Vorsicht, nackter Mann am Steuer!

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Vorsicht, nackter Mann am Steuer!

Bestimmt wollen Sie auch wissen, was dieser Titel auf sich hat! Ist es nicht so? Glauben sie mir, auch mir erging es nicht anders, als ich diese Überschrift – und noch dazu in roter Schrift geschrieben – auf dem Buchdeckel das erste Mal las. Ich muss zu meiner Verteidigung anfügen, dass ich nicht die Absicht hegte, mir erotisch verpackte Literatur übers Wochenende auszuleihen. Nein, ganz im Gegenteil, hatte ich mir doch fest vorgenommen, diese zwei freien Tage mit einem „alten Klassiker“ an meiner Seite über die Bühne gehen zu lassen. Meine Kenntnisse bezüglich Lyrik, Prosa und dergleichen, waren nämlich höchst fragwürdig, und so hatte ich mir fest vorgenommen, meine vor sich hingammelnden, literarischen Hirnzellen wieder etwas aufzumöbeln. Die kürzlich vollzogene Trennung von meinem langjährigen Freund, trug möglicherweise auch noch dazu bei, dass mein Geist – was sag ich da – mein ganzes Wesen, sich wie magnetisch von diesem Buch angezogen fühlte. Ich hielt es in meinen Händen und verspürte sogleich ein vages Zittern durch meinen Körper. Das konnte doch wohl nicht wahr sein, dass mich ein Buch dermassen aus der Fassung bringen konnte. Ich öffnete den Buchdeckel, leichter Frühlingsduft kitzelte meine Nase und mein Herz schlug zwei Takte schneller.

„Bitte, setzen sie sich doch da hinten in die Ecke, dann können sie sich ungestört das Buch anschauen“, riss mich die freundliche Stimme der Verkäuferin aus meinen Tagträumereien. Leicht benommen setzte ich mich in die Ecke, wo der „Ficus benjamini“ die Sicht zur Kasse und den anderen Leuten etwas verdeckte. Ich widmete mich vorerst nur den ersten Seiten, da stand schon mal das

Inhaltsverzeichnis:

Danksagung Seite 3
Ein zu normaler Alltag Seite 5
Die ersten Probleme Seite 10
Demaskierung Seite 16
Sturm im Wasserglas Seite 25
Scharfes Gewürz Seite 38
Vorfahrt verpasst Seite 55
Aufstand der Nachbarn Seite 71
Polizei im Haus Seite 88
Konsequenzen Seite 101
Findung Seite 121

Register Seite 121

Meine Sinneswahrnehmungen fokussierten sich, kaum hatte ich es mir in diesem weichen Sessel gemütlich gemacht, nur noch auf dieses eine Buch. Selbst wenn ich es gewollt hätte, es wäre mir nicht möglich gewesen, mich davon loszureissen. Es sog mich förmlich in sich hinein, mein ganzes Wesen schien sich mit dem Geschriebenen zu vermischen und mein Körper erlebte höchst ungewohnte Momente der Freude. Das Papier dieses Buches fühlte sich wunderbar an, ich rieb es zwischen meinem Zeigefinger und dem Daumen hin und her. Als hätte ich noch niemals Papier gefühlt, so kam es mir vor, noch nie wirklich wahrgenommen, wie wunderbar dies sein konnte. Der betörende Geruch, der mir schon vorhin bei der Kasse entgegen stieg, erweckte erneut meine Aufmerksamkeit und trieb in mir die Lust aufs Lesen, aufs Eintauchen in eine mir immer noch neue und fremde Welt.

