Wegebrecht

4,00 Stern(e) 1 Stimme

Grit1962

Mitglied
Wegebrecht

So karnevalistisch wie an einem Totensonntag. Das ist also Rosenmontag in Bochum -Gerthe, dachte ich und hing meinen Gedanken nach. Gut das ich nichts verpasse. Karneval ist eh nur was für schokobraune, federngeschmückte Brasilianerinnen, vor dem Zuckerhut. Aber hier? Nicht mal verkleidete Kinder sah ich auf der Straße. Kinder, die kostümiert von Tür zu Tür ziehen und „Ich bin ein kleiner König“ singen. Die Flüche ausstoßen, wenn die Süßigkeiten zu gering ausfallen oder die Türen nicht geöffnet werden. Dabei hatte ich extra zwei großen Tüten besorgt. Okay, dachte ich und betrachte mich auf dem Gang zur Küche im Dielenspiegel, die paar Kalorien können eh nicht mehr viel anrichten. In der Küche schnappte ich mir die Kamellen und eine kühle Flasche Bier. Eine karnevalistische Kombination!

Ich machte enorme Fortschritte. Dieses Zimmer war so ziemlich in dem schlimmsten Zustand, in dem sich ein Zimmer überhaupt befinden konnte. Auf den dicken Tapetenschichten trotzte eine noch dickere Schicht knallgelber Farbe.
Unmengen Spüle-Wasser ließen meine Hände erweichen, doch kein bisschen der Feuchtigkeit drang an die Wandverkleidung. Ich hatte es geschafft, die aufgeklebten Spiegelstücke zu lösen, die überall an den Wänden klebten. Dort wo sie gebündelt auftraten, vermutete ich den Standort für das Bett meines Vorgängers. Ich überlegte wo ich es platzieren würde, wenn ich jemals hier fertig werden sollte. Noch schaffte es dieses Zimmer nicht, mich zu inspirieren. Ich brauchte einfach professionelles Werkzeug hier. So kam ich nicht weiter. Hoffentlich kommt Andreas bald, er versprach mir seine Hilfe und heute würde ich sie nur zu gerne in Anspruch nehmen.

Christian kam am frühen Nachmittag von der Arbeit und schien guter Laune. Pfeifend stieg er aus seinem Wagen und zum erstenmal bemerkte ich einen recht femininen Hüftschwung, als er auf unseren Hauseingang zuging. Ich betrachtete meinen schwarz lackierten Fensterrahmen und mein Blick schweifte hinüber zur Zimmertür. Auch diese wunderschöne massive Facettentür war hässlich schwarz lackiert. Die Holzdielen des Fußbodens machten einen noch stabilen und intakten Eindruck, bis auf die dicke gelbe Lackschicht die den Boden zierte. Hier hatte ich jedoch schon Vorstellungen. Ich wollte ihn nicht abschleifen, ich wollte den Boden in einem satten Grün lackieren. So langsam keimte in mir der Verdacht, warum meine drei zukünftigen Mitbewohner sich für mich entschieden hatten. Ich machte einen stabilen Eindruck, im wahrsten Sinne des Wortes. Die kann anpacken, haben sie bestimmt gedacht. Man sagte es mir gleich an meinem Vorstellungsabend, wie gerne man hier doch einen männlichen Mitbewohner gehabt hätte. Ich ahnte, warum hier keiner zugegriffen hatte. Schwule Männer scheinen wählerisch zu sein und besser noch als ich, Arbeit wirklich einschätzen zu können.


Ich hörte Christian in der Küche hantieren und kurze Zeit später die Klospülung. Dann stand er in meinem Türrahmen und grinste mich breit an.
„Na, du scheinst nicht viel weiter zu sein, als heute Morgen,“ bemerkte er und sah sich um. Ich protestierte und wies auf den Haufen Spiegelscherben in der großen Plastikwäscheschüssel. „Siehst du das nicht? Was meinst du wie mühselig das war? Aber du hast Recht, gestand ich ein, ich bin wirklich nicht viel weiter gekommen.“
„Kann ich dir helfen?“, fragte er und genau darauf hatte ich gehofft. „Bitte fahre doch mit mir ins Bauhaus. Ich brauch irgendeinen Tapetenkratzer, Schmirgelpapier und vielleicht gibt es ja ein Wundermittel gegen schwarze Lackfarbe?“
Christian lächelte und nickte. „Okay, lass uns fahren, ich freu mich schon auf ein Bier. Du hattest schon eins, wie ich sehe.“ Ja, dachte ich. Eins hatte ich schon. Könnten ruhig noch zwei bis drei dazukommen heute.

