Was man liebt.

Es ist schwer für mich, den Anfang zu finden. Rückblickend habe ich ihn immer und immer wieder gesucht, aber Anja hatte ihn so gut versteckt, wie liebende Eltern einen schwelenden Streit vor ihren Kindern. Vielleicht war ich auch blind gewesen, schläfrig, ergeben in einer Spirale aus Respekt und Gewohnheit.
Ich kann keine Erklärungen finden, die mich wirklich von einer Schuld freisprechen können. Nicht für mich selbst.
Auch nicht, nachdem mir alle gesagt hatten, ich solle es aus Anjas Blickwinkel betrachten.
Ich hätte es einfach merken müssen! Das seltene Band, das zwei Menschen zu einem Fühlen verschmilzt, hätte mir die Augen öffnen müssen.
Anja war fünfzehn Jahre älter als ich. Das war nie das Problem, jedenfalls nicht meines.
Vor ihr hatte ich eine Menge Freundinnen. Ich war attraktiv und probierte hier, probierte da.
Sehnsucht empfand ich erst bei Anja, weil sie einfach perfekt war. Keine Schönheit, kein oberflächliches Modepüppchen, nur eine Frau mit warmen Herzen.
Sie hat sich lange gegen mich gewehrt.
Sie arbeitete als Dozentin. Eine Beziehung mit einem ihrer Studenten grenzte an ihre Vorstellung von Moral. Aber ich kann ziemlich hartnäckig sein, wenn ich es etwas will.
Und ich wollte Anja von Anfang an. Von dem Tag an, als ein paar meiner Kommilitonen heimlich zu ihr herübergenickt hatten, in der Cafeteria, während sie mit Tasse und Müslijoghurt vor ihrer Zeitung saß. „Heißer Feger, die Stettendorf!“
Aber für mich war sie viel mehr als das. Es ging nicht um Penisvergleiche oder Mutproben. Bei der Übergabe meines Referates hatte ich in ihre Augen gesehen. Lange, tief und forschend. Es war das erste Mal, dass ich mich für das Innere einer Frau interessierte, dass ich mich wirklich verliebt hatte. Ein Ödipus Komplex werden jetzt manche denken, der Wunsch, sich in den Armen einer starken, mütterlichen Frau dem Leben zu ergeben. Aber das war es nicht!
Wir waren immer gleichberechtigt. Anja wollte sich mir nie überlegen fühlen.
Sie hat sich entschieden gewehrt und ihre Stellung stand lange Zeit zwischen uns. Erst nach einem ganzen Jahr, dass ich sie aufgeweicht und beharrt hatte, ließ sie mich an sich heran. Nachdem ich ihr mit einer reifen, wohlüberlegten Sichtweise imponiert hatte, gönnte sie mir einen winzigen Platz in ihrem Herzen.
Ich wollte mit Anja alt werden. Ich wollte Kinder mit ihr haben. Ich wollte einfach immer mit ihr zusammen sein. Aber sie konnte das nicht akzeptieren. In den ersten Gesprächen um unsere Zukunft hatte sie sich immer wieder herausgeredet. Ich wäre naiv, unreif, wüsste noch gar nicht, was das überhaupt bedeutete. Sie hätte schon ihr halbes Leben gelebt. Sie wäre alt, verbraucht sogar, und irgendwann würde ich sie dafür hassen, dass sie mir einen Teil meiner Jugend gestohlen hatte.
Ich hatte gelacht. „Fünfzehn Jahre, Anja!“, hatte ich gesagt. „Was sind schon fünfzehn Jahre. Ich liebe Dich!“ Und die Worte kamen tief aus meiner Brust heraus, wie von alleine, als wenn sie raus müssten. „Ich kenne viele Pärchen, die weit auseinander sind!“
„Du bist ein Junge!“, hatte sie böse gesagt. „Du bist noch ein kleiner Junge, der sich die Hörner abstoßen muss! Jetzt vielleicht, jetzt gerade glaubst du, mich zu lieben. In ein paar Jahren wirst du glauben, etwas verpasst zu haben und mein Herz brechen!“
Ganz heimlich war eine Träne an ihrer Nasenwand heruntergelaufen. Und ich hatte meine Arme um ihre steifen Schultern gelegt und gesagt: „Nein, Anja! Ich weiß, dass ich dich liebe! Ich bin weder dumm, noch naiv! Ich will mit Dir zusammen sein!“
Diese Art Gespräche hatten wir oft geführt, in Cafés, in Restaurants, unter kahlen Bäumen. Ich hatte gewusst, dass ihre Gefühle für mich wie eine Quelle waren, und dass ich stetig graben musste, um einen Brunnen aus ihr zu gewinnen. Ich war hartnäckig. Zum ersten Mal liebte ich. Ich konnte sie einfach nicht aufgeben.