Plötzlich wurde ich durch eine plötzliche Erschütterung aus meinen Gedanken gerissen. Die Tür zur Buchhandlung wurde heftig zu geschlagen und das Glockenspiel, das oberhalb des Türrahmens angebracht war, um Kundschaft anzukündigen, bimmelte ungewöhnlich laut und disharmonisch. Doch ich konnte niemanden sehen, den man für den Lärm verantwortlich machen konnte. So widmete ich mich weiterhin meinem wunderbaren Buch und übersprang die ersten paar Seiten, um sogleich auf Seite 38 mit dem Titel „Scharfes Gewürz“ mit lesen beginnen zu können. Waren dies nicht Kardamom, Ingwer, Curry und Chili, die da meine Nase plötzlich kitzelten? Meine Sinne spielten verrückt und ich vermochte nicht mehr zwischen real und Fiktion zu unterscheiden.

Doch das war keine Fantasie! Vor mir stand ein splitterfasernackter Mann mit einem Pappkarton in der Hand, in dem sich offenbar ein Chicken Curry befand. Seine ebenfalls nackten Füsse steckten lediglich in ein Paar Strandlatschen und sein Lachen war breit und kraftvoll, als er mir das dampfende Currygericht vor die Nase hielt und meinte: „Willst du auch mal versuchten?“ Natürlich lief ich sofort hochrot an, schaute mich verstohlen um, bevor ich verdattert „nein danke, lieb von ihnen“, sagen konnte. Ich versteckte meine Kopf – und hätte ich dies mit meinem ganzen Körper tun können, so hätte ich dies auch getan – hinter meinem roten Buch und flehte innerlich um Gnade, diese peinliche Situation möglichst bald zu beenden. Doch weit gefehlt. Dieser nackte Mann stolziert frisch und fröhlich durch den Bücherladen, stellte zeitweise sein Currygericht auf einem Stapel mit frischen Bestseller ab, und nahm sich ein Buch aus dem Regal, um dieses mit seinen gelben Fingern durchzublättern. Mein Kiefer blieb hängen, ich konnte dies alles einfach nicht fassen. Eine bodenlose Frechheit war dies. Jedermann wusste doch, dass man nur mit sauberen Fingern in Bücher schmökern durfte. Niemand schien dies jedoch zu stören. Jemand fragte diesen nackten Mann sogar ganz freundlich, ob er wohl gewillt wäre seinen Curry Pappkarton von dem Buch zu nehmen, dass sie gerne kaufen möchte. Es war nicht zu fassen! Meine Hände, die sich nun schon fast an das rote Buch klammerten, wurde sehr heiss. Ich merkte, wie in mir die Wut hochkroch und mein Gerechtigkeitssinn Alarm schlug. Ich nahm all meinen Mut zusammen, legte mein rotes Buch auf den Stuhl nieder, auf dem ich mich so häuslich niedergelassen hatte, und machte mich entschlossen auf, diesem Unhold meine Meinung zu sagen.

„Aha, da bist du ja wieder! Schau mal, dieser Abschnitt hier ist ja einzigartig, hast du das auch schon gelesen?“ Er hielt mir das gleiche Buch, das auch ich vorhin zu lesen begonnen hatte, entgegen und wies mit seinen schmutzigen Curry Finger auf den zweiten Abschnitt der Seite 38. Wie konnte dies nur sein? Ohne meine Antwort abzuwarten, setzte er sich auf den mit rotem Satin bezogenen Stuhl, und las ungeniert in seinem Buch weiter. Ich musste mich nochmals vergewissern, ob wirklich nur ich es war, der diesen Unflat, diesen Auswuchs der Menschheit überhaupt sehen konnte. Um mich herum war alles friedlich und ruhig. Jedermann sonst verhielt sich normal und angemessen, niemand der sich auf irgendeine Weise daran zu stören schien, dass dieser Mann sich so unangemessen aufführte. Ich drehte mich auf dem Absatz um, kehrte zu meinem Stuhl, meinem Buch und meinem „Ficus benjamini“ zurück und versuchte das Ganze zu vergessen.

