Wahre Liebe

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Heinrich K

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Wahre Liebe

Den meisten Paaren wird es schon nach kurzer Zeit zu albern. Sie geben sich einen gute Nacht Kuss, streicheln sanft durch des anderen Haar, verkehren mehrmals die Woche, wenn sie nicht zu müde sind und legen sich dann erschöpft auf den Rücken. Oder den Bauch, wie immer sie besser schlafen können. Jeder für sich in ihrem riesigen Doppelbett.
Thomas Miene erkaltete schlagartig, wenn er an diese Menschen denken musste. Sie wurde starr, angstvoll eines so schrecklichen Gedankens. Er ärgerte sich über sein eigenes Doppelbett. Das neue Gestell, die übergroße Matratze, zwei Kissen, zwei Decken. Es war verschwendetes Geld. Herzloses Geld, das er in späten Überstunden erkämpfen musste. In langen Stunden, die er später zu ihr ins Bett kam. Später die Decke anhob und seinen Kopf auf das schon warme Kissen legte. Später seine Hand zärtlich auf die Brust der schlafenden Gestalt legte und ihren ruhigen Herzschlag unter seinen Fingerspitzen ertastete. Den restlichen Platz der linken Bettseite mit seinen müden Gliedern füllte.
Während er behutsam durch ihr Haar strich, galt nicht ein Gedanke der unberührten Betthälfte ihm gegenüber. Nicht im Ansatz sehnte sich sein erschöpfter Körper nach einer Nacht ungestörten Schlafes, als seine Hände von ihrem Gesicht langsam über den geschmeidigen Hals zu ihrem bebenden Busen glitten. Wie sie zitternd weiter zu ihrem schlanken Bauch fühlten, suchte man vergebens nach einem Anzeichen von Bedauern der wenigen Stunden Schlaf, die er ihr opferte.
Mit einem sanften Kuss auf die kleine Nasenspitze, rief er sie aus ihren Träumen zu sich. Sie lächelte. Sie war eine furchtbar kitzelige Person und ihre Nase war der empfindsamste Teil ihres sinnlichen Gesichts. Als sie die Lider unwillig öffnete, löste ihr von unbewussten Reizen ausgelöstes Lächeln ein schamloses, glühendes Grinsen ab. Voller Vertrauen presste sie ihre gierigen Lippen an seine, in Ehrfurcht seiner nichtgedachten Gedanken. Viel war passiert an diesem Tag, doch keine Worte waren nötig. Sie lehnte ihren Kopf an seine warme Brust, fasste mit ihrer rechten Hand ängstlich sein Nachthemd, während ihre linke scheu nach seinem starken Hals suchte. Er bettet ihren Kopf behutsam in seine linke Hand und umschloss ihren zierlichen Körper kraftvoll mit der anderen. Er schützte sie. Sie waren in Sicherheit, vor dem gewaltigen Geschehen des heutigen Tages. Dem Schrecklichen, das alles ändern würde.
Gemeinsam flüchteten ihre Gedanken zu ihrer unglaublichen Geschichte, die niemand fassen konnte und doch glauben musste, wenn er nur einen Blick in ihre tiefen, blauen Augen warf. Sie konnten nicht lügen.


Es war die letzte Vorlesung im Jahr gewesen. An einem Donnerstag, kurz vor Heilig Abend. Sein Aufschrieb war mal wieder nur ein grotesker Haufen unzusammenhängender Worte geworden. Dabei war er intelligent. Verdammt intelligent und würde wohl, wie schon immer in der Schule, auch hier Jahrgangsbester werden. Wenn er sich nur konzentrierte. Aufraffte. Seine Blicke davon abhielt ständig nach vorne links zu huschen. Einen Hinterkopf mit Zopf. Darunter ein weißer, eleganter Strickpulli. Viel mehr sah man nicht. Von ihren süßen, runden Ohren – oder besser von ihrem rechten Ohr kannte er jede Rundung, jede Sommersprosse und jeden kleinen Ohrring, den sie je getragen hatte. Zwei Ringe kreisten ineinander, an einem kleinen Drätchen hängend, um ihre Achse und hypnotisierten ihm die Sinne. Da, endlich drehte sie sich nach Rechts und er bestaunte ihr Profil mit einer Aufmerksamkeit, die ein Kant, Platon oder Hobbes vergebens von ihm erhoffte. Ihre großen Augen schauten neugierig durch den Raum, begierig die ganze Welt mit ihren Blicken zu erforschen. Die Lippen zart und weich gähnten unverschämt in die Runde, als müssten sie allein das monotone Geplapper des Professors ertragen. „Hatschi!“, es war Winterzeit, und die meisten lüsternen Blicke erfroren bei schneuzenden, rotzenden Gestalten. Er konnte sich kaum auf seinem Sitz halten, als sie sich schüchtern all der Aufmerksamkeit in seine Richtung gewandt die Nase putzte. Dabei kitzelte das Tuch sanft an ihrer unwiderstehlichen Nase, sodass sie grinsend kichern musste. Keine zehn Pferde hätten seine brennende Brust in diesem Moment vor dem Bersten bewahren können, als er ihr mit einem herzhaften „Gesundheit!“ Luft verschaffte. In seinem Eifer dröhnte sein Ruf durch den ganzen Saal, sodass sich jedes Gesicht, einschließlich das des grimmigen Professors, erschrocken zu ihm wandte. Sie lächelte ihn spöttisch an, dankbar, dass nun alle mit hochgezogenen Augenbrauen auf ihn starrten und nicht mehr zu ihr. Ein Lächeln nur für ihn. Der Rest der Stunde ging in einem undurchdringbaren weißen Nebel unter.

