Suche nach einer Kernaussage aller verschiedenen Meinungen, stieß der Autor auf Folgendes: »Ich bin so tot, ich bin so tot, oh mein Gott, ich bin so tot.«

Die Vernunft, man stelle sie sich als Jonathan in einem blauen Aufzug vor, war die einzige Emotion, die während des Durcheinanders die Ruhe bewahrte und nach einer Lösung forschte. Nordwölfe sind nicht die Hellsten, wusste Vernunft, Ich wäre gut damit beraten, wenn ich es mit einer Täuschung versuche. Mit viel Glück klappt es. Mit Pech stellen wir heute den Dienst ein.

»Das war genug Rennerei, um mich aufzuladen!«, peitschte Jonathan plötzlich und warf sich in eine aufsehenerregende Position.
Die Nordwölfe zeigten sich unbeeindruckt davon. Sie sahen den Dieb an. Der Alpha, Jonathan erkannte ihn an der Kriegsbemalung und den Knochenketten, runzelte die Stirn und kreiselte seinem Finger wie ein Wasserrad. »Möge die Beute doch bitte fortfahren ...«
»Gleich!«, gellte Jonathan. Er grinste siegessicher, war aber völlig außer Atem. »Zwei Minuten.« Er stützte seine Arme auf seine Knie und atmete gründlich durch.
Ein Nordwolf räusperte sich.
»Pscht!«, rief ein anderer.
Jonathan atmete noch einmal tief durch. »Ich bin ein mächtiger Zauberer und habe gerade meine magischen Energien aufgeladen! Ich bin herumgerannt, um die Magiepartikel aufzusaugen, die hier herum schweben!«, rief er im reißerischen Tonfall und wedelte mit einem Finger in der Luft herum.
Einige Nordwölfe zogen erschrocken Luft ein. Drei ergriffen die Flucht. »Oh Gott.«
Der Alpha zeigte sich unbeeindruckt. Er schritt mit verschränkten Armen auf den Dieb zu. Jonathan hob den Kopf, als der haarige Berg auf ihn zu kam. »Zauberer, har?«, fragte er verächtlich und schnippte an die Stirn des Diebes. Jonathan war überrascht, dass ihn diese Geste zu Boden warf.
»Mhm! Zauberer! Mach dich auf was gefasst, Wolf!«, entgegnete er.
»Warum sollte ich dich etwas wirken lassen, „Zauberer“?«, fragte der Wolf und senkte den Kopf.
»Ja, äh, das gehört sich einfach so. Du solltest lieber fliehen, bevor … bevor … Miep.«
»Ist „Miep“ ein Zauberspruch?«, fragte der Alpha. Seine Gefolgsleute beruhigten sich langsam und lachten über den jämmerlichen Anblick, den Jonathan bot.

Aus dem Himmel rauschte etwas heran.

Eine Steinfigur stürzte durch die Baumkronen und landete auf dem Alpha. Das die Folgen dieses Unfalls mit dem Leben nicht vereinbar waren, sollte kein großes Geheimnis sein.

Jonathan blinzelte überrascht und sah zum Himmel. Er dachte schnell.

»Aha!«, rief er und sprang auf. »Miep, Miep, Miep!«

Die Wölfe brachen in Panik aus, als drei ihrer Gefährten tot umfielen. Jonathan betrachtete seinen Finger und schüttelte damit. In der Ferne hörte er ein Pferd wiehern.

»Lauft, ihr Nulpen! Lauft!« Von seiner eigenen Macht überzeugt schwang Jonathan seine Finger, als hätte er zwei Revolver in der Hand. Wolf um Wolf fiel tot um. »Denen hab ichs gegeben.«
»Glückwunsch«, sagte ein Vermummter, der einen geschmacklosen Lederhut trug. Er blickte Jonathan an und lehnte eine Repetierarmbrust gegen seine Schulter.
»Oh. Äh. Du warst das?«, fragte Jonathan.
»Mhm«, antwortete der Mann, der offensichtlich zur Gilde der Jäger gehörte.
»Also … habe ich keine unfassbaren Mächte, die sich mir bis zu diesem Moment nicht erschlossen haben?«
Der Jäger schüttelte mit dem Kopf. »Nö.«
»Enttäuschend. Durch und durch enttäuschend.«
Der Vermummte nickte und fing an, die Körper der Wölfe zu durchsuchen. Viele von ihnen trugen kleine Säckchen am Körper, was dieses Vorhaben lukrativ gestaltete.
»Hey! Lass mir was übrig!«, rief Jonathan und machte sich sogleich ans Plündern.