Da war doch noch ein Abschnitt auf Seite 71 „Aufstand der Nachbarn“, den ich unbedingt noch beschnuppern wollte, bevor ich mich zum Kauf dieses Buches entschliessen konnte. Passte dieses Kapitel nicht vortrefflich zu meiner angespannten und verrückten Situation? Ich fühlte mich sehr aufgewühlt und konnte mich kaum auf die Zeilen des neuen Kapitels konzentrieren. Aber da war eine Zeile, die mich trotzdem faszinierte. Da stand: „Kann es sein, das die Welt morgen unter geht und du hast nicht gelebt?“

Natürlich kann dies sein! So ein Schwachsinn! Dieser Aufstand schien sich auch bei mir langsam aber sicher zu einem Bürgerkrieg zu entwickeln und bevor ich fähig war, wieder einmal einen Blick zu meinem ungewöhnlichen Freund zu wagen, stand dieser auch schon wieder in seiner natürlichen Pracht direkt vor meiner Nase.

„Lass uns hier verschwinden“, meinte er. Zog mich am Ärmel hoch und, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, standen wir schon gemeinsam, mit je einem dieser roten Bücher unter dem Arm geklemmt, vor der Tür des Buchladens.

„Du musst wissen, das ich der „Nackte Mann am Steuer“ bin. Ich bin den Seiten und der ganzen Geschichte, die mich schon so lange gefangen hält, entronnen. Es gibt nur noch diese zwei Bücher in der ganzen Stadt. Alle anderen sind verkauft, gelesen und verstauben langsam vor sich hin. Sie werden die Bücher auch nicht mehr drucken können, weil sie die Geschichte nicht mehr finden, da der Hauptdarsteller – nämlich ich – abgehauen ist. Diese beiden Bücher sind die einzigen, die mich noch zurück holen könnten, falls ein Leser mich in den Zeilen lesen sollte und mich so an das Buch und die Geschichte bindet. Du hast mich zwar gefunden, doch nicht so, wie dies üblicherweise der Fall war. Ich stehe leibhaftig vor dir und habe einzig und allein den Wunsch wieder frei zu sein. Du musst wissen, dass ich mich durch das Festhalten der Zeilen und der Geschichte nicht entwickeln kann. Ich bin verdammt, auf immer und ewig nackt und unangemessen hinter einem Steuer eines Autos zu sitzen und den Leuten durch meine Anwesenheit Schrecken einzujagen. Ich bin dazu verpflichtet, jedem der es hören will, meine Geschichte zu erzählen, von vorn bis hinten, dabei kenne ich sie doch schon lange auswendig. Ich habe keine Möglichkeiten auszubrechen und eine eigene Geschichte, mein eigenes Leben so zu leben, wie ich dies gerne möchte. Das macht mich ziemlich fertig, sag ich dir. Bitte gib mich frei indem du mir versprichst, diese Seiten nie zu lesen!“

Vollkommen verdattert gab ich ihm mein Einverständnis, obwohl mich die Geschichte nun noch mehr faszinierten. Kaum gab ich ihm mein Versprechen, war er auch schon wieder verschwunden, der ganze Zauber war plötzlich vorbei. Nur das schöne Buch hielt ich noch in meine Händen. Sollte ich es öffnen, sollte ich schauen, ob noch Buchstaben, Zeilen oder Kapitel vorhanden sind? Aber nein doch, ich gab ihm doch mein Versprechen. Sicher will er sich mal was zum Anziehen kaufen, dann einen sicheren Job suchen, eine Familie gründen. Wer kann schon wissen, was er jetzt mit seinem neu gewonnen Leben in Freiheit anfängt. So sollte morgen wirklich die Welt untergehen, dürfte ich von mir behaupten, dass ich zumindest heute einem anderen Menschen die Möglichkeit gegeben habe zu leben, und dies gab mir die Kraft, das Buch ungeöffnet bis zum heutigen Tag liegen zu lassen.

© Paula Laurini
 
Vorsicht, nackter Mann am Steuer!