Sein Sitznachbar stupste ihn ungeduldig von der Seite. „Komm, lass mich durch, die Vorlesung ist vorbei und du solltest auch besser verschwinden, bevor der Prof sieht, dass du ihm seinen nagelneuen Hörsaal vollgekritzelt hast“, sprach ihn der Schnöselpulli über Polohemdenträger genervt an. Seufzend nahm er seinen unbeschriebenen Block von dem entstellten Tisch herunter und warf ihn in seine verranzte Umhängetasche. Umhängetaschen waren mittlerweile modern unter männlichen Studenten. Seine, jedoch, war so heruntergekommen, dass selbst seine spartanisch lebende Großmutter bei ihrem Anblick jedesmal die Nase rümpfte. Während er mit schwindligem Kopf die Reihe verließ, schämte er sich zum ersten Mal ihrer. Der Ursprung hierfür ging mit übertrieben langsamen Schritten gerade den Gang zur Tür entlang. Die Gestalt schlenderte nervös trippelnd an der Wand entlang, scheinbar interessiert jedes Plakat musternd. Ihre Augen fuhren langsam von Wort zu Wort, während ihre kleine, runde Nase wie ein Peilsender die Richtung angab. Endlos betrachtete er ihr streng angespanntes Gesicht. Ihre zusammengezogenen Brauen und gepressten Lippen, als nähme der Inhalt all ihre Konzentration in Anspruch. Immer wieder musterte sie Plakat um Plakat, inspizierte gnadenlos Zeile für Zeile, bis sie sich mit einem entschlossenen Ruck ihm direkt zuwandte, in die Augen blickte und zornig ausrief: „Wie lange muss ich denn noch diese peinlichen Demoplakate hier mustern bis du, blöde Ölgötze, endlich ein Fünkchen Mumm in deine Knochen bekommst?“ Dabei wurde ihr Gesicht ganz rot vor Wut – oder Scham? – und sie rannte aufgebracht davon. Er bemerkte die Beleidigung seiner gestern noch spät Nachts entworfenen Plakate nicht einmal und stürzte mit langen Schritten hinter ihr her. Sie eilte gerade die Treppe hinunter, als er mit einem entschiedenen Satz über das Geländer sprang und eine Etage tiefer laut vor ihrer Nase aufkam. Vor Schreck schrie sie laut auf und ließ dabei ihre Bücher fallen. „Möchten Mylady mich eventuell zu einem galanten Dinner in der vorzüglichen Mensa begleiten?“, grüßte Thomas sie mit forscher Dreistigkeit. Plötzlich fing sie lauthals an zu lachen und zusammen hoben sie schmunzelnd die Bücher auf. Sie schüttelte beständig den Kopf, als sie die Treppe hinuntergingen: „Du bist doch verrückt!“ - „Hm,“ erwiderte er ihr neckend, „ziehen wir Bilanz. Du hast meine mühselige Arbeit beleidigt, mich eine Ölgötze bezeichnet und mich unwiderruflich für verrückt erklärt. Darf ich zumindest den Namen meiner mir Übelgesinnten erfahren?“. Sie sagte ihm ihren Namen. Es war ein schöner Name. Ein unbeschreiblicher Name und sie waren noch keine zwei Schritte aus der Tür, da schloss er die Hand dieses bezaubernden Mädchens in die seine. Sie ging diese Nacht nicht nach Hause. Sein enges Bett bot Platz genug für zwei frisch Verliebte. Das ganze Wochenende hielt es die Beiden warm, lauschte den langen Gesprächen und drehte sich rücksichtsvoll weg, als sie sich vorsichtig näher kamen.

Nie hatten sie so viel und so ehrlich gelacht, wie dieses Wochenende, als sie den anderen gefunden.
Nie hatte das Herz so warm, so lebendig, so kraftvoll gepocht. Nie gaben sie sich mehr einem anderen hin. Öffneten sich. Legten nieder jeden gewaltigen Schutzwall. Doch am Mittwoch brachte er sie zum weinen.
„Wieso weinst du denn?“, er schloss sie besorgt in seine Arme, während sie ihr Gesicht heftig in seiner Brust vergrub. „Habe ich etwas Falsches gesagt? Was passiert denn bei euch so schreckliches an Weihnachten, dass es dich so mitnimmt?“, flüsterte er tief verängstigt in ihr Ohr. Sie weinte heftig und es dauerte lange, bis seine mitfühlenden Worte und schützende Umarmung sie beruhigten. Es war spät geworden. Er fragte nicht wieder nach Weihnachten, denn sie kam von selbst zu ihm, als sie bereit war. Sorgenvoll legte er sich ins Bett und hielt sie weiter fest in seinen Armen. Hielt behutsam Wache, während sie sein Hemd bis spät in die Nacht durchnässte. Für sie gab es kein Weihnachten. Sie war allein.



Dieser Absatz kann bereits in sich als abgeschlossen betrachtet werden. Das offene Ende soll zum Nachdenken anregen.
Bei Interesse folgt eine Fortsetzung...
 



 
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