H
HFleiss
Gast
Was ist eine Dienstreise?
„Opa, was ist eine Dienstreise?“
Professor Wellenbruch legte den Kugelschreiber beiseite, nahm die Lesebrille ab und rückte seinen Armlehnenstuhl zurecht. Enkelin Kessie hatte eine Frage. Eine, die zu erörtern er heute im Grunde keine Lust hatte, aber das Kind hatte gefragt, und Fragen forderten Antworten.
„Tja, also, Dienstreisen sind ...“
„Nein, nicht Dienstreisen. Muttis Dienstreise. Weshalb ich zu Weihnachten bei dir bleiben muss und Papa auch nicht da ist.“
„Tja, also Muttis Dienstreise ...“
Kessie war zu ungeduldig. Kam ganz nach der Schwiegertochter. Diese Verrückte, ja Verrückte, rauscht doch heute nachmittag herein wie ein Orkan, stellt das Kind mitten ins Zimmer, murmelt etwas von einer Dienstreise, selbstverständlich gelogen, was sonst, wer ging über die Feiertage schon auf Dienstreise – also diese Ehrvergessene stellte ihr eigenes Kind bei ihm ab, als sei es ein Gegenstand. Und das zu Weihnachten. Wo er sich so viel vorgenommen hatte, das Referat, das er Anfang Januar vor dem Kollegium halten sollte, wartete. Aber ausgerechnet jetzt musste er sich um Weihnachten kümmern. Kein Familienzusammenhalt, typisch Schwiegertochter, knallt auch noch das Weihnachtsgeschenk auf den Tisch: Mach Alter, bist schließlich der Großvater. Ach, wenn es doch bloß keine Schwiegertöchter gäbe.
„Tja, Muttis Dienstreise, Kessie, mal ganz objektiv gesagt, sie ist ganz plötzlich gekommen.“
Kessie zog eine Schnute. „Und Papa ist auch nicht da.“
„Papa, Kessie, ist in Alaska, bei den Eskimos, das weißt du doch. Weißt du, was Eskimos sind?“
Kessie überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Nein, Opa. Ich weiß aber, was Ameisen sind. Sie krabbeln. Und du siehst aus wie der Weihnachtsmann. Du hast einen weißen Bart und weiße Haare und eine rote Nase. Mutti sagt auch, du bist ein Weihnachtsmann. Und du hast ein Fernglas. Da siehst du jeden Abend hinein, sagt sie.“
„Ein Fernglas?“
Professor Wellenbruch war erschüttert. Seine Schwiegertochter unterhielt sich mit dem Kind über ihn, und das mit so groben Worten! Sogar sein abendliches Glas Rotwein verargte sie ihm! Aber so weit kam es noch, dass er sich vor der Vierjährigen verteidigte.
„Ein interessantes Problem: Ameisen und Eskimos“, sagte er knurrig.
„Ich will aber nichts von Eskimos wissen. Was ist denn nun eine Dienstreise, Opa?“
„Eine Dienstreise, Kessie, ist eine Reise zu dienstlichen Zwecken.“
„Das versteh ich nicht. Eine Dienstreise? Was macht man denn da?“
„Man fährt mit dem Auto oder fliegt mit dem Flugzeug, das ist eine Dienstreise.“
Kessie sah ihn zweifelnd an. „Dann wünsch ich mir zu Weihnachten auch eine Dienstreise, Opa! Wie Mutti! Ich bin schon groß!“ Schmollend trollte sie sich.
Professor Wellenbruch war unzufrieden, mit sich und mit Kessie. Alt war er geworden, selbst ein so einfaches Problem wie eine Dienstreise zu erklären bereitete ihm Schwierigkeiten. Plötzlich aber erschrak er: Wo bekam er jetzt noch einen Weihnachtsbaum her? Und was sollte er dem Kind schenken? Ein Stofftier? Nein, das hatte sie schon, ihren Moritz, den sie nicht aus den Augen ließ. Ein computergesteuertes Auto? Nein, das war etwas für Jungen. Einen Teddy? Er kam zu keinem Ergebnis. Ach was, sagte er sich dann, und er tadelte sich, denn dieses „ach was“ hatte etwas Leichtfertiges und er verabscheute Leichtfertigkeiten. Irgendetwas Kindliches würde er auftreiben müssen bis morgen. Morgen, zu Heiligabend. Ein Ausweg: der Weihnachtsmarkt! Aber er war besorgt, und noch immer besorgt beugte er sich wieder über sein Referat.
