Was denn

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Mika

Mitglied
Was denn

Sonntag Nachmittag. Mit meiner üblichen Panik, überallhin zu spät zu kommen, haste ich ins Kino, kaufe eine Karte und erinnere mich, dass ich vorher noch mal auf die Toilette gehen sollte, bevor es mir – wie beim letzten Mal – an der spannendsten Stelle des Films einfällt.
Noch völlig in meinen Gedanken vertieft, sehe ich dich, wie du hinter der Popcorn-Theke stehst und die kleinen Nacho-Tüten faltest. Mein Gehirn benötigt einige Zeit, bis es die visuellen Reize verarbeitet hat und ich erkenne, dass das tatsächlich du bist.
Tausend Dinge schießen mir durch den Kopf: dass ich dich erst vorgestern am Bahnhof gesehen habe und zwei Tage davor; dass hier alles anfing und du mir fehlst, irgendwie. Wieso habe ich mich eigentlich entschlossen, mir unbedingt heute “Herr der Ringe“ anzusehen und seit wann arbeitest du wieder im Kino? Man ahnt ja auch nicht gerade, dich ausgerechnet hier wieder zu treffen. Und jetzt habe ich nicht nur einen, sondern gleich fünf Klöße im Hals.
„Sieh’ nicht her! Mach’ weiter und rede nicht mit mir!“, bitte ich dich in Gedanken. Und nun kommst du zu mir herüber, weil Gedankenübertragung Quatsch ist und es Beschwörungszauber nur im Märchen gibt.
Ich sage etwas wie „Hi, wie geht’s dir?“ oder „Sehen wir uns neuerdings dreimal die Woche?“ oder war es vielleicht sogar ein sinnlich gehauchtes „Hallo, schöner Mann!“ ?
Auf jeden Fall bist du verblüfft von meiner Begrüßung. So verblüfft, dass es mir wiederum den Boden unter den Füßen wegzieht, dass ich dich so in Sprachlosigkeit versetzen konnte und ich nicht anders kann, als dich anzustarren, bis du das Schweigen mit einem „Was denn?“ durchbrichst.
Ich kenne es gut, dieses „Was denn?“. Du sagst es jedes Mal, wenn du eigentlich verlegen bist und beginnst dann im nächsten Moment, irgendwelche imaginären Makel an deiner Kleidung festzustellen. Dann fragst du immer, warum dir das denn keiner gesagt hätte. Diesmal ist es angeblich deine Krawatte, die nicht richtig sitzt. Du rückst sie zurecht und als du damit fertig bist, sehe ich keinen Unterschied.
„Hast du was mit deinen Haaren gemacht?“, höre ich mich jetzt fragen. Das war natürlich daneben, aber deine Schlips-Justier-Aktion hat auch nicht gerade dazu beigetragen, dieser Situation ein entspanntes Flair zu geben. Ich hatte ja geahnt, dass du uns in so eine missliche Lage bringen würdest! Mir ist das im Prinzip egal, ich bin sowieso eher schüchtern. Nur Pech für dich, zweimal „Was denn?“ klingt nicht sonderlich gut. Und da es anscheinend keiner von uns beiden schafft, einen vernünftigen Satz zu Stande bringen, machen wir eine Runde Smalltalk und enden im Ansatz eines Gespräches über seltsame Zufälle und warum man, nur mal so als fiktives Beispiel, seine ehemaligen Lebensabschnittspartner immer unter genau den Umständen wiedertrifft, unter denen man sie kennen gelernt hat...
Mein Film läuft mittlerweile seit 15 Minuten, Frodo Beutlin hat soeben erfahren, dass er den Ring aus dem Auenland bringen soll, und wir fangen bestimmt bald an, hier Wurzeln zu schlagen und stehen noch an Weihnachten herum, wenn die Christbaum-Saison nicht in den Sommer vorverlegt wird.
Schade eigentlich, denn wenn ich mich jetzt nicht irre und du nicht noch drei Stunden arbeiten müsstest, hätte das doch eine interessante Konversation über die Verwendung sinnloser Formulierungen aufgrund der Unfähigkeit, normal miteinander kommunizieren zu können, gegeben - oder eventuell auch einen netten Nachmittag, wer weiß.
 
H

Henry Lehmann

Gast
Hallo Mika,

nett geschrieben, obwohl ich die ganze Zeit gerätselt habe, wer jetzt Frau und wer Mann ist. Tragen in manchen Kinos nicht auch Frauen Krawatten?

LG Henry
 



 
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