Was das Land mir sagen wollte ....

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Pnirff

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Was das Land mir sagen wollte

Lange Zeit stand ich auf dem hölzernen Aussichtsturm nahe der Wümme und blickte auf die fetten Wiesen und Weiden nieder, die sich vor meinen Füßen bis fast zum Horizont erstreckten. Ich war rein zufällig hier entlang gefahren und hatte schon von weitem den circa 25 Meter hohen alten Holzturm erblickt und entschloss mich kurzerhand anzuhalten um meinem Hund eine kurze Verschnaufpause von dieser langen Fahrt zu gönnen. Tief sog ich die warme aber gleichzeitig erfrischende Luft in meine Lungen und musste feststellen, dass auch mir die Rast gut tat. Ich lehnte mich über die Brüstung, die schon so oft kalten Winden, Schnee aber auch der Sommerhitze standgehalten hatte und schaute in die Ferne. Der Ausblick schmeichelte meinen Augen. Vielerlei Farben mischten sich in das Bild, malten grüne Gräser, getrennt von Weidezäunen, um gleich wieder in ein gelbes Meer von Raps zu verschwimmen. Mein vierbeiniger Begleiter sprang einem virtuellem Spielgefährten hinterher, legte sich nieder und rieb seinen Rücken auf die Erde. So einfach konnte das Leben sein. „Ronny“ rief ich kurz, nur um ihm etwas zuzurufen. Er blickte auf, sah in meine Richtung und ließ seine Zungen aus der Schnauze baumeln. Da keine weiteren Reaktionen meinerseits zu erwarten waren, gab er sich erneut seinem Spiel hin und sogleich war ich vergessen.
„Entspanne Dich doch mal etwas! Schalte mal ab …“ dachte ich mir und stieg den Turm hinab und begab mich auf den kleinen Weg, der sorgfältig zwei Weiden in ihre Schranken verwies. Der Weg war trocken und staubig und bei jedem Schritt hinterließ ich eine kleine Wolke. Mein Schuhwerk bedeckte sich mit Erde und ab und zu schwirrte ein Insekt um meinen Kopf um gleich wieder zu verschwinden. Zwischen den aufgestellten Weidepfählen wuchsen zahlreiche Pflanzen mit wechselnden Farben. „Das ist Natur“ murmelte ich leise. „Nichts ist geplant, alles wächst frei und doch nach einem unendlich komplexem Muster.“. Weit in der Ferne hörte ich Vogelgesang, ein immer wiederkehrendes Rufen und ich erschrak ein wenig, als links von mir ein Bullentier mit einem kurzen Sprint mich zunächst einholte, kurz innehielt und weiter im Galopp die Weide entlang preschte. Der Weg schien nicht enden zu wollen. Ich pflückte einen trockenen Grashalm und steckte mir diesen in den Mund, so, wie wir es als Kinder oft getan hatten, wenn wir gedankenverloren auf irgendeiner Wiese lagen und den Wolken beim Tanzen zusahen. Ronny rannte an mir vorbei und erkundete das Terrain weit vor mir. Ein Späher auf vier Beinen.
Ich war in mich gekehrt, dachte über mich selbst nach, über meine Familie, über meinen Beruf, über Probleme und Lösungen. „Warum hat der Tag nicht 48 Stunden?“ dachte ich mir und arbeitete weiter in Gedanken an Ideen. „Das nächste Wochenende muss ich wieder arbeiten. Sonst schaffe ich es nicht, nicht mehr diesen Monat. Wie bringe ich das nun wieder meinen Kindern bei?“ Die Farben, die mich umgaben inspirierten meine Gedanken und der Geruch von frischem Gras sorgte für die nötige Energie. Ich bemerkte nicht wirklich, dass der Landwirtschaftsweg in ein kleines Waldstück führte und auch die plötzlich eintretende Kälte war willkommen. Das Sonnenlicht wurde gedimmt und meine Pupillen weiteten sich ein wenig. „Warum sind die Geschäftsjahreszahlen so schlecht prognostiziert?“ dachte ich und schlenderte weiter. Der Weg wurde zu einem Trampelpfad und ich folgte blind den Rechts- und Linksbiegungen, wie ich auch meinen schlängelnden Gedanken folgte.