Im Sommer endlich öffnete sie sich ein weiteres Stück. Ich stürzte mich auf unseren Anfang.
All ihre Bedenken riss ich nun mit mir, wie ein hyperaktiver Dreijähriger das Gedeck von der Kaffeetafel. Anja war lange allein gewesen. Sie hatte eine Ehe mit einem Buchhalter geführt, der sie wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte. Ich scherzte und sagte, jetzt könnte sie es ihm heimzahlen. Wir sollten uns mit ihnen zum Essen verabreden. Anja konnte darüber nicht lachen. Überhaupt lachte sie wenig. Immer war da dieses Nachdenken in ihrem Gesicht, ganz selten genoss sie einfach. Auch das schob sie auf den Altersunterschied. Menschen, die ihre Erfahrungen gesammelt hatten, waren eben nüchtern, sachlich, wussten um die Vergänglichkeit. Aber ich wusste, dass es einfach Anja war. Sie war so, immer in Sorge um Andere, immer bereit zu helfen und zu verzichten.
Ich konnte ihre Schale manchmal einreißen, wenn wir, frei von äußeren Einflüssen, zusammen einen Film von ihrer Couch aus sahen, wenn ich sie dann immer wieder in die Seite zwickte und kitzelte, sie gegen die Lehne drückte und ihr, ohne ein Wort zu sagen, mit dem Blick meiner Augen die drei Wörter auf die Seele schrieb.
„Ich bin glücklich!“, sagte sie dann und es klang immer, als würde sie sich dafür schämen.
Aber auch ich war glücklich, auch nachdem ich meinen Sieg nun errungen hatte, noch, und bald hatte ich auch die letzten Bedenken hinter uns gelassen.
Es folgten drei Jahre miteinander. Ich machte meinen Abschluss, ging in den Beruf.
Anja hatte die Schule schon vor einiger Zeit auf eigenen Wunsch verlassen und arbeitete als Kassiererin in einem kleinen Supermarkt. Sie hatte das für mich getan. Um uns leben zu können. Ganz selten noch führten wir Gespräche über unsere Zukunft. Sie war einfach da, das wussten wir beide.
Dann zogen wir zusammen. Dieses Thema war nochmalig anstrengend gewesen. Es schien Anja so endgültig und sie hatte dort irgendwo in sich noch immer die von Vernunft genährten Zweifel vor mir versteckt. Aber ich bewies ihr ohne Atempause, dass es mir ernst war.
Dass ich sie meinen Eltern vorstellen wollte, meinen Freunden in Hamburg, die allesamt nichts von unserer ehemaligen Lehrer/ Schüler Beziehung wussten, für die Anja einfach nur meine Freundin sein würde. Nur meine Ma sprach mich einmal auf den Altersunterschied an, in der Küche, während die Anderen beim Weihnachtsessen saßen. Ein einziger Blick von mir konnte auch ihre Zweifel endgültig begraben. Es war derselbe, den ich ihr entgegengebracht hatte, als ich ihr mein Studienziel eröffnet hatte. „Japanologie? Was willst du denn damit anfangen?“ Zu Anja hatte sie nichts gesagt. Sie hatte einfach gesehen, dass mir diese Frau noch wichtiger war.
Wir zogen nach Hamburg, in eine kleine Drei Zimmer Wohnung, in der Altstadt, mit gebührendem Abstand zu meinen Eltern, obwohl sie Anja schnell in ihr Herz geschlossen hatten.
Vor allem mein Vater, in seinen Augen brachte Anja mich auf den richtigen Weg.