Bestimmt wollen Sie auch wissen, was dieser Titel auf sich hat! Ist es nicht so? Glauben sie mir, auch mir erging es nicht anders, als ich diese Überschrift – und noch dazu in roter Schrift geschrieben – auf dem Buchdeckel das erste Mal las. Ich muss zu meiner Verteidigung anfügen, dass ich nicht die Absicht hegte, mir erotisch verpackte Literatur übers Wochenende auszuleihen. Nein, ganz im Gegenteil, hatte ich mir doch fest vorgenommen, diese zwei freien Tage mit einem „alten Klassiker“ an meiner Seite über die Bühne gehen zu lassen. Meine Kenntnisse bezüglich Lyrik, Prosa und dergleichen, waren nämlich höchst fragwürdig, und so hatte ich mir fest vorgenommen, meine vor sich hingammelnden, literarischen Hirnzellen wieder etwas aufzumöbeln. Die kürzlich vollzogene Trennung von meinem langjährigen Freund, trug möglicherweise auch noch dazu bei, dass mein Geist – was sag ich da – mein ganzes Wesen, sich wie magnetisch von diesem Buch angezogen fühlte. Ich hielt es in meinen Händen und verspürte sogleich ein vages Zittern durch meinen Körper. Das konnte doch wohl nicht wahr sein, dass mich ein Buch dermassen aus der Fassung bringen konnte. Ich öffnete den Buchdeckel, leichter Frühlingsduft kitzelte meine Nase und mein Herz schlug zwei Takte schneller.

„Bitte, setzen sie sich doch da hinten in die Ecke, dann können sie sich ungestört das Buch anschauen“, riss mich die freundliche Stimme der Verkäuferin aus meinen Tagträumereien. Leicht benommen setzte ich mich in die Ecke, wo der „Ficus benjamini“ die Sicht zur Kasse und den anderen Leuten etwas verdeckte. Ich widmete mich vorerst nur den ersten Seiten, da stand schon mal das

Inhaltsverzeichnis:

Danksagung: Seite 3
Ein zu normaler Alltag: Seite 5
Die ersten Probleme: Seite 10
Demaskierung: Seite 16
Sturm im Wasserglas : Seite 25
Scharfes Gewürz: Seite 38
Vorfahrt verpasst: Seite 55
Aufstand der Nachbarn: Seite 71
Polizei im Haus: Seite 88
Konsequenzen: Seite 101
Findung: Seite 121

Register: Seite 121

Meine Sinneswahrnehmungen fokussierten sich, kaum hatte ich es mir in diesem weichen Sessel gemütlich gemacht, nur noch auf dieses eine Buch. Selbst wenn ich es gewollt hätte, es wäre mir nicht möglich gewesen, mich davon loszureissen. Es sog mich förmlich in sich hinein, mein ganzes Wesen schien sich mit dem Geschriebenen zu vermischen und mein Körper erlebte höchst ungewohnte Momente der Freude. Das Papier dieses Buches fühlte sich wunderbar an, ich rieb es zwischen meinem Zeigefinger und dem Daumen hin und her. Als hätte ich noch niemals Papier gefühlt, so kam es mir vor, noch nie wirklich wahrgenommen, wie wunderbar dies sein konnte. Der betörende Geruch, der mir schon vorhin bei der Kasse entgegen stieg, erweckte erneut meine Aufmerksamkeit und trieb in mir die Lust aufs Lesen, aufs Eintauchen in eine mir immer noch neue und fremde Welt.

Plötzlich wurde ich durch eine plötzliche Erschütterung aus meinen Gedanken gerissen. Die Tür zur Buchhandlung wurde heftig zu geschlagen und das Glockenspiel, das oberhalb des Türrahmens angebracht war, um Kundschaft anzukündigen, bimmelte ungewöhnlich laut und disharmonisch. Doch ich konnte niemanden sehen, den man für den Lärm verantwortlich machen konnte. So widmete ich mich weiterhin meinem wunderbaren Buch und übersprang die ersten paar Seiten, um sogleich auf Seite 38 mit dem Titel „Scharfes Gewürz“ mit lesen beginnen zu können. Waren dies nicht Kardamom, Ingwer, Curry und Chili, die da meine Nase plötzlich kitzelten? Meine Sinne spielten verrückt und ich vermochte nicht mehr zwischen real und Fiktion zu unterscheiden.