„Moin, moin“ rief eine sonore Stimme und ich zuckte zusammen, warf meinen Kopf in die Richtung aus der die Stimme kam. Ich sah einen älteren Herrn auf einem abgesägten Baumstumpf sitzen, auf dem er es sich offensichtlich gemütlich gemachte hatte um eine Pause einzulegen. Vor ihm auf dem Boden lag eine kleine Decke mit etwas Brot, ein paar Stücke Wurst und eine alte Karaffe, die wahrscheinlich mit Wasser oder Limonade gefüllt war. „Ist das wirklich Dein Weg?“ fragte die Stimme und gleichzeitig klopfte der Mann auf die Decke, als wollte er mich auffordern, Platz zu nehmen. „Es …“ antwortete ich stammelnd, „… was meinen Sie?“ fragte ich verunsichert. „Nun …“ sagte der Mann, „wenn Du diesem Weg folgst, dann wirst Du es schwer haben. Setze Dich ein wenig zu mir, bevor Du weiter gehst. Du wirst es brauchen!“.
Ronny saß bereits in respektvollem Abstand vor ihm und starrte auf die Wurst. „Einen feinen Begleiter hast Du da.“ sagte er, ohne den Blick von mir zu nehmen. „Tiere wissen instinktiv, was gut für sie ist“. „Ja!“ antwortete ich und setze mich im Schneidersitz vor die ausgebreitete Decke und auch ich bemerkte die Leckereien und auch meinen Hunger, den ich bis so eben erfolgreich verdrängt hatte. „Was meinen Sie mit, ich werde es brauchen?“ fragte ich und ich wusste nicht, ob das die richtige Frage war um ein angenehmes Gespräch zu fördern. „Du wirst Luft und Kraft brauchen, für wirklich stürmische Zeiten.“ antwortete er und fischte aus seiner ledernden Hose ein Messer, schnitt ein Stückchen Wurst ab und hielt es in meiner Richtung. Ich nahm es dankend an und biss herzhaft in das gute Stück. Ein blaues Hemd mit weißen Längsstreifen kleidete seinen Oberkörper und sein gesamtes Aussehen ließ auf ein arbeitsreiches Leben schließen. „Stürmisch?“ fragte ich mich halbvollem Mund. „Ich verstehe nicht?“ bohrte ich weiter. „Ich will es mal so sagen.“ begann er langsam, „Wenn Du Dich nicht auf stürmische Zeiten vorbereitest, dann wirst Du weggespült. Deichen oder weichen, mein junger Freund!“. Ich blieb still in der Hoffnung, er würde erklären, was genau er meinte und ich sollte belohnt werden. Ronny kam nah zu mir heran und legte sich neben mich, als wollte er der kommenden Geschichte ebenfalls folgen.
Der Mann kostete die Situation aus, nahm genussvoll die Karaffe und schenkte sich diesmal alleine eine klare Flüssigkeit in einen Metallbecher nahm einen großen Schluck und hielt mir anschließend zu meiner Überraschung den Becher hin. Auch dieses Mal folgte ich seiner Einladung und das kühle Wasser füllte meinen Magen und erfrischte mich.
„Ich bin hier geboren.“ begann er leise und machte erneut eine längere Pause.
Zum ersten Mal senkte er seinen Blick und schaute mich nicht direkt an, als schämte er sich für diese Worte. „… und ich war mein Leben lang hier. Habe hier ein Handwerk erlernt, eine Familie gegründet um nun alleine meinen Lebensabend zu genießen. Solange ich denken kann, haben wir versucht, das Land hier fruchtbar und nutzbar zu machen, wir haben Gräben gebaut, das Land bepflanzt und die Ernte eingehalten. Doch jedes Mal kam die Flut!“. Der alte Mann machte wieder eine Pause, doch diesmal war die Pause nicht stilistischer Natur. Er holte Luft. „Flut?“ fragte ich interessiert. „Ja! Flut!“ antwortete er „… und was für eine Flut. Teilweise wurden ganze Häuser und Dörfer umspült, weggerissen und komischerweise kam sie immer bei …. „ wieder setzte eine lange Pause ein. „ … sie kam immer bei Nacht! … bei Nacht!“ wiederholte er, als hätte er Sorge, ich hätte den letzten Teil nicht verstanden. Er fuhr sich mit seinen knochigen Händen durch sein strähniges Haar und massierte sich anschließend den Nacken. „Ja“ sagte er leise „sie kam bei Nacht, als wir schliefen. Ohne Vorwarnung, aber ich wurde gewarnt, doch ich wollte es nicht wissen.“ Ich sagte kein Wort. Ich saß einfach da und stützte meinen Kopf auf mein aufgestelltes Knie und folgte seinen Worten. Es schien so, als hätte er mich völlig vergessen und erzählt sich selbst seine Lebensgeschichte und ich wollte ihn nun wirklich nicht dabei stören. „Ich hätte auf sie hören sollen.