Die Mieten waren teuer. Ich arbeitete als Übersetzer. Anja fand einen Job als Sekretärin. Den halben Tag arbeitete sie von zu Hause aus.
Und da war mir das erste Mal aufgefallen, dass sie sich veränderte. Sie war schon immer in sich gekehrt gewesen, zeigte kaum einmal einen Ausbruch. Aber jetzt schien sie mir manches Mal fast versteinert. Während ich früher noch mit langem Drängen und Charme in sie kehren konnte, blieb sie jetzt stumm, schien mich einfach ausschalten zu können, griff ihre Jacke und machte einen Spaziergang. Ich vermutete noch nichts dahinter. Gab der Umstellung die Schuld. Dass Anja jetzt so oft alleine war. Wir taten uns schwer mit der Nachbarschaft. Ich arbeitete viel und lange, um mir meinen Platz im Unternehmen zu erkämpfen. Anja war scheu und argwöhnisch gegenüber Fremden. War sie schon immer so gewesen? Hatte mich damals nicht gerade ihre lockere Art so angezogen? Wie sie den Unterricht gestaltet hatte, dass man glaubte, man wäre bei einem ungezwungenen Klassentreffen?
Die Zeit verklärt oft den Blick auf Vergangenes. Ich wollte die Veränderung nicht wahrhaben. Ich war noch immer glücklich und sah uns als alte Tattergreise auf einer Bank sitzen.
Wenn ich von der Arbeit kam, schlief Anja bald oft auf der Couch. Ich konnte nicht einordnen, ob sie wirklich so erschöpft war, oder nur einer Diskussion ausweichen wollte. Nachts merkte ich, wie sie durch die Wohnung tigerte, bei Kerzenschein in der Küche saß. Manchmal schaufelte sie Unmengen Süßkram in sich hinein. Das alles bemerkte ich mit Unbehagen, aber die Arbeit nahm mich so in Anspruch, dass ich nicht die Muße fand, der Veränderung nachzugehen, solange ich mich trotzdem noch bei Anja aufgehoben fühlte. In die kurze Zeitspanne ihres Wesenswandels traten auch bald Streitereien, die sie so heftig anzettelte, als wollte sie mich vertreiben. Da hätte ich doch etwas merken müssen! Hätte ich nicht etwas merken müssen?
Ich glaubte immer noch, sie wäre einfach nur unzufrieden, weil die Figur des Hausmütterchens nicht ihrer Form entsprach. Nach ein paar Wochen, die ich ihre Launen ergeben hinnahm, weil ich sie einfach liebte, weil ich ausgebrannt war, auf bessere Zeiten hoffte und hartnäckig auf mein Glück pochen wollte, egal wie sehr sie versuchte, sich mir madigzumachen, veränderte sie sich wieder.
Sie wirkte plötzlich getrieben, ständig auf dem Sprung, wollte verreisen und bestand darauf, dass ich mir, trotz meines noch wackligen Standes im Unternehmen, Urlaub nahm.
Ich glaubte es als neues Ventil, das dem resignierten Brüten die Substanz nehmen sollte.
Ich war erleichtert, weil ich dumm war. Eben doch so naiv, wie Anja mir immer weiß machen, hatte wollen.
Wir flogen nach Norwegen. Meine Eltern spendierten einen Teil der Reisekosten, weil auch sie glaubten, dass die Reise unsere Beziehung kitten könnte. Weil sie Anja bald ebenso liebten, wie ich sie liebte. Diese weiche, aufopferungsvolle Art, das rundum sanfte und hilfsbereite Wesen.
In dieser Blockhütte, weit ab von Alltagsproblemen wähnte ich mich zunächst in Sicherheit.
Anja war ganz wie früher. Wir verbrachten Tage im Bett, liebten uns, waren nur Paar. Wir sprachen nicht viel und ich hatte das Gefühl, Anja wollte jeden Moment aufsaugen, ihn nicht von belanglosen Worten zerstören lassen. Nach dieser Woche, die mir zeigte, dass ich die wunderbarste Frau auf Erden mein Eigen nannte, fiel ich in ein messergespicktes Loch, als sie mir eröffnete, sich von mir trennen zu wollen.
Ich verstand überhaupt nichts! Ich wollte gar nichts verstehen.
