Wald

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Es ist noch früh am Morgen, als du aus dem Haus schleichst. Du weißt, dass es ein langer Weg ist und du weißt, dass deine Familie dich nicht gehen lassen würde, wenn sie schon wach wäre. Dabei wissen sie nichts von dem, was du tun willst. Leise schlüpfst du vor der Tür in deine Turnschuhe und schulterst den Rucksack. Aber vorsichtig, deine Fracht ist wertvoll. Es ist kühl draußen, dein Atem vermischt sich mit dem Nebel, der von den Wiesen kommt und du machst die Jacke ganz zu. Mit schnellen Schritten gehst du durchs Dorf und gibst Acht, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Schnell bist du am anderen Ende der Hauptstraße angelangt, an dem ein kleiner Feldweg nach rechts abgeht. Du drehst dich noch einmal kurz um, aber es ist alles still und friedlich. Ganz so, wie es sich gehört. Ein Lächeln schleicht sich auf dein Gesicht. Bis hierher hattest du Angst, es könnte noch jemand kommen, der dich aufhalten will. Nun ist dir leichter ums Herz und deine Schritte werden gelassener.

Der Feldweg ist weich und deine Sohlen drücken sich tief in den Untergrund, also versuchst du auf der Grasnarbe zu bleiben. Sicher ist sicher. Die Sonne steigt langsam auf und der Nebel wird noch einmal dichter. So wie immer bevor er sich auflösen muss. Es fröstelt dich ein wenig, als du durch den Dunst den Schatten des Waldes vor dir erkennst. Er sieht groß und finster aus, doch du bleibst nicht stehen und vertraust auf deinen Instinkt. Es wird dir nichts passieren. Nicht heute. Nicht jetzt. Dafür hast du etwas viel zu wichtiges vor. Du schlägst dich durch das Unterholz. Deine Hose verfängt sich hier und da in einem kleinen Strauch oder einem Setzling. Du spürst, dass die Sonne stärker wird. Hier und da fallen hellgoldene Lichtstrahlen durch das Blätterdach und tauchen die Umgebung in ein unwirkliches Zwielicht, lassen den Morgentau auf den Blättern wie Irrlichter funkeln. Doch du lässt dich durch nichts beirren. Mit festen Schritten läufst du weiter. Seit fast einer Stunde bist du nun schon unterwegs, es wird wärmer und du musst deine Jacke wieder aufmachen.

Gleich bist du am Ziel.

Die Bäume werden lichter. Dein Herz rast. Und plötzlich stehst du unter dem strahlend blauen Himmel auf einer Lichtung. Du musst ein paar Mal blinzeln, um dich an das helle Licht zu gewöhnen, dein Atem geht schwer und nur langsam nimmst du die Konturen deiner Umgebung wieder wahr. Der Nebel hat sich hier noch nicht ganz aufgelöst, aber der See glitzert wunderschön. Das Gras ist grün und an einigen Stellen von Tieren abgegrast. Es ist wie ein Traum, aber du weißt, dass es real ist. Zwischen ein paar Büschen liegt ein umgekippter Baumstamm, der dicht mit Moos bewachsen ist. Zuerst denkst du, dass niemand da ist, doch dann siehst du ihn. Er schaut auf das Wasser und wartet auf dich. Als du näher kommst, dreht er sich um und lacht dich an. Es ist ein befreites, ehrliches Lachen. Ein Lachen, das man nur selten von einem Menschen bekommt. Du lächelst ihn auch an und setzt dich neben ihn. Eine Weile sagt niemand ein Wort. Ihr schaut beide auf das Wasser und beobachtet, wie sich die dünnen Nebelschwaden auflösen.

„Danke, dass du gekommen bist.“ Er sagt es so plötzlich und unvermittelt, dass du einen Schreck bekommst. Dann schüttelst du leise und bedächtig den Kopf.

„Natürlich. Ich habe es dir doch versprochen.“

„Versprechen werden oft gebrochen, das weißt du.“ Sein Lächeln verschwindet und seine Augen sehen dich traurig an. „Ich habe mein Versprechen auch gebrochen. Es tut mir Leid.“

Du weißt nicht genau, was du sagen sollst. Er hatte sein Versprechen gebrochen, ja. Aber wie könntest du ihm das nicht verzeihen?

„Es ist schon gut.“ Du willst seine Hand nehmen, doch du traust dich nicht, aus Angst, er könnte gehen. „Schon gut.“

Er schweigt wieder, aber um seine Lippen spielt sich wieder dieses Lächeln. Du holst deinen Rucksack.

„Ich habe sie mitgebracht, wie du wolltest.“ Du machst den Reißverschluss auf und er beobachtet, wie du eine kleine Schatulle herausholst. Ganz fest behältst du sie in der Hand, denn du weißt, wie wertvoll sie ist. Für ihn und für dich.