Der Weihnachtsmarkt war Heiligabend vormittags noch geöffnet, aber nur spärlich besucht, ein paar Eltern mit ihren Kindern, Professor Wellenbruch reizte es, die Besucher zu zählen. Viele Büdchen waren schon geschlossen. Ein Karussell war in Betrieb, eines mit Pferden und Kutschen, das er aus seiner eigenen Kindheit kannte.
„Willst du Karussell fahren, Kessie?“
Kessie war Feuer und Flamme und krabbelte juchzend auf ein Pferdchen. Er ließ sie ihre Runden fahren. Es hatte ein wenig geschneit, und Professor Wellenbruch fror. Kessie kreischte jedesmal, wenn sie an ihm vorbeifuhr.
„Halt dich fest, Kessie!“, rief er ihr zu. Kessie kreischte noch lauter. Es war leichtfertig von ihm, sie allein auf das Pferdchen zu lassen, er hätte sie wohl besser in einen Wagen setzen sollen. Wenn sie nun herunterfiele? Wie stände er dann vor der Schwiegertochter? Das Karussell zog quietschend Runde um Runde. Professor Wellenbruch, dem die Kälte unter den Mantel und in die Zehen kroch, beschloss ein paar Schritte zu gehen.
In diesem Augenblick geschah etwas in seinem Rücken: Die Karussellmaschinerie gab einen stotternden, häßlich ratternden Ton von sich. Kindergeschrei, aufgeregte Stimmen, Fluchen des Karussellchefs. Professor Wellenbruch begriff nicht: Wo war Kessie?
Er begriff noch immer nicht, auch als Kessie schon vor ihm lag. Das Kind war blass, und es wimmerte. Was war geschehen? „Kessie, Kindchen.“ Er beugte sich über sie und streichelte ungeschickt ihr Köpfchen.
Der Krankenwagen und ein Polizeiauto quälten sich gleichzeitig durch die Budenreihen. „Fraktur“, sagte der Arzt. „Sie muss ins Krankenhaus. Sie sind der Vater?“
Professor Wellenbruch nickte geistesabwesend. „Nein“, korrigierte er sich, „doch, der Opa. Eigentlich. Meine Enkelin, wir wollten doch nur ...“
Kessie hatte sich das rechte Bein gebrochen. Nun, im Krankenbett, lag sie vor ihm, schon wieder mit geröteten Wangen, und schielte auf ihr Gipsbein. „Sieh mal, Opa“, sagte sie, „ich mach Kasperletheater. Mein großer Zeh ist der Kasper, und der kleine ist Mutti. Er will sie mit der Patsche hauen. Aber er kann sie nicht sehen, sie ist auf Diiienstreise.“
„Lieg um Himmels Willen still, Kind!“
„Ich lieg doch still, Opa. Aber es ist so langweilig im Krankenhaus. Ich bin ganz traurig, mein Moritz ist auch traurig. Sieh mal, wie traurig.“ Sie hielt ihm das Stofftier entgegen, und Professor Wellenbruch brummte etwas Mitleidiges.
Kessie war eingeschlafen. Professor Wellenbruch saß am Bett der Enkelin, Stunde um Stunde, es war dunkel geworden, die benachbarte Kirche läutete. Die Schwester kam herein.
„Sie sollten jetzt gehen, Herr Professor.“
Er nickte, ja, er sollte gehen, das Kind brauchte Ruhe. Und er könnte endlich weiter an seinem Referat arbeiten.
„Und heute ist Heiligabend“, sagte er vorwurfsvoll. „Ein trauriges Weihnachten für Kessie.“ Er seufzte schwer und erhob sich. „Mein Sohn ist nämlich in Alaska“, sagte er. „Und die Schwiegertochter auf Dienstreise. Ich habe ihr eine Puppe gekauft.“
Die Schwester sah ihn verständnislos an. „Na, für Kessie, meine Enkelin. Aber Weihnachten im Krankenhaus, das ist wohl kein schönes Weihnachten für ein Kind?“
An der Tür verharrte er. Sein Blick fiel auf die schlafende Kessie. Wie wäre es ...? Erregt kam ins Zimmer zurück.
„Das ist doch ein Kinderkrankenhaus, Schwester, sicher haben Sie hier ein Weihnachtsmannkostüm? Eine Dienstreise, Schwester, wissen Sie, was eine Dienstreise ist? Weihnachtsmann auf Dienstreise, Erklärung in praxi. Das wird meine Kessie begreifen. Ich bin ihr nämlich eine Erklärung schuldig.“ Und verschwörerisch legte er den Finger auf den Mund.