Sie versuchte es mit fadenscheinigen Erklärungen. Sie schien mir fast umnachtet, wie eine andere Persönlichkeit, die auf ihren Ausbruch gewartet hatte. Die Innigkeit der vorhergegangenen Tage wechselte sich mit Launenhaftigkeit und Schweigen. Ich fühlte mich benutzt. Benutzt und abgeschoben. Ich schrie sie an und warf meinen Mantel nach ihr, bevor sie allein aus der Tür ging, um im Schneegestöber nachzudenken. Ich hockte stundenlang in der Hütte und spielte mit dem Gedanken vorzeitig abzureisen. Sie trieb mich immer weiter hin zu dieser Entscheidung, als wäre genau das ihr Ansporn. Sie machte mich so wütend, dass ich mit Worten um mich warf, die ich ihr gegenüber noch nie in den Mund genommen hatte. Anja war so kalt und grausam, dass sie mir Angst machte, dass ich glaubte, mich all die Jahre komplett in ihr getäuscht zu haben. Ich ergab mich dieser neuen Seite an ihr und reiste ab. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Hätte ich etwas tun können?
Anja blieb einfach verschwunden. Sie kam nicht mehr zurück aus Norwegen, nicht in unsere Wohnung. Wir hatten getrennte Konten. Meine Unabhängigkeit war Anja immer wichtig gewesen. Ich sollte lernen, auch auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hatte sich von Anfang an gesträubt, die Funktion des Haushaltsoberhauptes zu übernehmen.
Vom Vermieter erfuhr ich, dass sie ihre Vertragsbestandteile kündigen wollte.
Über eine SMS erfuhr ich, dass sie zurück nach Berlin gegangen war.
Ihre Nummer war bald nicht mehr vergeben. Sie stellte mich einfach vor Tatsachen und verschwand aus meinem Leben, als wäre sie nie darin vorgekommen.
Ich hatte schwer daran zu knabbern. Aber dazu mischte sich auch Hass, das Gefühl betrogen worden zu sein, das es mir leichter machte, damit umzugehen. Ich war noch jung am Anfang meiner Karriere. Ich stürzte mich in die Arbeit und neue Bekanntschaften. Fast zwei Jahre später traf ich Maria und konnte mich nach einigem Ringen wieder auf eine Frau einlassen.
Anja wurde zu einem Kapitel meiner Vergangenheit, wie ein dumpfer Narbenschmerz.
Ich suchte nicht mehr nach Erklärungen und Gründen. Ich fand mich mit dem Glücksfall ab, durch Anjas Verlust Maria kennengelernt zu haben. Vielleicht war es doch der Altersunterschied gewesen. Vielleicht hatte sie in der Enge einer richtigen Beziehung für sich gemerkt, dass wir doch zu verschieden waren, dass wir uns auseinanderleben würden, wenn ich meine endgültige Reife erlangt hatte. Vielleicht war sie einfach geflüchtet, um mir nicht mehr im Weg zu stehen. Das hätte zu ihr gepasst, der ewig an Andere denkenden Anja.
Diese Vermutungen bewahrheiteten sich schmerzlich, als mich dann ganze vier Jahre später der Brief ihrer Freundin erreichte, einer alten Lehramtskollegin aus Berlin. Darin teilte sie mir mit, dass sie der Aufforderung Anjas nachgekommen sei, mir mit genauem Datum die Zeilen zukommen zu lassen. Es wäre Anjas letzter Wunsch gewesen. Ich schluckte schwer, als ich erfuhr, dass sie vor Jahren an Krebs verstorben war, der sie schon in unserer gemeinsamen Zeit zum Kampf gefordert hatte. Ich weinte in Marias Armen und war dankbar, dass ich in ihr einen Menschen hatte, der mich auffangen konnte.

Noch immer quälen mich die Gedanken an mein eigenes Versagen, aber Maria sagt, dass Anja, dass nicht gewollt hätte. Sie respektiert das alte Foto von Anja und mir auf der Kommode, das ich aus verstaubten Kellerkisten wieder hervorgekramt habe. Aber vor allem respektiert sie den Platz in meinem Herzen, den Anja wieder ausfüllt und die Dankbarkeit, die ich dieser Frau immer entgegenbringen werde....