Doch das war keine Fantasie! Vor mir stand ein splitterfasernackter Mann mit einem Pappkarton in der Hand, in dem sich offenbar ein Chicken Curry befand. Seine ebenfalls nackten Füsse steckten lediglich in ein Paar Strandlatschen und sein Lachen war breit und kraftvoll, als er mir das dampfende Currygericht vor die Nase hielt und meinte: „Willst du auch mal versuchten?“ Natürlich lief ich sofort hochrot an, schaute mich verstohlen um, bevor ich verdattert „nein danke, lieb von ihnen“, sagen konnte. Ich versteckte meine Kopf – und hätte ich dies mit meinem ganzen Körper tun können, so hätte ich dies auch getan – hinter meinem roten Buch und flehte innerlich um Gnade, diese peinliche Situation möglichst bald zu beenden. Doch weit gefehlt. Dieser nackte Mann stolziert frisch und fröhlich durch den Bücherladen, stellte zeitweise sein Currygericht auf einem Stapel mit frischen Bestseller ab, und nahm sich ein Buch aus dem Regal, um dieses mit seinen gelben Fingern durchzublättern. Mein Kiefer blieb hängen, ich konnte dies alles einfach nicht fassen. Eine bodenlose Frechheit war dies. Jedermann wusste doch, dass man nur mit sauberen Fingern in Bücher schmökern durfte. Niemand schien dies jedoch zu stören. Jemand fragte diesen nackten Mann sogar ganz freundlich, ob er wohl gewillt wäre seinen Curry Pappkarton von dem Buch zu nehmen, dass sie gerne kaufen möchte. Es war nicht zu fassen! Meine Hände, die sich nun schon fast an das rote Buch klammerten, wurde sehr heiss. Ich merkte, wie in mir die Wut hochkroch und mein Gerechtigkeitssinn Alarm schlug. Ich nahm all meinen Mut zusammen, legte mein rotes Buch auf den Stuhl nieder, auf dem ich mich so häuslich niedergelassen hatte, und machte mich entschlossen auf, diesem Unhold meine Meinung zu sagen.

„Aha, da bist du ja wieder! Schau mal, dieser Abschnitt hier ist ja einzigartig, hast du das auch schon gelesen?“ Er hielt mir das gleiche Buch, das auch ich vorhin zu lesen begonnen hatte, entgegen und wies mit seinen schmutzigen Curry Finger auf den zweiten Abschnitt der Seite 38. Wie konnte dies nur sein? Ohne meine Antwort abzuwarten, setzte er sich auf den mit rotem Satin bezogenen Stuhl, und las ungeniert in seinem Buch weiter. Ich musste mich nochmals vergewissern, ob wirklich nur ich es war, der diesen Unflat, diesen Auswuchs der Menschheit überhaupt sehen konnte. Um mich herum war alles friedlich und ruhig. Jedermann sonst verhielt sich normal und angemessen, niemand der sich auf irgendeine Weise daran zu stören schien, dass dieser Mann sich so unangemessen aufführte. Ich drehte mich auf dem Absatz um, kehrte zu meinem Stuhl, meinem Buch und meinem „Ficus benjamini“ zurück und versuchte das Ganze zu vergessen.

