Wachwerden

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Vera-Lena

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Wachwerden

Es singt der Vogel Zuversicht,
auch noch im späten Abendlicht,
es lauscht marmorn die Fensterbank,
ein Knacken steuert bei der Schrank.
Dies Tönen wird zum Kartograph
und reißt mein Fremdland aus dem Schlaf.
Da gibt es plötzlich lichte Wege
und Wörter tief im Herzgehege.

Der schwarze Sumpf aus Ängstlichkeit
ist wahrlich nur noch halb so breit,
leichtfüßig kann ich mich durchschreiten
und meine Wälder dir entbreiten,
dir dartun meiner Flüsse Spiegeln,
geheime Türen dir entriegeln.
Da stehe ich, mir mehr vertraut –
ein Mensch, der einen Andern schaut.
 

Vera-Lena

Mitglied
Hallo Patrick,

alles, was nach Hoffnung aussieht, kann man natürlich mit Weihnachten in Verbindung bringen.

Ich hatte aber weniger an Weihnachten gedacht bei diesem Text. Es ging mir einfach darum, deutlich zu machen: Wenn man mit sich selbst auf gutem Fuße steht, seine Schwächen und den einen oder anderen Vorzug kennt, dann fällt es einem leichter, auf andere zuzugehen und man täuscht sich auch nicht so schnell in anderen Menschen. Mit sich selber "gut verheiratet" zu sein, ist schon immer die beste Voraussetzung, auch mit anderen Menschen gut zurecht zu kommen, ihnen ihre Schwächen nachzusehen und ihre Vorzüge zu bewundern. Man verliert seine Ängstlichkeit vor dem fremden Wesen "Mensch".

So hatte ich das gemeint.
Danke für Deine freundliche Antwort!
Und einen guten Rutsch ins Neue Jahr! :)
Liebe Grüße von Vera-Lena
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

finde ich sehr schön, dein Gedicht! Sich selbst und einen anderen Menschen zu lieben und zu verstehen sind wahrlich zwei Seiten einer Medaille.
Es singt der Vogel Zuversicht,
auch noch im späten Abendlicht,
Das ist die einzige Stelle mit einer Zeitangabe - ich habe etwas gestutzt wegen der Assoziationen von "Wachwerden" (-> Morgen). Warum wählst du diesen Anfang?
es lauscht marmorn die Fensterbank,
ein Knacken steuert bei der Schrank.
Vielleicht besser: [red]und marmorn lauscht die Fensterbank.[/red] Ansonsten wunderbar atmosphärisch!
Dies Tönen wird zum Kartograph
und reißt mein Fremdland aus dem Schlaf.
Sehr ungewöhnliche, intensive Metapher! Ich fühle, wenn ich das lese, diesen Moment (den man beim Aufwachen natürlich nicht immer hat), wenn man wach wird und das Unterbewusste, worin man eben noch orientierungslos verloren war, plötzlich eine Form annimmt, die man verstehen und bewusst (bestenfalls sogar zielgerichtet) durchschreiten kann. Ich liebe es auch, wie du von hier aus das Landkarten-Wortfeld entwickelst:
Da gibt es plötzlich lichte Wege
und Wörter tief im Herzgehege.

Der schwarze Sumpf aus Ängstlichkeit
ist wahrlich nur noch halb so breit,
leichtfüßig kann ich mich durchschreiten
und meine Wälder dir entbreiten,
dir dartun meiner Flüsse Spiegeln,
geheime Türen dir entriegeln.
Ich mag insbesondere das Herzgehege. Ich kenne das, wenn man mit Worten aufwacht, so als wären sie ganz reale Wesen, die anscheinend die ganze Nacht lang in ihrem Gehege hin- und hergerannt sind. Aber warum eigentlich der Absatz danach? Beim dritten Vers der zweiten Strophe gibts Metrumprobleme - und als ich darüber nachgedacht habe, wurde mir klar, warum! Man kann es wirklich kaum anders umformulieren. Ich persönlich würde in diesem Fall eher die Grammatik verbiegen als das Metrum, "Kann leichten Fußes mich durchschreiten" schreiben und auf das Subjekt verzichten. Aber ich weiß nicht, ob das objektiv die bessere Lösung ist. Noch ein kleiner Kritikpunkt: "Spiegel" passt nicht sehr gut zu "Fluss" - zumal mir der nächste Vers auch nicht so gut gefällt, er durchbricht die Naturmetaphorik.
Da stehe ich, mir mehr vertraut –
ein Mensch, der einen Andern schaut.
Hier würde ich vielleicht die Pointe noch schärfer setzen (obwohl, ich weiß nicht, ob's in meiner Variante noch verständlich wäre??):

[red]Da stehe ich, mir mehr vertraut –
Mensch, der den Andern besser schaut.[/red]

Danke für dieses Gedicht! Ich wünschte, man könnte von Selbst-Verständnis ganz natürlich zu Selbst-Akzeptanz gelangen und von da aus zu Fremd-Verständnis und Fremd-Akzeptanz. Der dritte und vierte Schritt können aber auch ohne den zweiten erfolgen.

Liebe Grüße und einen guten Rutsch!
Julia
 

Vera-Lena

Mitglied
Liebe Julia,

danke für Deinen ausführlichen Kommentar!