Unterwegs zum Bauhaus erzählte er mir von seiner Arbeit. Er war Pfleger auf einer psychiatrischen Station eines Krankenhauses und sein Alltag schilderte sich mir aufregend und ereignisreich. Mich erwartete in drei Wochen das Dentallabor meines Schwagers und säckeweise Gips der darauf wartetet, von mir in Modelle gegossen zu werden. Das ließ nicht viel Spannendes vermuten, aber ich brauchte das Geld um zu leben. Christians Erzählungen klangen spannend. Er redete mit dem vollen Einsatz seines Körpers und einer ausdrucksvollen Mimik, die sein Gesicht ständig veränderte. Ich vermutete eh, das dieser Mann viele Gesichter hatte.
Wir erstanden die notwendigen Materialien und ich schaute entsetzt auf die Rechnung. Nun war ich also fast pleite und würde die kommenden Wochen auf dem Zahnfleisch gehen. Christian schien meine Gedanken zu erraten. „Mach dir nicht so viele Sorgen. Du bekommst dafür ein wunderschönes Zimmer. Ich werde dir helfen. Versprochen, ist versprochen! Du wirst sehen, es wird das schönste im ganzen Haus.“

Thomas und Berthold saßen in der Küche. Das Paar lebte schon drei Jahre hier zusammen und wie ich das bis zu diesem Zeitpunkt sah, auch ganz glücklich.
Beide studierten Maschinenbau. Sie kleideten sich ähnlich, verbrachten ihre Freizeit miteinander und arbeiteten ehrenamtlich bei der „Rosa Strippe“.
Obwohl sie freundlich und manchmal sogar witzig waren, bildeten sie eine Einheit, die wie eine Mauer stand. Ich merkte, das Christian ein wenig hoffte, ich würde gemeinsam mit ihm hier eine Art Gegenstück bilden. So waren die Positionen verteilt und ich war damit nicht unzufrieden. Je mehr Zeit ich mit Christian verbrachte, umso wohler fühlte ich mich mit ihm. Seine Homosexualität empfand ich als angenehm beruhigend, weil sie mich nicht in das typische Rollenverhalten fallen ließ.
Ich musste nicht kokettieren, mich nicht aufstylen, konnte ich selbst sein. Schöne Aussichten, wenn denn nun endlich der Tag meines Einzuges kommen würde!

Die Renovierung ging voran. Die Tapeten gaben ihren Kampf gegen mich auf und fielen irgendwann fast freiwillig von den Wänden. Das war natürlich keine Zauberei! Christian und ich kratzen uns die Finger wund und ich maß meine Erfolge am Grad der Schwere meines Muskelkaters. Schwarze Türrahmen und Facettentüren gehörten nun der Vergangenheit an und strahlten in glänzendem Weiß. Es fehlte nur noch die neue Raufaser und der abschließende Anstrich des Bodens. Uns erschien der Rest wie ein Kinderspiel und wir genossen die Gespräche beim Pinseln und Schaben. Abends, bevor ich in meine alte Wohnung fuhr, saßen wir am großen Küchentisch. Manchmal kamen Thomas und Berthold dazu und wir sprachen über Aids, über die „Strippe“ und den bis dahin noch existierenden § 267.
Diese Thematiken waren für mich neu. Nie vorher hatte ich etwas von Aids gehört und ahnte nicht, welches Ausmaß diese Krankheit erreichen würde.

