Wahlwirren

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Kassandro

Mitglied
Wahlwirren​


Ich bin jetzt nicht mehr freundlich zu den Leuten.

Es war auf einem überfüllten Bahnsteig des Kölner Hauptbahnhofs, als es mir klar wurde. 35, 36, 37 Prozent – alles mehr als 33,3 Periode. Ich blicke um mich. Eins, zwei, drei. Eine CDU-Wählerin. Eins, zwei, drei. Ein Merkel-Fan. Mindestens jeder Dritte hier wählt diese CDU. Der Zug fährt ein. Aus den Türen quellen die Fahrgäste. Dann geht es ans Einsteigen, direkt hinter mir ein alter Herr mit einem großen Koffer. Halb drehe ich mich schon um, zu helfen, da schießt es mir durch den Kopf: Bei den über 60-Jährigen punktet die CDU noch ganz anders. 50 Prozent. Ich gehe entschlossen voran ins Abteil. Die Zugfahrt über beschäftigt mich dieses unsägliche Verhängnis. Nach zwölf Jahren Merkel wird es jetzt gerade so weitergehen: 16 Jahre! Da sind aus Säuglingen junge Erwachsene geworden und kennen nichts anderes als Merkel. 16, 32, 64, 80. Nein, 80 möchte ich nicht werden, ist auch unwahrscheinlich als Kettenraucher. Mit 80 hätte Merkel ein Fünftel meines Lebens regiert, der Anteil wird wohl größer werden. Ich schlucke. Waren es mit Kohl nicht bereits 16 Jahre? Zwei Fünftel. Ehe Adenauer mir einfällt, muss ich aussteigen.

Jetzt noch in den Supermarkt, bei dem mein Auto abgestellt ist. Ich nehme den Einkaufzettel zur Hand, heute ist ein Großeinkauf fällig. An der Kasse wäre es fast passiert. „Ach, nichts!“ sage ich schnell zu der Frau hinter mir. Sie hat nur ein einziges Teil, eine Packung Waschmittel. Reflexhaft hatte ich mich ihr zugewandt, um sie vorzulassen – da kam mir schlagartig zu Bewusstsein, dass demoskopisch die CDU bei der weiblichen Bevölkerung besonders gut punktet. Ich war mir sicher: das Durchschnittsgesicht hinter mir wählt Merkel. Soll ich das etwa noch belohnen?

Ich packe den Einkauf in meinen Wagen und fahre los. Nach dem verspäteten Zug wird mich wahrscheinlich jetzt der Stau erwarten, das weiß ich. Es ist ja alles so wunderbar geregelt bei uns. Na, immerhin nur zähflüssig, aber gleich mündet noch eine weitere große Straße ein. Ich bin eingeschworener Anhänger des Reißverschlussprinzips. Nur so kommen alle gut weiter. Dass das so viele nicht kapieren! Allenfalls bei dicken SUVs mache ich schon mal eine Ausnahme. Ich schaue nach rechts, wo langsam die Wagen heranrollen. Eins, zwei, drei. Ein total durchschnittliches Auto, untere Mittelklasse. Aber ist es nicht genau das? So ein Spießerauto – der wählt garantiert Zeit seines Lebens immer nur die CDU. Sind solche Leute überhaupt Demokraten? Die praktizieren doch nichts anderes als das Ein-Parteien-System. Ich schließe eng auf. Nicht mit mir, Freundchen! Frag dich mal, ob du wirklich so gern in Merkel-Deutschland lebst.

Nein, ich bin nicht mehr freundlich zu den Leuten.
 



 
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