 
Es ist schwer für mich, den Anfang zu finden. Rückblickend habe ich ihn immer und immer wieder gesucht, aber Anja hatte ihn so gut versteckt, wie liebende Eltern einen schwelenden Streit vor ihren Kindern. Vielleicht war ich auch blind gewesen, schläfrig, ergeben in einer Spirale aus Respekt und Gewohnheit.
Ich kann keine Erklärungen finden, die mich wirklich von einer Schuld freisprechen können. Nicht für mich selbst.
Auch nicht, nachdem mir alle gesagt hatten, ich solle es aus Anjas Blickwinkel betrachten.
Ich hätte es einfach merken müssen! Das seltene Band, das zwei Menschen zu einem Fühlen verschmilzt, hätte mir die Augen öffnen müssen.
Anja war fünfzehn Jahre älter als ich. Das war nie das Problem, jedenfalls nicht meines.
Vor ihr hatte ich eine Menge Freundinnen. Ich war attraktiv und probierte hier, probierte da.
Sehnsucht empfand ich erst bei Anja, weil sie einfach perfekt war. Keine Schönheit, kein oberflächliches Modepüppchen, nur eine Frau mit warmen Herzen.
Sie hat sich lange gegen mich gewehrt.
Sie arbeitete als Dozentin. Eine Beziehung mit einem ihrer Studenten grenzte an ihre Vorstellung von Moral. Aber ich kann ziemlich hartnäckig sein, wenn ich es etwas will.
Und ich wollte Anja von Anfang an. Von dem Tag an, als ein paar meiner Kommilitonen heimlich zu ihr herübergenickt hatten, in der Cafeteria, während sie mit Tasse und Müslijoghurt vor ihrer Zeitung saß. „Die Stettendorf könnte richtig gutaussehen, wenn die mehr aus sich machen würde.“
Für mich war sie schon jetzt interessant. Es ging nicht um Penisvergleiche oder Mutproben. Bei der Übergabe meines Referates hatte ich in ihre Augen gesehen. Lange, tief und forschend. Es war das erste Mal, dass ich mich für das Innere einer Frau interessierte, dass ich mich wirklich verliebt hatte. Ein Ödipus Komplex werden jetzt manche denken, der Wunsch, sich in den Armen einer starken, mütterlichen Person dem Leben zu ergeben. Aber das war es nicht!
Wir waren immer gleichberechtigt. Anja wollte sich mir nie überlegen fühlen.
Sie hat sich entschieden gewehrt und ihre Stellung stand lange Zeit zwischen uns. Erst nach einem ganzen Jahr, dass ich sie aufgeweicht und beharrt hatte, ließ sie mich an sich heran. Nachdem ich ihr mit einer reifen, wohlüberlegten Sichtweise imponiert hatte, gönnte sie mir einen winzigen Platz in ihrem Herzen.
Ich wollte mit Anja alt werden. Ich wollte Kinder mit ihr haben. Ich wollte einfach immer mit ihr zusammen sein. Aber sie konnte das nicht akzeptieren. In den ersten Gesprächen um unsere Zukunft hatte sie sich immer wieder herausgeredet. Ich wäre naiv, unreif, wüsste noch gar nicht, was das überhaupt bedeutete. Sie hätte schon ihr halbes Leben gelebt. Sie wäre alt, verbraucht sogar, und irgendwann würde ich sie dafür hassen, dass sie mir einen Teil meiner Jugend gestohlen hatte.
Ich hatte gelacht. „Fünfzehn Jahre, Anja!“, hatte ich gesagt. „Was sind schon fünfzehn Jahre. Ich liebe Dich!“ Und die Worte kamen tief aus meiner Brust heraus, wie von alleine, als wenn sie raus müssten. „Ich kenne viele Pärchen, die weit auseinander sind!“
„Du bist ein Junge!“, hatte sie böse gesagt. „Du bist noch ein kleiner Junge, der sich die Hörner abstoßen muss! Jetzt vielleicht, jetzt gerade glaubst du, mich zu lieben. In ein paar Jahren wirst du glauben, etwas verpasst zu haben und mein Herz brechen!“
Ganz heimlich war eine Träne an ihrer Nasenwand heruntergelaufen. Und ich hatte meine Arme um ihre steifen Schultern gelegt und gesagt: „Nein, Anja! Ich weiß, dass ich dich liebe! Ich bin weder dumm, noch naiv! Ich will mit Dir zusammen sein!“
Diese Art Gespräche hatten wir oft geführt, in Cafés, in Restaurants, unter kahlen Bäumen. Ich hatte gewusst, dass ihre Gefühle für mich wie eine Quelle waren, und dass ich stetig graben musste, um einen Brunnen aus ihr zu gewinnen. Ich war hartnäckig. Zum ersten Mal liebte ich. Ich konnte sie einfach nicht aufgeben.