Ich zog ein. An einem verregneten, frühen Samstagmorgen. Meine Schwester und ein ehemaliger Schulfreund luden meine Sachen aus dem geliehenen Ford Transit.
Mein Hausstand war nicht groß und so begann ich mit den Frühstücksvorbereitungen. In meiner neuen WG schien noch alles zu schlafen. Christians Tür blieb geschlossen und auch Berthold und Thomas rührten sich nicht.
Als der Kaffeegeruch die Wohnung durchzog, öffnete sich Christians Tür einen Spaltbreit. Heraus guckte das verschlafene Gesicht eines jungen Mannes, mir vollkommen unbekannt. „Hmm, das riecht gut. Gibt es Frühstück?“
Ich nickte nur und stellte fest, das mich der sprichwörtliche Stich ins Herz traf.
Die Tür öffnete sich nun ganz und er huschte an mir, nur mit einer Unterhose bekleidet, vorbei in Richtung Bad. Ein makelloser und schöner Körper.

Die kommenden Wochen verliefen ruhig. Ich arbeitete mich im Dentallabor ein und gipste was das Zeug hielt. Christian war oft unterwegs, aber er erzählte nicht viel und ich fragte nicht nach. Mein Zimmer war jedoch wirklich wunderschön geworden und ich fühlte mich wohl. Die Wohnung war insgesamt sauber und ordentlich. Es gab kein typisches WG-Gerangel um die Sauberkeit, das Bad glänzte wie mein frisch gestrichener Fußboden. Es war wieder ein Samstag, diesmal gegen Abend und ich hatte große Lust mal wieder richtig „auf Rolle“ zu gehen. Christian saß am Küchentisch, blätterte in der Zeitung und trank einen Espresso.
„ Was machst du heute? Hast du etwas vor?“, fragte er mich.
„Ich muss raus, einfach mal raus. Irgendwohin wo die Musik so laut ist, das man sich nicht unterhalten kann. Wo ein leckeres kühles Bier aus einem großen Fass fließt, am besten direkt in meinen Hals.“, antwortete ich.
Okay, mach dich fertig, ich lade dich ein, vorausgesetzt – du willst mich mitnehmen.“
Klar wollte ich. Liebend gerne.

Das was ich suchte, gab es im Bochumer Bermuda Dreieck. Die Musik laut und bassig, das Bier kühl und frisch. Nach dem zweiten Glas nebelte der Alkohol sanft. Wir standen an der Theke, schwiegen, schauten uns die Leute an, zwischendurch trafen sich unsere Blicke.
Und plötzlich schrie er fast in mein Ohr: „Weißt du eigentlich das ich der Letzte bin??“
„Der Letzte? Was?“ Ich verstand nur Bahnhof. „Der letzte Wegebrecht!“
Wegebrecht war sein Nachname. Ich war verwirrt. „Ja und?“, fragte ich nach.
„Mein Vater findet es traurig, aber ich habe mich entschieden. Ich lasse mich sterilisieren nächste Woche. Wir sterben aus.“, antwortetet er.
Ich trank mein drittes Bier und verstand das nicht. „Du bist doch eh schwul! Brauchst ein Sicherheitsnetz?“, fragte ich und verzog mich auf die Tanzfläche.

Der Typ grinste die ganze Zeit zu mir herüber. Ich tanzte und er sah gut aus. Irgendwann zog ich ihn auf die Fläche. „Wie heißt du?“ schrie ich. „Kannst Mathes zu mir sagen!“, schrie er zurück. Damit war alles klar. Es gab nichts mehr zu sagen und nach dem nächsten Song stand ich knutschend mit ihm am Rand der Tanzfläche.
Christian schaute zu uns herüber, ich sah einen abfälligen Zug um seine Mundwinkel. „Willst ein Bier, Mathes?“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging ich Richtung Theke. „Ich will ihn mitnehmen, ist das okay?“ fragte ich Christian.
„Bittest du mich etwa um Erlaubnis? Tu was du nicht lassen kannst.“, entgegnete er.

Auf der Heimfahrt herrschte Schweigen im Taxi. Christian saß vorne und Mathes und ich knutschten im Fond. Schnell hatte ich festgestellt, das Mathes zwar enorm gut küssen konnte, leider aber sonst nicht mehr zu bieten hatte. Ein wenig erinnerte er mich an „Conan - der Barbar“ was seine verbalen Fähigkeiten anging hatte er mit dem Hauptdarsteller eine Menge gemein. Zu Hause angekommen lud uns Christian noch auf einen Absacker in sein Zimmer ein. Er holte ein Flasche Cognac hervor, ich winkte ab. „Oh nein, das ist zu hart für mich. Ich hole mir lieber noch ein Bier. Noch jemand eins?“ Christian grinste. „Nö, Cognac ist vollkommen okay.“, meinte Mathes
Sollen sie doch den Schnaps trinken.