„Opa, was ist eine Dienstreise?“
Professor Wellenbruch legte den Kugelschreiber beiseite, nahm die Lesebrille ab und rückte seinen Armlehnenstuhl zurecht. Enkelin Kessie hatte eine Frage. Eine, die zu erörtern er heute im Grunde keine Lust hatte, aber das Kind hatte gefragt, und Fragen forderten Antworten.
„Tja, also, Dienstreisen sind ...“
„Nein, nicht Dienstreisen. Muttis Dienstreise. Weshalb ich zu Weihnachten bei dir bleiben muss und Papa auch nicht da ist.“
„Tja, also Muttis Dienstreise ...“
Kessie war zu ungeduldig. Kam ganz nach der Schwiegertochter. Diese Verrückte, ja Verrückte, rauscht doch heute nachmittag herein wie ein Orkan, stellt das Kind mitten ins Zimmer, murmelt etwas von einer Dienstreise, selbstverständlich gelogen, was sonst, wer ging über die Feiertage schon auf Dienstreise – also diese Ehrvergessene stellte ihr eigenes Kind bei ihm ab, als sei es ein Gegenstand. Und das zu Weihnachten. Wo er sich so viel vorgenommen hatte, das Referat, das er Anfang Januar vor dem Kollegium halten sollte, wartete. Aber ausgerechnet jetzt musste er sich um Weihnachten kümmern. Kein Familienzusammenhalt, typisch Schwiegertochter, knallt auch noch das Weihnachtsgeschenk auf den Tisch: Mach Alter, bist schließlich der Großvater. Ach, wenn es doch bloß keine Schwiegertöchter gäbe.
„Tja, Muttis Dienstreise, Kessie, mal ganz objektiv gesagt, sie ist ganz plötzlich gekommen.“
Kessie zog eine Schnute. „Und Papa ist auch nicht da.“
„Papa, Kessie, ist in Alaska, bei den Eskimos, das weißt du doch. Weißt du, was Eskimos sind?“
Kessie überlegte einen Moment und schüttelte dann den Kopf. „Nein, Opa. Ich weiß aber, was Ameisen sind. Sie krabbeln. Und du siehst aus wie der Weihnachtsmann. Du hast einen weißen Bart und weiße Haare und eine rote Nase. Mutti sagt auch, du bist ein Weihnachtsmann. Und du hast ein Fernglas. Da siehst du jeden Abend hinein, sagt sie.“
„Ein Fernglas?“
Professor Wellenbruch war erschüttert. Seine Schwiegertochter unterhielt sich mit dem Kind über ihn, und das mit so groben Worten! Sogar sein abendliches Glas Rotwein verargte sie ihm! Aber so weit kam es noch, dass er sich vor der Vierjährigen verteidigte.
„Ein interessantes Problem: Ameisen und Eskimos“, sagte er knurrig.
„Ich will aber nichts von Eskimos wissen. Was ist denn nun eine Dienstreise, Opa?“
„Eine Dienstreise, Kessie, ist eine Reise zu dienstlichen Zwecken.“
„Das versteh ich nicht. Eine Dienstreise? Was macht man denn da?“
„Man fährt mit dem Auto oder fliegt mit dem Flugzeug, das ist eine Dienstreise.“
Kessie sah ihn zweifelnd an. „Dann wünsch ich mir zu Weihnachten auch eine Dienstreise, Opa! Wie Mutti! Ich bin schon groß!“ Schmollend trollte sie sich.
Professor Wellenbruch war unzufrieden, mit sich und mit Kessie. Alt war er geworden, selbst ein so einfaches Problem wie eine Dienstreise zu erklären bereitete ihm Schwierigkeiten. Plötzlich aber erschrak er: Wo bekam er jetzt noch einen Weihnachtsbaum her? Und was sollte er dem Kind schenken? Ein Stofftier? Nein, das hatte sie schon, ihren Moritz, den sie nicht aus den Augen ließ. Ein computergesteuertes Auto? Nein, das war etwas für Jungen. Einen Teddy? Er kam zu keinem Ergebnis. Ach was, sagte er sich dann, und er tadelte sich, denn dieses „ach was“ hatte etwas Leichtfertiges und er verabscheute Leichtfertigkeiten. Irgendetwas Kindliches würde er auftreiben müssen bis morgen. Morgen, zu Heiligabend. Ein Ausweg: der Weihnachtsmarkt! Aber er war besorgt, und noch immer besorgt beugte er sich wieder über sein Referat.