Im Sommer endlich öffnete sie sich ein weiteres Stück. Ich stürzte mich auf unseren Anfang.
All ihre Bedenken riss ich nun mit mir, wie ein hyperaktiver Dreijähriger das Gedeck von der Kaffeetafel. Anja war lange allein gewesen. Sie hatte eine Ehe mit einem Buchhalter geführt, der sie wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte. Ich scherzte und sagte, jetzt könnte sie es ihm heimzahlen. Wir sollten uns mit ihnen zum Essen verabreden. Anja konnte darüber nicht lachen. Überhaupt lachte sie wenig. Immer war da dieses Nachdenken in ihrem Gesicht, ganz selten genoss sie einfach. Auch das schob sie auf den Altersunterschied. Menschen, die ihre Erfahrungen gesammelt hatten, waren eben nüchtern, sachlich, wussten um die Vergänglichkeit. Aber ich wusste, dass es einfach Anja war. Sie war so, immer in Sorge um Andere, immer bereit zu helfen und zu verzichten.
Ich konnte ihre Schale manchmal einreißen, wenn wir, frei von äußeren Einflüssen, zusammen einen Film von ihrer Couch aus sahen, wenn ich sie dann immer wieder in die Seite zwickte und kitzelte, sie gegen die Lehne drückte und ihr, ohne ein Wort zu sagen, mit dem Blick meiner Augen die drei Wörter auf die Seele schrieb.
„Ich bin glücklich!“, sagte sie dann und es klang immer, als würde sie sich dafür schämen.
Aber auch ich war glücklich, auch nachdem ich meinen Sieg nun errungen hatte noch, und bald hatte ich auch die letzten Bedenken hinter uns gelassen.
Es folgten drei Jahre miteinander. Ich machte meinen Abschluss, ging in den Beruf.
Anja hatte die Schule schon vor einiger Zeit auf eigenen Wunsch verlassen und arbeitete als Kassiererin in einem kleinen Supermarkt. Sie hatte das für mich getan. Um uns leben zu können. Ganz selten noch führten wir Gespräche über unsere Zukunft. Sie war einfach da, das wussten wir beide.
Dann zogen wir zusammen. Dieses Thema war nochmalig anstrengend gewesen. Es schien Anja so endgültig und sie hatte dort irgendwo in sich noch immer die von Vernunft genährten Zweifel vor mir versteckt. Aber ich bewies ihr ohne Atempause, dass es mir ernst war.
Dass ich sie meinen Eltern vorstellen wollte, meinen Freunden in Hamburg, die allesamt nichts von unserer ehemaligen Lehrer/ Schüler Beziehung wussten, für die Anja einfach nur meine Freundin sein würde. Nur meine Ma sprach mich einmal auf den Altersunterschied an, in der Küche, während die Anderen beim Weihnachtsessen saßen. Ein einziger Blick von mir konnte auch ihre Zweifel endgültig begraben. Es war derselbe, den ich ihr entgegengebracht hatte, als ich ihr mein Studienziel eröffnet hatte. „Japanologie? Was willst du denn damit anfangen?“ Zu Anja hatte sie nichts gesagt. Sie hatte einfach gesehen, dass mir diese Frau noch wichtiger war.
Wir zogen nach Hamburg, in eine kleine Drei Zimmer Wohnung, in der Altstadt, mit gebührendem Abstand zu meinen Eltern, obwohl sie Anja schnell in ihr Herz geschlossen hatten.
Vor allem mein Vater, in seinen Augen brachte Anja mich auf den richtigen Weg.