Meine Lust auf Mathes schien genauso schnell verflogen, wie sie gekommen war.
Erstaunlich wie schnell er nach dem Schnaps abbaute. Und noch verblüffender wie Christian zunehmend aufbaute. Fast so, als würde der eine die Energie des anderen aufsaugen, wie ein Schwamm. Ich trank mein Bier und lauschte der immer träger werdenden Unterhaltung, bis Mathes plötzlich den Kopf auf die Brust legte.
„Christian, sieh mal, nun ist er eingeschlafen. Klasse. Ich geh jetzt auch mal ins Bett.“, sagte ich und schälte mich aus seinem Sofa. Christian hielt mich am Arm fest. „Was machen wir denn jetzt mit deiner Eroberung?“, fragte er mich.
„Lass ihn schlafen, - bitte“, sagte ich leise.

Ich ging hinüber in mein Zimmer und zog mich langsam aus, als es klopfte. „Darf ich bei dir schlafen?“, fragte Christian. In seiner Hand hielt er unsere Haushaltskasse. „Was machst du mit der Kasse?“, fragte ich. „Na, weißt du wie der Typ drauf ist, wenn er wieder wach wird?“, antwortetet er.

Am nächsten Morgen gab es keinen Mathes mehr. Er hatte die Wohnung verlassen und ob er nach der Haushaltskasse wohl überhaupt suchte, wird immer ein Geheimnis bleiben.

Unser Geheimnis bekam einen Namen.
Paul Wegebrecht.
Er sieht seinem Vater enorm ähnlich.
 

Rainer

Mitglied
flüssig und mit freude(n) zu lsen

hallo grit1962,

der text gefällt mir schon bedeutend besser als vieles vorangegangene von dir.
diesmal sind mir keine gravierenden rechtschreibungs- und grammatikfehler aufgefallen; ein tippfehler ist mir in erinnerung:
"...Dabei hatte ich extra zwei großen Tüten besorgt..."

auch wenn man strukturell noch manches verbessern könnte; das ist eine frage der zeit und der übung.
ein paar klischees weniger (z.b. wo bekommen die häuslich perfekten homosexuellen nur immer ihre makellosen partner her?:)), und ich bin fast zufriedengestellt.
der schluß (ein bißchen zu perfekt vorbereitet) kommt mir, wie immer bei dir :), sehr schnell, da könntest du noch ein bißchen mehr daraus machen. aber vielleicht ist das ja auch dein stil, und den will ich nicht verbiegen; möglicherweise stört das andere viel weniger als mich.

auf jeden fall sehr frisch und jugendlich; ich bin gespannt auf deine weitere entwicklung.

grüße

rainer
 

Grit1962

Mitglied
Schlüsse ziehen... :)

Hallo Rainer,

lieben Dank! Ich habe mich auch bemüht und mal die Word-Korrektur zu Hilfe genommen... Allerdings stimmt, was du in Bezug auf meinen recht abrupten Schluß sagst. Mir geht es beim Schreiben so, wie beim Stricken. Voller Enthusiasmus und mit dem Muster im Kopf, kaufe ich Wolle. Ich beginne und stelle fest...ich stricke nicht so schnell wie ich gerne würde,- prompt schleicht sich eine gewisse Oberflächlichkeit ein. Um den Pulli endlich tragen zu können, nehme ich kleine Strickfehler in Kauf. So geht es mir leider auch beim Schreiben. Und weil ich mich auch hier manchmal verstricke, finde ich dann nur schwer die Stelle, an der ich die Storie aufribbeln könnte.... Hmm.....hinkt ein wenig, der Vergleich - aber trifft mein Problem genau.

Okay....in der Ruhe liegt die Kraft und ich lasse mir zukünftigt ein wenig mehr Zeit.

Danke und viel Spaß noch
Grit
 



 
Oben Unten