Da war doch noch ein Abschnitt auf Seite 71 „Aufstand der Nachbarn“, den ich unbedingt noch beschnuppern wollte, bevor ich mich zum Kauf dieses Buches entschliessen konnte. Passte dieses Kapitel nicht vortrefflich zu meiner angespannten und verrückten Situation? Ich fühlte mich sehr aufgewühlt und konnte mich kaum auf die Zeilen des neuen Kapitels konzentrieren. Aber da war eine Zeile, die mich trotzdem faszinierte. Da stand: „Kann es sein, das die Welt morgen unter geht und du hast nicht gelebt?“

Natürlich kann dies sein! So ein Schwachsinn! Dieser Aufstand schien sich auch bei mir langsam aber sicher zu einem Bürgerkrieg zu entwickeln und bevor ich fähig war, wieder einmal einen Blick zu meinem ungewöhnlichen Freund zu wagen, stand dieser auch schon wieder in seiner natürlichen Pracht direkt vor meiner Nase.

„Lass uns hier verschwinden“, meinte er. Zog mich am Ärmel hoch und, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte, standen wir schon gemeinsam, mit je einem dieser roten Bücher unter dem Arm geklemmt, vor der Tür des Buchladens.

„Du musst wissen, das ich der „Nackte Mann am Steuer“ bin. Ich bin den Seiten und der ganzen Geschichte, die mich schon so lange gefangen hält, entronnen. Es gibt nur noch diese zwei Bücher in der ganzen Stadt. Alle anderen sind verkauft, gelesen und verstauben langsam vor sich hin. Sie werden die Bücher auch nicht mehr drucken können, weil sie die Geschichte nicht mehr finden, da der Hauptdarsteller – nämlich ich – abgehauen ist. Diese beiden Bücher sind die einzigen, die mich noch zurück holen könnten, falls ein Leser mich in den Zeilen lesen sollte und mich so an das Buch und die Geschichte bindet. Du hast mich zwar gefunden, doch nicht so, wie dies üblicherweise der Fall war. Ich stehe leibhaftig vor dir und habe einzig und allein den Wunsch wieder frei zu sein. Du musst wissen, dass ich mich durch das Festhalten der Zeilen und der Geschichte nicht entwickeln kann. Ich bin verdammt, auf immer und ewig nackt und unangemessen hinter einem Steuer eines Autos zu sitzen und den Leuten durch meine Anwesenheit Schrecken einzujagen. Ich bin dazu verpflichtet, jedem der es hören will, meine Geschichte zu erzählen, von vorn bis hinten, dabei kenne ich sie doch schon lange auswendig. Ich habe keine Möglichkeiten auszubrechen und eine eigene Geschichte, mein eigenes Leben so zu leben, wie ich dies gerne möchte. Das macht mich ziemlich fertig, sag ich dir. Bitte gib mich frei indem du mir versprichst, diese Seiten nie zu lesen!“

Vollkommen verdattert gab ich ihm mein Einverständnis, obwohl mich die Geschichte nun noch mehr faszinierten. Kaum gab ich ihm mein Versprechen, war er auch schon wieder verschwunden, der ganze Zauber war plötzlich vorbei. Nur das schöne Buch hielt ich noch in meine Händen. Sollte ich es öffnen, sollte ich schauen, ob noch Buchstaben, Zeilen oder Kapitel vorhanden sind? Aber nein doch, ich gab ihm doch mein Versprechen. Sicher will er sich mal was zum Anziehen kaufen, dann einen sicheren Job suchen, eine Familie gründen. Wer kann schon wissen, was er jetzt mit seinem neu gewonnen Leben in Freiheit anfängt. So sollte morgen wirklich die Welt untergehen, dürfte ich von mir behaupten, dass ich zumindest heute einem anderen Menschen die Möglichkeit gegeben habe zu leben, und dies gab mir die Kraft, das Buch ungeöffnet bis zum heutigen Tag liegen zu lassen.

Denjenigen unter euch, die sich jetzt auf einen spannende, von Erotik nur so knisternde Geschichte gefreut haben, sind nun sicher enttäuscht. Aber bitte sehr, da sie nun die Hintergründe kennen, dürfte es ihnen nicht allzu schwer fallen, ebenfalls – so schwer es ihnen auch fällt – auf dieses kurze Vergnügen zu Gunsten eines geschenkten Lebens zu verzichten, oder?

© Paula Laurini
 



 
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