Die Mieten waren teuer. Ich arbeitete als Übersetzer. Anja fand einen Job als Sekretärin. Den halben Tag arbeitete sie von zu Hause aus.
Und da fiel mir die Veränderung das erste Mal auf. Anja war schon immer in sich gekehrt gewesen, zeigte kaum einmal einen emotionalen Ausbruch. Aber jetzt schien sie mir manches Mal fast versteinert. Während ich früher noch mit langem Drängen und Charme in sie kehren konnte, blieb sie jetzt stumm, schien mich einfach ausschalten zu können, griff ihre Jacke und machte einen Spaziergang. Ich vermutete noch nichts dahinter. Gab der Umstellung die Schuld. Dass Anja jetzt so oft alleine war. Wir taten uns schwer mit der Nachbarschaft. Ich arbeitete viel und lange, um mir meinen Platz im Unternehmen zu erkämpfen. Anja war scheu und argwöhnisch gegenüber Fremden. War sie schon immer so gewesen? Hatte mich damals nicht gerade ihre lockere Art so angezogen? Wie sie den Unterricht gestaltet hatte, dass man glaubte, man wäre bei einem ungezwungenen Klassentreffen?
Die Zeit verklärt oft den Blick auf Vergangenes. Ich wollte die Veränderung nicht wahrhaben. Ich war noch immer glücklich und sah uns als alte Tattergreise auf einer Bank sitzen.
Wenn ich von der Arbeit kam, schlief Anja bald oft auf der Couch. Ich konnte nicht einordnen, ob sie wirklich so erschöpft war, oder nur einer Diskussion ausweichen wollte. Nachts merkte ich, wie sie durch die Wohnung tigerte, bei Kerzenschein in der Küche saß. Manchmal schaufelte sie Unmengen Süßkram in sich hinein. Das alles bemerkte ich mit Unbehagen, aber die Arbeit nahm mich so in Anspruch, dass ich nicht die Muße fand, der Veränderung nachzugehen, solange ich mich trotzdem noch bei Anja aufgehoben fühlte. In die kurze Zeitspanne ihres Wesenswandels traten auch bald Streitereien, die sie so heftig anzettelte, als wollte sie mich vertreiben. Da hätte ich doch etwas merken müssen! Hätte ich nicht etwas merken müssen?
Ich glaubte immer noch, sie wäre einfach nur unzufrieden, weil die Figur des Hausmütterchens nicht ihrer Form entsprach. Nach ein paar Wochen, die ich ihre Launen ergeben hinnahm, weil ich sie einfach liebte, weil ich ausgebrannt war, auf bessere Zeiten hoffte und hartnäckig auf mein Glück pochen wollte, egal wie sehr sie versuchte, sich mir madigzumachen, veränderte sie sich wieder.
Sie wirkte plötzlich getrieben, ständig auf dem Sprung, wollte verreisen und bestand darauf, dass ich mir, trotz meines noch wackligen Standes im Unternehmen, Urlaub nahm.
Ich glaubte es als neues Ventil, das dem resignierten Brüten die Substanz nehmen sollte.
Ich war erleichtert, weil ich dumm war. Eben doch so naiv, wie Anja mir immer weiß machen, hatte wollen.
Wir flogen nach Norwegen. Meine Eltern spendierten einen Teil der Reisekosten, weil auch sie glaubten, dass die Reise unsere Beziehung kitten könnte. Weil sie Anja bald ebenso liebten, wie ich sie liebte. Diese weiche, aufopferungsvolle Art, das rundum sanfte und hilfsbereite Wesen.
In dieser Blockhütte, weit ab von Alltagsproblemen wähnte ich mich zunächst in Sicherheit.
Anja war ganz wie früher. Wir verbrachten Tage im Bett, liebten uns, waren nur Paar. Wir sprachen nicht viel und ich hatte das Gefühl, Anja wollte jeden Moment aufsaugen, ihn nicht von belanglosen Worten zerstören lassen. Nach dieser Woche, die mir zeigte, dass ich die wunderbarste Frau auf Erden mein Eigen nannte, fiel ich in ein messergespicktes Loch, als sie mir eröffnete, sich von mir trennen zu wollen.
Ich verstand überhaupt nichts! Ich wollte gar nichts verstehen.