“ begann er erneut. „Sie sagten mir, dass unser Haus nicht sicher sei und das wir weiter auf einen der höheren Wurten ziehen sollten, aber ich habe nicht gehört. Und dann kam sie! Eines Nachts riss sie die Tür auf und mit ihr die ganze Wand. Umspülte das Zimmer, mein gesamtes Hab und Gut, meine Familie …. alles war in Gottes Hand, für Sekunden und dann war alles vorbei. Und vorher war alles in meiner Hand.“. Er wirkte verzweifelt und älter als zuvor. Tiefe Falten zeichneten sich auf seiner grauen Stirn ab, dort, wo sie schon oft gewesen waren. „Ich habe sie verloren …“ setzte er erneut an. „Ich konnte sie sehen aber nicht halten. Sie streckte Ihre Finger nach mir aus und sagte etwas. Aber ich konnte sie nicht hören! Und ich … ich machte mich so groß es eben ging und ich wusste, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Meiner kleinen Anna.“. Ich schluckte. „Anna war ihre Tochter?“ fragte ich, doch ich wusste, dass ich hier keine Antwort zu erwarten hatte. „Sie war 6 Jahre alt und ich wurde gewarnt! Danach habe ich sie nie wieder gesehen. Jedes Siel habe ich abgesucht, doch vergebens. Deichen oder weichen, mein Junge. Ich habe gewählt aber ich hätte weichen sollen. Danach haben wir Hemme verlassen und ich wollte nie wieder einen Fuß in dieser Dorf setzen.“ Der alte Mann sackte in sich zusammen und man merkte, dass es ihn viel Kraft gekostet hatte, diese Geschichte zu erzählen und wer weiß, wie oft er es schon getan hatte. „Es … es tut mir leid, das zu hören. Wirklich. Das ist keine schöne Geschichte.“ brachte ich zustande. „Ja“ sagte er und schaute mich an. Eine Träne glitt über sein Gesicht und er wischte sie rüde mit dem Handrücken hinweg. „Ich hätte weichen sollen! Und was ist mit Dir?“ Ich konnte nicht antworten. Ich verstand nicht ganz, was er mir sagen wollte, aber ich fühlte, dass er es ehrlich mit mir meinte. „Bist Du sicher, dass das hier Dein Weg ist?“ fragte er erneut. Ich war mir nicht sicher, ob ich antworten sollte. Ich war mir nicht sicher, ob ich alles in meinem Leben richtig gemacht hatte und ob ich auf dem richtigen Weg war und dachte sofort wieder an die vielen, bis vor kurzen mir wichtig erscheinenden Probleme, für die ich eigentlich nie eine Lösung gefunden hatte. So antwortete ich mit „Nein. Ich bin mir nicht sicher, ob das mein Weg ist.“ Und schaute gleichzeitig betroffen zu Boden. „Was ich Dir sagen möchte ist … konzentriere Dich auf das Wesentliche in Deinem Leben. Und prüfe stets, ob es Dein Weg ist, den Du wirklich verfolgen möchtest. Mehr nicht. Und wenn Du erkennst, dass Du die wichtigen Dinge mit Nichtachtung und Ignoranz strafst, dann weiche aus. Nimm alles was Dir lieb ist und verändere Deinen Weg, damit Dir nicht das Gleiche widerfährt wie einst mir!“. Er legte seine Hand auf meine Schulter und der leichte Druck wirkte ungewohnt väterlich. „Nun geh“ sagte er „und denke über das nach, was ich Dir gesagt habe.“
Ich stand sogleich auf und wartete kurze Zeit auf eine Reaktion. Der alte Mann erhob sich ebenfalls und er war kleiner, als ich annahm. Er schaute mir erneut mit ernster Miene ins Gesicht und sagte „Folge nicht dem Weg. Weiche von Deinem Weg ab, für die, die Du liebst!“. Meine Kehle schnürte sich zu und ich wollte etwas sagen, drehte mich dann aber wortlos um und machte kehrt. Nach ein paar Metern schaute ich zurück, um mich zumindest für die Gastfreundschaft zu bedanken, aber der alte Mann war bereits verschwunden und hinterließ nur den abgesägten Baumstumpf auf dem er vorher gesessen hatte. Mein Weggefährte allerdings trottete bereits an meiner Seite.
Eines Morgens erinnerte ich mich an diesen Tag und an die außergewöhnliche Geschichte, an den alten Mann, der mir in so kurzer Zeit so nahe getreten war. „Anna, die Tochter des alten Mannes aus Hemme.“, soweit konnte ich mich noch erinnern. Ich startete meinen Laptop und gab die Suchbegriffe „Hemme Sturmflut“ ein. Nach ein paar Sekunden lass ich folgenden Artikel:

„Das Blockland wurde 1235, die früheren Dörfer Hemme 1139, Wemme und Damme 1299 erstmals erwähnt. Im Mittelalter wurden diese Dörfer aufgegeben, da der Wasserstand so stark angestiegen war, dass eine Besiedlung im Blockland nur noch direkt an den Deichen möglich war.“

„Aufgegeben?“ dachte ich, „im 12ten Jahrhundert?“. Meine Hände begannen zu zittern und ich startete erneut eine Suche „Hemme heute“ und lass:

„Zum Blockland gehören die ehemaligen Dörfer bzw. Gemarkungen Bavendamm, Damme mit Dammsiel, Hemme, Niederblockland, Oberblockland, Wasserhorst, Wemme und Wummensiede.“

„Wieso die ehemaligen Dörfer?“ dachte ich. „Der alte Mann sagte eindeutig Hemme, er käme aus Hemme!“ schrie es in meinem Kopf. Schnell klappte ich den Laptop zu. „Deichen oder weichen, mein junger Freund.“ schoss es mir durch den Kopf und es war, als hätte ich seine Stimme gehört. Ich wurde leichenblass und mir war plötzlich alles klar. So klar, wie einst der Sommertag, an dem ich ihn getroffen hatte.
Langsam wählte ich die Nummer meines Arbeitgebers, wartete auf das Freizeichen und blickte auf das Foto meiner Söhne, das sie mir zu meinem Geburtstag geschenkt hatten und flüsterte leise „Weichen …“.

Ist es das, was er, was das Land mir sagen wollte?
 



 
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