Norah gesellte sich zu den beiden Herrschaften ins Lager und beobachtete sie. Es mochte ein Glücksfall gewesen sein, dass der Jäger durch den Wald geritten war, aber ihr war das völlig egal. Sie hatte ihm den Inhalt des Karrens in Aussicht gestellt, wenn er ihr bei der Bergung des Leichnams ihres Mannes half und nebenbei das Leben des jungen Draufgängers rettete, der ihr ebenfalls zur Seite stehen wollte. Norah interessierte sich nicht für die Münzen auf dem Karren oder andere weltliche Güter. Sie wollte einzig und allein, dass ihr Mann die Beerdigung bekam, die ihm zustand. Der Jäger, dessen Mimik schwer zu lesen war, gab einen Festpreis an und verlangte Zuschlag für jeden Kopf, aber Norah wusste, dass er den Preis niedriger angesetzt hatte, als es für die Gilde üblich war. Ihr war klar, dass er ihr genug Geld lassen wollte, damit sie ihrem Mann die letzte Reise ermöglichen konnte. Sie warf dem jungen Dieb und dem Jäger ein dankbares Lächeln zu, das jedoch an beiden vorbei zog. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, darüber zu zanken, wem die Geldsäckchen der Wölfe gehörten.

*​

»Prr, Kimba«, machte der Jäger vor den rauchenden Stadttoren Raaghs, um sein Pferd zum Anhalten zu animieren. »Spring ab, Mütterchen. Du bist am Ziel. Vergiss deinen Mann nicht.«
Während Norah den Karren ablud, warf der Jäger dem Dieb einen fragenden Blick zu. »Warum bist du eigentlich mitgekommen?«
»Weil wir die Besitzfrage noch nicht geklärt haben«, argumentierte Jonathan.
»Es gibt keine Besitzfrage. Alles, was auf dem Karren bleibt, ist mein Honorar.«
»Dann bleibe ich auch auf dem Karren, bis du mich ausgezahlt hast.«
»Ich koppele den Karren ab und lasse ihn ins Tal hinabrollen.«
»Mehr für mich.«
»Dann zünde ich ihn an.«
»Ein Verlustgeschäft.«
»Sieh zu, dass du Land gewinnst.«
»Zahl mich aus.«
»Für was?«
»Ich habe sie abgelenkt, damit du die Viecher gefahrlos erledigen konntest.«
Der Jäger grübelte. Blöd, wenn man eingestehen musste, dass ein räudiger Dieb recht hatte. »Ich gebe dir 25 Prozent.«
»Ein Drittel.«
»Provoziere mich nicht.«
»Willst du mich los haben oder hast du noch ein paar Stunden Zeit für Verhandlungen?«
»Ein. Viertel.«
»Ich kann sehr überzeugend sein.«
»Und ich habe eine Armbrust.«
»Okay. Ein Viertel ist in Ordnung.«
Der Jäger nickte. »Dachte ich mir.«

Das Ende vom Lied war Folgendes: Der Karren von Norah und Hendrik gehörte nun dem Jäger, der seinen Anteil komfortabel abtransportieren konnte. Die Bewohner Raaghs gingen Norah mit ihrem Anteil zur Hand und halfen, den toten Hendrik in das Ding zu tragen, das einmal eine Kirche gewesen war. Vor den Stadttoren saß Jonathan auf einem Sack voller Münzen und stützte seinen Kopf auf seine Handflächen. Der Sack war für ihn viel zu schwer und erwies sich als ein echtes Ärgernis. Obendrein schauten ihn alle zwielichtigen Gesellen in der näheren Umgebung seltsam an.

Jonathan war sich ganz sicher, dass eine Stadt, die aus unerfindlichen Gründen ständig niederbrannte, nicht der richtige Ort für einen jungen Mann mit einem Sack voller Münzen war.

Tja, mein Lieber, sagte die Vernunft, selbst schuld!

*​

*: Die Statue zeigte den Stadtgründer im Clinch mit einigen Werwölfen, die ihn während des ersten Spatenstichs angegriffen hatten. Da die Siedler sehr entschlossene Gesellen waren, die sich von so einer Lappalie nicht aufhalten ließen, benannte man die Stadt nach dem Geräusch, dass der Bürgermeister während dieses Angriffs gemacht hatte und ehrte sein Gedenken mit einer Statue, die ihn in seinen letzten Momenten zeigte. Modellstehen konnte er schließlich nicht mehr.
**: Einen Nordwolf, der kleiner als zwei Meter ist, bezeichnet man als kleinwüchsig.
 

flammarion

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Hallo MrAshford, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von flammarion

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