Sie versuchte es mit fadenscheinigen Erklärungen. Sie schien mir fast umnachtet, wie eine andere Persönlichkeit, die auf ihren Ausbruch gewartet hatte. Die Innigkeit der vorhergegangenen Tage wechselte sich mit Launenhaftigkeit und Schweigen. Ich fühlte mich benutzt. Benutzt und abgeschoben. Ich schrie sie an und warf meinen Mantel nach ihr, bevor sie allein aus der Tür ging, um im Schneegestöber nachzudenken. Ich hockte stundenlang in der Hütte und spielte mit dem Gedanken vorzeitig abzureisen. Sie trieb mich immer weiter hin zu dieser Entscheidung, als wäre genau das ihr Ansporn. Sie machte mich so wütend, dass ich mit Worten um mich warf, die ich ihr gegenüber noch nie in den Mund genommen hatte. Anja war so kalt und grausam, dass sie mir Angst machte, dass ich glaubte, mich all die Jahre komplett in ihr getäuscht zu haben. Ich ergab mich dieser neuen Seite an ihr und reiste ab. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Hätte ich etwas tun können?
Anja blieb einfach verschwunden. Sie kam nicht mehr zurück aus Norwegen, nicht in unsere Wohnung. Wir hatten getrennte Konten. Meine Unabhängigkeit war Anja immer wichtig gewesen. Ich sollte lernen, auch auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hatte sich von Anfang an gesträubt, die Funktion des Haushaltsoberhauptes zu übernehmen.
Vom Vermieter erfuhr ich, dass sie ihre Vertragsbestandteile kündigen wollte.
Über eine SMS erfuhr ich, dass sie zurück nach Berlin gegangen war.
Ihre Nummer war bald nicht mehr vergeben. Sie stellte mich einfach vor Tatsachen und verschwand aus meinem Leben, als wäre sie nie darin vorgekommen.
Ich hatte schwer daran zu knabbern. Aber dazu mischte sich auch Hass, das Gefühl betrogen worden zu sein, das es mir leichter machte, damit umzugehen. Ich war noch jung am Anfang meiner Karriere. Ich stürzte mich in die Arbeit und neue Bekanntschaften. Fast zwei Jahre später traf ich Maria und konnte mich nach einigem Ringen wieder auf eine Frau einlassen.
Anja wurde zu einem Kapitel meiner Vergangenheit, wie ein dumpfer Narbenschmerz.
Ich suchte nicht mehr nach Erklärungen und Gründen. Ich fand mich mit dem Glücksfall ab, durch Anjas Verlust Maria kennengelernt zu haben. Vielleicht war es doch der Altersunterschied gewesen. Vielleicht hatte sie in der Enge einer richtigen Beziehung für sich gemerkt, dass wir doch zu verschieden waren, dass wir uns auseinanderleben würden, wenn ich meine endgültige Reife erlangt hatte. Vielleicht war sie einfach geflüchtet, um mir nicht mehr im Weg zu stehen. Das hätte zu ihr gepasst, der ewig an Andere denkenden Anja.
Diese Vermutungen bewahrheiteten sich schmerzlich, als mich dann ganze vier Jahre später der Brief ihrer Freundin erreichte, einer alten Lehramtskollegin aus Berlin. Darin teilte sie mir mit, dass sie der Aufforderung Anjas nachgekommen sei, mir mit genauem Datum die Zeilen zukommen zu lassen. Es wäre Anjas letzter Wunsch gewesen. Ich schluckte schwer, als ich erfuhr, dass sie vor Jahren an Krebs verstorben war, der sie schon in unserer gemeinsamen Zeit zum Kampf gefordert hatte. Ich weinte in Marias Armen und war dankbar, dass ich in ihr einen Menschen hatte, der mich auffangen konnte.

Noch immer quälen mich die Gedanken an mein eigenes Versagen, aber Maria sagt, dass Anja, dass nicht gewollt hätte. Sie respektiert das alte Foto von Anja und mir auf der Kommode, das ich aus verstaubten Kellerkisten wieder hervorgekramt habe. Aber vor allem respektiert sie den Platz in meinem Herzen, den Anja wieder ausfüllt und die Dankbarkeit, die ich dieser Frau immer entgegenbringen werde....
 



 
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