Zunächst:
Mit dem Wachwerden, habe ich nicht ein Aufwachen am Morgen gemeint, sondern ein Aufwachen zu sich selbst, ein sich mit sich selbst näher vertraut machen und, infolge der Bestandsaufnahme, entsprechend an sich selbst zu arbeiten.

"Es singt der Vogel Zuversicht auch noch im späten Abendlicht", damit wollte ich sagen, dass es auch noch nicht zu spät ist, wenn man 70 Jahre alt ist und beschließt, die eine und andere Schwäche zu überwinden. Wenn man täglich da dran bleibt, kann es noch etwas bringen, denn: Man könnte ja auch noch 80 Jahre alt werden ;)

[red]Und marmorn lauscht die Fensterbank[/red] daran hatte ich auch rumgeknabbert, weil ich nämlich schon viele "und" in dem Text habe. Aber ich werde es auf Deinen Vorschlag nun doch dahingehend verändern.

Auch über den Absatz habe ich gegrübelt und ihn eigentlich nur gesetzt, damit der Text nicht optisch wie eine einzige Soße daherkommt. Ich werde den Absatz wieder herausnehmen und statt dessen die letzten zwei Zeilen absetzen, die ja eine wichtige Essenz aus dem Ganzen enthalten.

Das "leichtfüssig" lasse ich drin, denn es hoppelt wirklich nicht allzu sehr.

Die vorletzten beiden Verse habe ich jetzt zugunsten der Naturmetaphorik geändert.

Ganz besonders danke ich Dir für den kleinen Anstoß, die letzte Zeile betreffend, denn damit war ich auch nicht zufrieden. Manchmal bringt eine kleine Umstellung schon ein großes Ergebnis, aber man kommt selbst nicht darauf.

Ich bin nicht davon überzeugt, dass man ohne Selbstakzeptans wirklich andere Menschen mit Großmut und innerer Weiträumigkeit betrachten und verstehen und sie so lassen kann, wie sie sind, ohne an ihnen herumzumodeln, solange sie einen nicht darum gebeten haben.

Ich glaube, mein Vater hat mir alles an Selbstbewusstsein in meiner Kindheit geschenkt, was mir geholfen hat, zuerst immer freudig auf Menschen hinzuschauen und ihnen nicht sofort irgendeinen Stempel aufzudrücken.

Danke für Deine Unterstützung bei diesem kleinen Werk! Sie bedeutet mir viel, und nun gestaltet sich der erste Tag im Neuen Jahr schon ganz in Richtung Zufriedenheit.

Ich wünsche auch Dir ein glückliches, erkenntnisreiches, schaffensfrohes und inspiriertes Neues Jahr! :)

Liebe Grüße von Vera-Lena
 

Vera-Lena

Mitglied
Wachwerden

Es singt der Vogel Zuversicht,
auch noch im späten Abendlicht,
und marmorn lauscht die Fensterbank,
ein Knacken steuert bei der Schrank.
Dies Tönen wird zum Kartograph
es reißt mein Fremdland aus dem Schlaf.
Da gibt es plötzlich lichte Wege
und Wörter tief im Herzgehege.
Der schwarze Sumpf aus Ängstlichkeit
ist wahrlich nur noch halb so breit,
leichtfüßig kann ich mich durchschreiten
und meine Wälder dir entbreiten,
dir dartun meines Flusses Schneise
voll Glut selbst unterm Wintereise.

Da stehe ich, mir mehr vertraut –
Mensch, der den Andern besser schaut.
 

presque_rien

Mitglied
Liebe Vera-Lena,

ich hoffe, du bist gut reingerutscht! :)

Es hat mich unheimlich gefreut, dass dir einige meiner Vorschläge gefallen haben - bei denen, die dir nicht gefallen haben, gebe ich dir aber Recht! Das späte Abendlicht gefällt mir nun z.B. sehr gut - hier ist der Inhalt zweifellos wichtiger als die rein formale Forderung nach Metaphernrundheit!

Ich würde vielleicht noch einen Spiegelstrich/Doppelpunkt nach "Kartograph" setzen (du weißt doch, ich bin Satzzeichen-Fetischist ;))...

Es ist ein echt tolles Gedicht - mich hat es sehr zum Nachdenken angeregt, vor allem nach deinem Kommentar. Und wieder muss ich dir Recht geben. Ich bilde mir z.B. gerne ein, ich sei ein sehr toleranter Mensch - aber mir ist schon oft aufgefallen, dass diese Toleranz irgendwie künstlich schmeckt. Wenn man sich selbst nicht akzeptiert, ist das, was man gerne "Toleranz" oder "gut auf Menschen zugehen" nennt, lediglich ein Impuls, andere über sich selbst zu stellen - dann nimmt man ihre Fehler nicht mit echtem Verständnis hin, sondern einfach a priori. Und damit stellt man die Menschen wiederum unter sich selbst - indem man sie über einen Kamm schert und dazu benutzt, dem eigenen Selbstmitleid zu frönen. Du hast also Recht: Die einzige richtige Ebene des Zwischenmenschlichen ist die auf Augenhöhe.

LG & das Allerbeste im neuen Jahr
wünscht Julia
 



 
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