Wechseljahre (Die Lebenstauschbörse)

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Tabasco

Gast
Wechseljahre (Die Lebenstauschbörse)


Jakob hatte gemordet. Nicht nur ein mal. Oft genug, um einen gewaltigen Leichenstapel zaubern zu können, der sogar groß genug sein würde, um von Potsdam aus den Berliner Fernsehturm sehen zu können. Man könnte sagen, Jakob ist ein Mörder.

Jetzt, da die Nacht vorüber ist, alle Werwölfe wieder ihre menschliche Hülle über die Felldecke und alle Beamten, Manager und sonstige Koksschnüffelwölfe erneut den Schafspelz über den rauen Wolfspanzer schmeißen, kehrt Jakob zurück in seine bescheidene Behausung im Stadtzentrum. Sein Briefkasten ist voll. Über Milzbrand macht er sich zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken. Auch später nicht.

Die Badewanne ist schnell vollgelaufen und lässt einen seichten rosa-brauner Schimmer über der Oberfläche dahintreiben als Jakob hineinsteigt. Jakob ist von der Wärme und Nässe des Wassers angenehm berührt. In einer solchen Situation, einer solchen Eintracht ist es für ihn selbstverständlich zu onanieren. Und ein kleines dickflüssiges öliges Etwas bahnt sich seinen Weg an die Oberfläche des Badewannenwassers. Der rosa-braune Schimmer hat sich an den Rand der Stahlkonstruktion geflüchtet und ist in Begriff sich dort zu verewigen.

Jakob hatte eindeutige Spuren hinterlassen. Heute würde er nicht noch einmal zur Arbeit gehen um sich zu verabschieden, das wäre peinlich. Keiner soll wissen, wie wichtig der wirklich ist.

Gestern hat Jakob seinen Anzug gewaschen. Ein Schwarzer. Handwäsche. Für die Waschmaschine ist dieser nicht gemacht. Handwäsche. Heute ist er trocken.

Nach dem Abtrocknen schlüpft Jakob in den besagten und benutzt den haarwachs-triefenden
Kamm zum Hairstyling. Alles soll perfekt sein. Begierig begutachtet er sein Antlitz im Spiegel. Allzu hässlich ist er nicht. Der linke Ärmel (im Spiegel als rechter Ärmel zu sehen) muss hochgekrempelt werden, um seine frisch gestochene Biomaschine auf dem Bizeps bewundern zu können. Sie ist gelungen, schlängelt sich langsam den Oberarm hinunter und mündet letztendlich am Spitzpunkt des Ellenbogens. Eigentlich müsste sie noch nachgestochen werden, aber so wie sie jetzt ist gefällt sie Jakob und er hat vor sie so zu lassen. Etwas blass, aber radikal.

Jakob hat sich einen neuen Namen ausgedacht und übt, ihn möglichst standhaft auszusprechen. „Nigel“. Ja, das klingt! „Nigel“.

Ein Schlückchen Parfüm. „CK One“. Der Rest davon. Und ein wenig von der, noch ungeöffneten, „Hugo Boss“-(for men!)-Flasche. Du riechst so gut, Nigel! Ja, so kann man sich blicken lassen.

Nigel ist beruhigt alles wichtige getan zu haben und nun lediglich warten zu müssen. Nigel liebt die Stille an den frühen Morgenstunden, in denen er Zeit hat nachzudenken, zu sortieren. Am liebsten tut er das in seinem Wohnzimmerohrensessel. Und genau dort sitzt Nigel jetzt. Er schließt die Augen, sein Discman liegt neben ihm auf dem Fernsehtischchen das sonst immer zur Ablage von Chipstüten und Bierdosen missbraucht wird. Ein dünnes Kabel führt direkt vom CD-Player über die Sessellehne zu 2 kleinen Schwarzen Knöpfen, nachdem es sich auf der Hälfte der Strecke in 2 (nun dünnere) Kabel gespalten hat. Die besagten schwarzen Knöpfe sind fest in Nigels Ohren verankert und spucken unaufhaltsam musikalische Klänge aus. Nigel scheint dies zu gefallen. Gemütlich in seinen Sessel gekuschelt lauscht er den Tönen einer Band die man liebevoll „Selbstverrat“ nennt und entspannt sich guten Gewissens. In all seiner Gewissenhaftigkeit scheint er allerdings vergessen zu haben, das körperbetonte Wasser aus der gefüllten Wanne zu lassen. Weihwasser. Ein Überbleibsel aus einem Moment in Nigels Leben an dem er zu sehr mit anderen Gedanken beschäftigt war, um an das Vertuschen seines Badens zu denken.