„Danke.“

„Willst du, dass ich sie aufmache?“

„Noch nicht. Ich möchte diesen Moment noch eine Weile genießen.“

Du stellst das Kleinod vorsichtig auf den feuchten Boden und entspannst dich für diesen letzten Augenblick noch einmal. Mit ihm war es immer schön. Ihr konntet reden oder schweigen, es war egal. Alles mit ihm fühlte sich einfach nur wundervoll an. Eine Welle der Traurigkeit überkommt dich, aber du willst jetzt nicht weinen. Du willst dir diesen Moment einprägen, damit du ewig von ihm zehren kannst. In den schlechten Zeiten, die zweifelsohne noch auf dich zukommen werden, willst du diesen einen Moment im Herzen tragen, der einfach vollkommen und schön ist. Der Geruch nach morgenfrischer Wiese, das leise Summen der Insekten und der See, in dessen silbernem Wasser ein Entenpaar seine Kreise zieht. Es sind nicht die Einzelheiten für sich, die das Bild perfekt machen, es ist das große Ganze.

Das große Ganze, denkst du. Und plötzlich wird dir etwas klar, du weißt nicht, was es genau ist, aber plötzlich scheint sich ein Schleier von deinen Augen zu heben und du fühlst dich merkwürdig leicht. Die Trauer ist verschwunden und du lächelst, so wie er lächelt. Befreit, losgelöst, ehrlich. Du siehst ihn an. Er hat dich die ganze Zeit beobachtet.

„Die Zeit mit dir war die glücklichste meines Lebens.“ Er sagt es ernst und lässt keinen Zweifel daran, dass es wahr ist. Du lächelst weiter und nickst. Etwas anderes kannst du nicht tun. Er schaut auf die Schatulle und lächelt. „Ich denke, es ist soweit.“

„Wirklich?“

„Ja, ich bin bereit.“

Du stehst auf und hebst die Schatulle auf. Sie ist aus Holz und in schönen hellen Farben bemalt. Er mochte sie schon immer, deshalb hast du sie gewählt. Sanft lässt du deine Finger noch einmal über die glatte Oberfläche gleiten, dann siehst du ihn an. Er sitzt noch immer auf dem Baumstamm und lächelt dich an. Ein Nicken von ihm gibt dir die Gewissheit, dass es nun an der Zeit ist. Du drehst dich zum See und schlägst den kleinen Haken um, der den Deckel verschließt. Das grauschwarze Pulver fliegt beinahe von alleine los, also gibst du ihm nur noch einen kleinen Schubs. Du beobachtest, wie es über den kleinen See fliegt und sich hier und da niederlegt.

„Ich liebe dich.“, flüsterst du und meinst im Wind noch eine Antwort zu hören. Als du dich zurück zum Baumstamm drehst, ist er nicht mehr da. Der Abdruck, wo du gerade eben noch gesessen hast, ist deutlich zu sehen, ebenso deine Fußspuren im Gras. Aber es gibt kein Anzeichen, dass er neben dir gesessen hat. Und dir wird bewusst, dass er fort ist und nie wiederkommen wird. Du stellst die Schatulle ab und atmest ein paar Mal tief durch. Dann nimmst du deine Kette ab. Er hatte sie dir geschenkt. Ganz leicht liegt sie in deinen Händen, das silberne Band und der kleine Anhänger. Es ist kein Herz, Herzen fand er zu kitschig. Es ist eine Rune, die, seiner Aussage nach, für Licht steht. Sie sollte dir helfen, deinen Weg zu finden. Du lächelst und gibst dem Schmuckstück einen Kuss. Dann legst du es sanft in die Schatulle und verschließt sie wieder. Kurz drückst du sie an deine Brust, bevor du sie in den See gleiten lässt. Du hast deinen Weg gefunden, jetzt sollte das Licht, das er dir geschenkt hat, für immer hier ruhen. Zusammen mit ihm.

Deine Schritte sind langsam, als du den Rückweg antrittst. Immer wieder verfängst du dich im Geäst. Du schwitzt und musst die Jacke ausziehen. Je weiter du dich vom See entfernst, desto mehr wirst du dir bewusst, dass du niemals wieder dorthin zurückkehren wirst. Es war ein endgültiger Abschied von ihm und von allem, was du mit ihm verbunden hast. Du stolperst den Feldweg entlang und zurück auf die Dorfstraße, wo jetzt einige Leute unterwegs sind, die dich mit befremdlichen Blicken mustern. Du beachtest sie nicht. An der Tür empfängt dich deine Mutter. Wütend, selbstverständlich. Doch als sie dich ansieht, wird ihr Gesicht sorgenvoll. Du bist verschwitzt und dreckig, du hast Kratzer an den Armen und Tränen laufen dir über das Gesicht. Du weißt nicht, wie sie sich angeschlichen haben, aber als deine Mutter einen Schritt auf dich zumacht, wirfst du dich in ihre Arme. Du weinst. Und es fühlt sich gut an. Du hast ihn gehen lassen und kannst jetzt trauern. Deine Gefühle fügen sich endlich in alles ein, was geschehen ist und das große Ganze ist nun komplett.

„Das große Ganze.“, flüsterst du heiser und schmeckst das Salz auf deinem Lächeln. Du weißt, dass du über ihn hinweg kommen wirst, dass du leben wirst und dass du ihn nie vergessen wirst.
 
Deine Sprache gefällt mir sehr gut, sie ist leicht und passt gut zu der Wald-Szenerie.
Auch das Motiv des Waldes unterstützt das Geheimnisvolle der Geschichte.
Gut gelungen :)
 



 
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