Vorweihnacht im Schuhgeschäft

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Eva

Mitglied
Vorweihnacht im Schuhgeschäft

Von außen schien das Schuhgeschäft zu dieser nächtlichen Stunde wie jedes andere auf der Einkaufsstraße: dunkel und verlassen. Doch innen, verborgen in der Finsternis – kam langsam Leben in die Regale. Die Turnschuhe drehten im Laufschritt ein paar Runden, die Hauslatschen schlappten gemütlich zum benachbarten Ständer und hielten ein Schwätzchen mit den Laufsocken, die Wanderschuhe kletterten die Regale hinauf und die hochhackigen Pumps tänzelten den Gang entlang. Überall herrschte fröhliche Vorweihnachtsstimmung.
Nur aus einem Regal kam ein leises Stöhnen. Der Schuhlöffel, der ausgelassen an seinem Haken schaukelte, entdeckte die Ursache: ein Schuhkarton mit der Aufschrift „Stiefelette, Größe 38, braun“ rutschte unruhig hin und her und seufzte schwer .
„Was ist denn mit dir los?“ fragte der Schuhlöffel mitfühlend.
„Ach, ich bin so unzufrieden. Wie gern würde ich die Weihnachtsstimmung draußen miterleben. Schon wochenlang stehe ich am selben Platz und kann nicht mal aus dem Fenster sehen. Niemand kauft mein Paar Schuhe. Dabei sind sie hübsch und außerdem warm. Meine Nachbarn spazieren einer nach dem anderen in bunten Einkaufstaschen in die frische Winterluft und dann in einen gemütlichen Schuhschrank. Die haben’s gut...“
Der Schuhlöffel wollte den traurigen Schuhkarton aufmuntern: „Schau mal, wie es mir geht. Ich hänge schon seit Jahren an meinem Haken. – Na gut, ich kann den Gang, die Kasse und das Schaufenster überblicken. Da ist ein Vorteil, gewiss. Aber warte ab, vielleicht gehst du schon morgen auf die Reise. Das Glück kommt manchmal schneller als man denkt.“
Zunächst aber kam am folgenden Tag eine eifrige Verkäuferin, klatschte mit der Etikettiermaschine einen dicken roten Aufkleber auf das Preisschild der unzufriedenen Pappschachtel, murmelte: „ Fünfzig Prozent – dafür sollten die Dinger doch weggehen.“ und verschwand im Lager.
Der Schuhkarton sank in sich zusammen. „Nun bin ich ja noch weniger Wert ...“.
Trostlos schlichen die Stunden dahin. Doch dann, kurz vor Ladenschluss - ein Freudenschrei: „Das sind genau die Richtigen! Solche wollte ich schon immer! Und das zum halben Preis – die nehme ich mit!“ Die Stiefeletten wurden anprobiert, für passend befunden und ehe er sich’s versah, landete der Schuhkarton samt Inhalt mit Schwung unter dem Arm einer Rentnerin und danach auf dem Kassentisch. Die Schuhe wurden noch einmal begutachtet, bezahlt und ...
„Die Pappe brauche ich nicht, die lass ich hier. Geben Sie mir lieber einen Plastikbeutel.“
Der Schuhkarton glaubte nicht richtig zu hören. Das konnte doch nicht wahr sein! Seine Reise hatte gerade erst begonnen und sollte hier schon zu Ende sein? Aber es half alles nichts – er landete hinter der Kasse im Regal neben einem Paar Reklamations-Stiefel. So eine Enttäuschung!
Nur gut, dass nun wenigstens das Schaufenster mit seiner wunderschönen Weihnachtsdekoration in die Nähe gerückt war. Auch die Lichterkette auf der Straße und die Menschen, die dick in Jacken und Mützen vermummt vorbei schlenderten, lenkten ihn von seiner Traurigkeit ab. Langsam gewöhnte er sich an den Gedanken, das Weihnachtsfest in Gesellschaft von verschiedenen Dosen Schuhcreme, Schnürsenkeln und Einlegesohlen zu verbringen.
Da geschah etwas völlig Unerwartetes.
Ein Mädchen in bunter Jacke und mit dicken Zöpfen drückte sich an der gefrorenen Fensterscheibe die Nase platt, hauchte ein Loch in die Eiskristalle und spähte erwartungsvoll ins Ladeninnere. Kurz darauf bimmelte die Türglocke und sie trat ein. Entschlossen ging sie auf die Kasse zu und fragte höflich. „Entschuldigung, haben Sie Schuhkartons?“ Der Verkäufer musterte sie argwöhnisch und sagte unwirsch:. „Natürlich haben wir Schuhkartons. Wir verkaufen Schuhe und die stecken in Kartons drin. Weißt du das nicht?“
„Das weiß ich schon, aber ich möchte nur einen leeren Karton. – Den da!“ „Wozu denn das? Was kann man damit schon anfangen?“
„Freude kann man damit machen!“ rief das Mädchen und lachte. „Noch nie was von ‚Weihnachten im Schuhkarton’ gehört?“ Sie bedankte sich und – schwups – war sie wieder draußen.
Es dauerte nicht mehr lange und der Schuhkarton ging, von außen bunt beklebt und innen gefüllt mit den herrlichsten Weihnachtsüberraschungen, auf eine Reise, die so lang und schön war, wie er es sich niemals erträumt hätte.
 

Clara

Mitglied
das war wenigstens mal eine neue nette geschichte.
über ein alltagsteil - da könnte man gewiss noch mehr finden.
 
D

Donkys Freund

Gast
Eine weitere originelle "Sachgeschichte" mit viel Fantasie. Und diesmal straff, was mir noch besser gefällt. Toll!
 



 
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