Nach ungefähr fünf Minuten des Dösens beginnt er zu träumen. Nigel träumt recht oft, meist tagsüber. Bei diesem Vorgang schläft er nicht wirklich, ist andererseits aber auch nicht in der Lage seine Gehirnströme zu kontrollieren. Das ist nicht nur beim Träumen so.

Wie groß ein Fußballfeld ist, weiß man ja bereits aus Film und Fernsehen. Manch einer mag sogar schon einmal eins direkt vor Augen gesehen haben. In Deutschland sogar mehr Menschen als irgendwo anders. Doch ist es eine völlig unvergleichliche Situation einmal wirklich auf einem zu stehen, ganz allein, ohne Ball. Wenn dann aber noch nicht einmal Fußballtore auf den Weiten des Platzes zu erkennen, alle Scheinwerfer scheinbar nur auf dich gerichtet sind, obwohl die Zuschauerplätze gähnend leer sind und der Rasen eher künstlich als frisch und saftig riecht, dann kann man dies eigentlich nur mit einem etwas älteren Werbespot, gesprochen von Franz Beckenbauer, der für den Pay-TV Sender „Premiere“ wirbt, verbinden. Sie erinnern sich?
Nigel fällt dieser Zusammenhang nicht auf.

Beinahe furchtsam, schüchtern könnte man sagen, betrachtet Nigel sein ungewohntes Umfeld. Nigel ist leicht zu durchschauen und so ist es selbstverständlich, dass er sich als erstes auf die Suche nach einem weiß-gelben Gänseblümchen macht, welches diesem Platz einen Hauch von Zärtlichkeit und Vertrautheit schenken muss.

Er pflückt die kleine Blume, sanft. Sie riecht nach Männerparfüm. Für Nigel ein guter Grund schwul zu werden. Da sie gepresst werden muss, um sie für die Ewigkeit aufbewahren zu können, legt er sie mit Fingerspitzengefühl zwischen die Seiten 23 und 24 seiner Schopenhauer-Bibel. Für diesen Zweck wäre Kafka einfach nicht das richtige gewesen.

Hinter dem Feld beginnt die Großstadt. Nicht Nigels Großstadt, aber eine ähnliche. In dieser gibt es viele Ecken in denen urin-gedünstete Gänseblümchen wuchern. Vielleicht würde er auch noch 2 oder 3 von jenen pflücken, um einfach den Vergleich zu haben. Vor dem Haus seiner Mutter waren immer viele Pflanzen dieser Art und Farbe. Mutter wusste generell sehr viel über Blumen. Sie konnte spezifische Eigenschaften und Merkmale zu jeder einzelnen Gattung und Herkunft nennen. Man hörte ihr gerne zu, wenn sie über Flora und Fauna sprach. Zu schade, dass ihr Körper das Gefrierhaus in Osnabrück seit 1989 nicht mehr verlassen hat.

Wenn man einen Spielplatz sieht, muss man darauf spielen gehen, ganz unabhängig vom Alter. Eine Schaukel hat einen Wert von Freiheit, den man nicht ignorieren darf. Eine Schaukel gibt die Atmung vor, die man braucht, um das Glück der konstruierten Kindlichkeit auch in seinem tiefsten Inneren spüren zu können. Näher am Standrand findet Nigel eine Schaukel, die auf einem Hügel errichtet ist. Sie wirkt sehr hoch, Kindern kaum zumutbar. Wenn Nigel auf ihr schaukelt fühlt er sich sehr erwachsen. Das jedoch sollte für gewöhnlich nicht Zweck der Sache sein und auch seine frisch gekämmten Haare müssen einer ständigen Kontrolle unterliegen was beim Schaukeln sehr schwierig ist.