Der Weihnachtsmarkt war Heiligabend vormittags noch geöffnet, aber nur spärlich besucht, ein paar Eltern mit ihren Kindern, Professor Wellenbruch reizte es, die Besucher zu zählen. Viele Büdchen waren schon geschlossen. Ein Karussell war in Betrieb, eines mit Pferden und Kutschen, das er aus seiner eigenen Kindheit kannte.
„Willst du Karussell fahren, Kessie?“
Kessie war Feuer und Flamme und krabbelte juchzend auf ein Pferdchen. Er ließ sie ihre Runden fahren. Es hatte ein wenig geschneit, und Professor Wellenbruch fror. Kessie kreischte jedesmal, wenn sie an ihm vorbeifuhr.
„Halt dich fest, Kessie!“, rief er ihr zu. Kessie kreischte noch lauter. Es war leichtfertig von ihm, sie allein auf das Pferdchen zu lassen, er hätte sie wohl besser in einen Wagen setzen sollen. Wenn sie nun herunterfiele? Wie stände er dann vor der Schwiegertochter? Das Karussell zog quietschend Runde um Runde. Professor Wellenbruch, dem die Kälte unter den Mantel und in die Zehen kroch, beschloss ein paar Schritte zu gehen.
In diesem Augenblick geschah etwas in seinem Rücken: Die Karussellmaschinerie gab einen stotternden, häßlich ratternden Ton von sich. Kindergeschrei, aufgeregte Stimmen, Fluchen des Karussellchefs. Professor Wellenbruch begriff nicht: Wo war Kessie?
Er begriff noch immer nicht, auch als Kessie schon vor ihm lag. Das Kind war blass, und es wimmerte. Was war geschehen? „Kessie, Kindchen.“ Er beugte sich über sie und streichelte ungeschickt ihr Köpfchen.
Der Krankenwagen und ein Polizeiauto quälten sich gleichzeitig durch die Budenreihen. „Fraktur“, sagte der Arzt. „Sie muss ins Krankenhaus. Sie sind der Vater?“
Professor Wellenbruch nickte geistesabwesend. „Nein“, korrigierte er sich, „doch, der Opa. Eigentlich. Meine Enkelin, wir wollten doch nur ...“
Kessie hatte sich das rechte Bein gebrochen. Nun, im Krankenbett, lag sie vor ihm, schon wieder mit geröteten Wangen, und schielte auf ihr Gipsbein. „Sieh mal, Opa“, sagte sie, „ich mach Kasperletheater. Mein großer Zeh ist der Kasper, und der kleine ist Mutti. Er will sie mit der Patsche hauen. Aber er kann sie nicht sehen, sie ist auf Diiienstreise.“
„Lieg um Himmels Willen still, Kind!“
„Ich lieg doch still, Opa. Aber es ist so langweilig im Krankenhaus. Ich bin ganz traurig, mein Moritz ist auch traurig. Sieh mal, wie traurig.“ Sie hielt ihm das Stofftier entgegen, und Professor Wellenbruch brummte etwas Mitleidiges.
Kessie war eingeschlafen. Professor Wellenbruch saß am Bett der Enkelin, Stunde um Stunde, es war dunkel geworden, die benachbarte Kirche läutete. Die Schwester kam herein.
„Sie sollten jetzt gehen, Herr Professor.“
Er nickte, ja, er sollte gehen, das Kind brauchte Ruhe. Und er könnte endlich weiter an seinem Referat arbeiten.
„Und heute ist Heiligabend“, sagte er vorwurfsvoll. „Ein trauriges Weihnachten für Kessie.“ Er seufzte schwer und erhob sich. „Mein Sohn ist nämlich in Alaska“, sagte er. „Und die Schwiegertochter auf Dienstreise. Ich habe ihr eine Puppe gekauft.“
Die Schwester sah ihn verständnislos an. „Na, für Kessie, meine Enkelin. Aber Weihnachten im Krankenhaus, das ist wohl kein schönes Weihnachten für ein Kind?“
An der Tür verharrte er. Sein Blick fiel auf die schlafende Kessie. Wie wäre es ...? Erregt kam ins Zimmer zurück.
„Das ist doch ein Kinderkrankenhaus, Schwester, sicher haben Sie hier ein Weihnachtsmannkostüm? Eine Dienstreise, Schwester, wissen Sie, was eine Dienstreise ist? Weihnachtsmann auf Dienstreise, Erklärung in praxi. Das wird meine Kessie begreifen. Ich bin ihr nämlich eine Erklärung schuldig.“ Und verschwörerisch legte er den Finger auf den Mund.