Die Gleichgültigkeit sticht Nigel aus dem Gesicht. Sein Blick ist kalt. Seine Prioritäten und selbst erschaffenen Normen scheinen wie mit dem Badewasser abgewaschen. Er schaukelt, als wäre er noch einmal im Körper des kleinen Widerlings, des Bastards, mit dem er sich 20 Jahre zuvor identifizierte.

Jakob hatte gemordet. Nicht nur einmal.

Jeder Mensch, der Kultur zu würdigen weiß, empfindet tiefe Schwere beim intensiven Betrachten eines altertümlichen Fachwerkhauses. Es erfüllt einen mit Scham. So auch Nigel.
Welche unglaublichen Szenen sich in vergangen Zeiten dort abgespielt haben müssen trotzt allem Vorstellungsvermögen.

Damals wurden Frauen noch von ihren Männern geschlagen. So etwas gibt es heute nicht mehr. Kinder waren fester Bestandteil des autoritären Sexuallebens und Niggerdiskriminierung gehörte zum guten Ton. Bauern und sowieso alle unteren Bevölkerungsschichten wurden unterdrückt und ausgebeutet. Ja und Morden war jenen die es verurteilten noch gestattet. Ach und Krieg, ja Krieg hieß damals Gerechtigkeit. So etwas findet man heute nirgendwo mehr.

Und all das erzählt uns die kalte Fassade eines altertümlichen Fachwerkhauses. Nicht zu vergleichen mit der 3-Zimmer Wohnung, in der Nigel sein Dasein bis heute fristete.

Nigel erinnert sich an eine alte Jugendliebe. Sie wohnte einst in einem solchen Gebäude. Damals hatte er sich über dessen Bedeutung keine großen Gedanken gemacht. Ihn interessierte viel mehr das hübsche junge Mädchen, das es mit ihren Eltern bewohnte. Er weiß noch ganz genau wie bestürzt die Eltern waren, bei Bettys Beerdigung und wie bestürzt erst der Vater war, als kaum eine Woche später auch die Mutter für immer das rustikale Fachwerkhaus verließ. Nigel war zu diesem Zeitpunkt einer dieser jugendlichen Rebellen, Steine schmeißend gegen die staatliche Gewalt, provozierend und aufrührerisch. Die Anzeigen flossen nur so ins verzweifelte Elternhaus, doch nie konnte man ihm eine wirklich „bedeutende“ Tat anhängen.

Jakob hatte gemordet. Nicht nur einmal.

Fachwerkhäuser findet man meist an den äußeren Rändern einer Stadt. So auch in diesem Falle. Nachdem Nigel die neu anmontierte Garage des Hauses passiert hatte, steht er einer fremden Welt gegenüber. Weite, Stille und unglaubliche Anmut. Menschenlose Anmut, als hätte nie ein Sapiens seinen Fuß darauf gesetzt.

Es gehört Mut dazu diese Schwelle zu überschreiten und erfahrungsgemäß hatte Nigel nie die Courage für einen solchen Schritt und wird sie auch jetzt nicht haben. Nigel lässt sich gerne schubsen. Und mit der Gewissheit, nach dem Betreten der Anmut nie wieder zurückkehren zu können fällt es schwer sich vom menschlichen Vorstellungsvermögen einen imaginären Schubser kreieren zu lassen. Gerade jetzt, so kurz vor dem Schritt in eine völlig andere Richtung. So kurz vor der Reise in eine Welt, die wohl so ziemlich das Gegenteil von der, sich ihm hier offenbarten, Freiheit zu versprechen vermag.

Nigel erinnert sich. Vor einiger Zeit war er ganz gut im Geschäft. Er hatte sowohl Ausstrahlung, als auch das nötige Charisma und den vorausgesetzten Charme um beruflich in einer führenden Rolle tätig sein zu können. Definitiv ist er ein smarter, taffer und vor allem cleverer Kerl, was ihn schließlich auch, auf Grund seiner unkontrollierbaren Hingabe, seiner Sucht, zu dem gebracht hat, was er letzte Nacht entgültig entschieden und heute bereit ist, anzugehen. Auch wenn er sich mit diesem Entschluss bis zum Rest seines Lebens einsperren lassen wird, war es in Nigels Augen für sich und alle unter ihm leidenden das einzig richtige. Er muss sich wieder in den Griff bekommen. Niemand hat es je von ihm verlangt, aber so ist Nigel. Damals, als er sich gut im Griff hatte, lebte er glücklich und wäre ebenso wenig wie jetzt in der Lage gewesen, die Anmut zu betreten.
Lieber hätte er sich, aus Angst vor wiederholtem Kontrollverlust eigenhändig erschossen. Es gab keinen Grund, den Lebensstil zu wechseln. Erst mit der aufgeflogenen Affäre mit einer Firmenmitarbeiterin folgte sein großer Rückschlag. Zu diesem Zeitpunkt schien zwar alles noch im Bereich des Erträglichen, doch niemand kann weit genug im Voraus denken, um alle Konsequenzen mit einzuplanen. Nigels damalige Frau erlag am 02.06.1995 in der Notaufnahme-Gera ihren körperlichen Schmerzen. Nigel war wieder dort, wo er angefangen hatte. Die zehn- oder zwölfmalige Untreue hatte die Ehe zerstört. Bei Penelope konnte er sich nicht entschuldigen. Der Alkohol machte ihn dann zu dem, was er heute ist. Nein, so will und kann er nicht weitermachen.

Jakob hatte gemordet. Nicht nur einmal.

Damals traute er sich nicht, seine Schutzburg zu sprengen. Damals glaubte er sich sicher. Jetzt fühlt er nur diese unwahrscheinlich Leere in sich. Kein Grund sollte ihn davon abhalten, die Grenze zum Unbekannten zu überschreiten. Kein mangelnder Mut sollte ihn aufhalten.

>Feigling<

Von mehreren Stimmen vergangener Zeiten
wurde ich gerufen.
Keiner mag sich anzumaßen,
mich als heilig einzustufen.
Ich lache nur dem Angesicht
der Feigheit stolz entgegen
und bringe dem Gequälten
Entscheidungen entgegen.
Ich löse aus der Klammerung
von Trägheit und Verstand.
Ich schubse in verborg’ne Wünsche.
Der Schubser werde ich genannt.

Und Nigel steht in der Anmut.

Die schwarzen Stöpsel in seinen Ohren schmerzen. Die Töne sind verstummt. Seine Augen öffnen sich. Es ist bereits einigermaßen hell. Dieser Sessel ist nicht Jakobs Sessel. Es ist auch nicht Nigels. Es ist Christophs Sessel! Christoph hasst seinen Sessel. Christoph hasst den Namen der Band in seinem Discman. Ach was, Christoph hasst seinen Discman.

08.20 Uhr. In 20 Minuten würden sie ihn abholen. Christoph hasst diesen Anzug. Ausgezogen. Diese Lederjacke, lang ist’s her. Diese Schuhe, noch viel länger. Dieses Gefühl, nie da gewesen.

Atmend, bewusst atmend, noch recht verkatert aber sich spürend betritt er das Schlafzimmer seiner Frau. Er liebt sie. Das sagt er ihr. Er küsst sie. In der Garage steht ein motorisiertes Zweirad, so lang ist’s er.

Jakob ist tot. Nigel auch. Christoph ist auf dem Weg in die Anmut und kein noch so großes Büro kann ihn davon abhalten. Kein noch so hoffnungsvoller beruflicher Neubeginn. Lass alle warten. Alle.


Und Jakob hatte gemordet. Nicht nur einmal.
Auch Nigel hatte gemordet.
Christoph hatte gemordet.

Hoffen wir, dass er nun nie wieder morden muss.


Tabasco 2002
 

Rainer

Mitglied
hallo tabasco,

alle achtung, eine achterbahnfahrt der extraklasse.
kennst du "legende" von r. m. schernikau? dürfte dir gefallen.
ein verständnisproblem habe ich bei:
" In der Garage steht ein motorisiertes Zweirad, so lang
ist’s er. "
oder fehlt nur das h bei her?

gruß

rainer
 
T

Tabasco

Gast
...

~~Tabasco blickt verlegen zu Boden~~
...ja recht haste: da fehlt indeutig ein h...

Danke für deine so gute Kritik :)
Und auch Danke für den Lesetip. "legende" haben mir schon viele empfohlen, aber bis auf eine Rezession zum Buch, kenne ich es nicht. Ich werde mal versuchen, da irgendwie ranzukommen.

Gruß,

tab
 



 
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